Hier ist er nun, der angekündigte „wie Vermi die (Rollenspiel-)Welt heute sieht“ Rundumschlag, der Thread to end all Threads, das Manifesto Verminardio (oder so).
EinleitungSo zwischen 2004 und 2006 war ich der aktivste deutsche Poster auf der Forge und einer der aktivsten Teilnehmer (nicht zu vergessen Moderator) des Theorie-Forums hier in Tanelorn (damals noch GroFaFo). Das Ganze gipfelte darin, dass ich 2006 für die Forge eine Präsenz auf der Spiel in Essen organisierte (auf Initiative einiger Leute vom Projekt Odyssee, mit denen es ein Gemeinschaftsstand war).
Ich war nie unkritisch gegenüber der Forge-Lehre und habe mich seit 2006 auch eher wieder von ihr entfernt. Zwar kann man Rollenspiel, wie ich es heute sehe, auch anhand des Big Model einordnen und katalogisieren. Doch vernünftige Schlussfolgerungen zu ziehen, dabei hilft einem das Big Model und insbesondere GNS dann nur noch sehr begrenzt. Was für mich bleibt, sind einzelne Konzepte wie Stances oder IIEE, die ich sehr schätze, und natürlich die Diskussionskultur der Forge, die bei allem manchmal vorhandenen prätentiösen Gehabe jedem anderen Forum das ich kenne überlegen ist. Aber insbesondere GNS ist für mich damit aus dem Rennen. Und gleiches gilt auch für die Spiele, die einer bestimmten Design-Philosophie anhängen, nennen wir sie mal
kohärentes Design. Dazu sogleich mehr.
Um es jedoch ganz klar zu sagen, ohne die Forge wäre ich nicht da, wo ich heute bin, und ich habe dort die Bekanntschaft einer ganzen Reihe von Leuten gemacht, deren Meinung ich nach wie vor sehr schätze. Manchmal bin ich ja paranoid und denke, gleich springt eine Meute heulender Pundit-Jünger aus dem Busch, um mich auf ihre Schultern zu heben. Untersteht euch! Der Pundit ist der letzte Idiot, der kann mich kreuzweise.
Die Sache mit der KohärenzEs gibt ja auf der Forge das GNS-Modell. Aber auch unabhängig von den einzelnen Definitionen von G, N und S gibt es die Idee der Kohärenz. Abstrakt betrachtet, bedeutet das einfach nur, dass alle Beteiligten „dasselbe Spiel spielen“, was eine ebenso richtige wie – in dieser Abstraktheit – nutzlose Feststellung ist. Was also heißt Kohärenz im einzelnen? Fredi hat dankenswerter Weise den aktuellen Stand dazu schön niedergelegt:
Kohärenz und Spaß mit verschiedenen Spielstilen.
Also, allen Beteiligten muss klar sein, worum es geht, was das Ziel ist, wer was macht und nach welchen Regeln das gemacht wird. Je klarer und transparenter das alles definiert ist, desto besser. Das hat in der Praxis des Designs (und auch des Spiels) zu einer Art „reduce to the max“-Philosophie geführt, ein Streamlining hin auf eine bestimmte Spaßquelle. Ferner hat es zu einer Formalisierung von Rollen geführt. Letztere wurde sehr stark betont, auch gerade um eine vorher vorherrschend „spielweltkausale“ bzw. „spielweltlogische“ Philosophie abzulösen. Klassische Slogans der Erneuerer: „Es geht um die Spieler, nicht um die Charaktere“, und: „Der gemeinsame Vorstellungsraum entsteht durch Verhandlung.“
Diese beiden Slogans sind zwar nicht falsch, doch die Schlussfolgerungen daraus scheinen mir aus heutiger Sicht etwas vordergründig. Doch wie alle vordergründigen und eindimensionalen Schlussfolgerungen lassen sie sich extrem gut vortragen und begründen, vor allem in aufgeheizten Internet-Diskussionen, was jedenfalls zum Teil ihren Erfolg erklärt. Der zweite Punkt ist, dass sich über derartige Spielrunden hervorragende „Actual Play“-Berichte verfassen lassen, die wirklich nach unglaublich tollem Spaß klingen. Ich habe ja auch Spaß mit solchen Spielen gehabt, das ist schon richtig. Aber für mich persönlich stellte sich nach anfänglicher Euphorie schnell Ernüchterung ein, da mir das Spiel zu eindimensional vorkam.
Und die gleiche Eindimensionalität stört mich auch, wenn ich sehe, wie einige z.B. ein Spiel wie D&D 4 bejubeln als „Brettspiel mit drangetackertem Rollenspiel“. Ein Spiel, das „genau eine Sache macht, und die richtig gut“, usw. usf. Nach meinem persönlichen Dafürhalten ist Georgios hier auf einem besseren Weg, wenn er vorschlägt, D&D 4 einfach wie ein ganz normales Rollenspiel zu spielen. (Dazu gleich noch vertieft.)
Nun will ich mich wahrhaftig nicht erdreisten, anderen Leuten abzusprechen, auf die Art und Weise Spaß zu haben, die sie für gut erachten. Wenn ich diese Spielweise als „eindimensional“ bezeichne, so möge man mir diese kleine Impertinenz nachsehen. Andere würden vermutlich meinen Musik- und Literaturgeschmack für ebenso flach halten, was mir aber scheißegal ist. In diesem Sinne will ich euch natürlich keineswegs vorschreiben, was ihr zu spielen oder gut zu finden habt.
Nur bitteschön sollte man nicht glauben, dass ein derartiges Streamlining immer und überhaupt das Allheilmittel und „the only way“ sei. Im Gegenteil, mir scheint doch, dass man, wenn man sich darauf beschränkt, das volle Potential des Hobbys nie ausschöpfen wird.
Da ist mehr drinKohärenz als Konzept ist ambivalent und muss nicht zwingend im Sinne von „reduce to the max“ interpretiert werden. Wenn jedoch nicht mehr so klar, nicht eindeutig ist, was Spielziele und Rollen sind, wenn Regeln nicht mehr gestreamlined sind, vieles nebulös bleibt, dann fällt es schwer, zu sagen, was kohärent ist und was nicht. Und genau deswegen ist es dann so einfach,
für gestreamlinte Regeln und formalistische Rollenverteilung zu plädieren: Weil man diese Konzepte leicht erklären kann, und dann die Verfechter anderer Konzepte in Erklärungsnotstand bringt.
Doch es ist komplizierter als das. Spielspaß kann vielschichtiger sein, sich aus mehr Elementen zusammensetzen. Dogmatische Betrachtung verbietet sich. Eine immer wiederkehrende Diskussion auf der Forge läuft wie folgt ab: Ein Neuling kommt daher und liest über GNS. Er behauptet dann, er spiele eine Mischung aus allen drei Sachen. Ihm wird dann mitgeteilt, da liege er falsch. Aber, sagt er, er sehe in seinen Spielrunden Elemente aller drei Großen Buchstaben. Daraufhin erfährt er, nur eine davon sei aber die vorherrschende Creative Agenda, und die übrigen Elemente seien lediglich „unterstützend“.
Das ist zwar so nachvollziehbar, jedoch ist zu berücksichtigen, dass das Spiel dieser Runde ggf. genau so, wie sie ist, Spaß macht. D.h. die sogenannten „unterstützenden“ Elemente sind ebenso relevant für den Spielspaß wie jene, die zur vermeintlichen „eigentlichen“ Agenda gehören. Sie sind eben nicht überflüssige Auswüchse, die am besten entfernt gehören. Das ist das Problem mit Streamlining und „reduce to the max“. Am Ende hat man dann mit dem radikalen Kahlschlag den vermeintlichen Kern freigelegt, aber hat dabei leider all das geopfert, was das Spiel ursprünglich mal spielenswert machte.
Zum Beispiel „Spielweltlogik“ oder „Spielweltkausalität“. Nach meinem persönlichen Dafürhalten wird diese schlichtweg benötigt, nur diese validiert die Spielwelt und das gesamte Spielgeschehen als etwas von Substanz, eben mehr als eine bunt bemalte Kulisse, sondern eine echte Welt, die von echten Personen bevölkert wird. Das gilt
gerade bei story-orientiertem Spiel, meinetwegen Vanilla Narrativism.
Oder so was wie Charakterspiel und Persönlichkeitsentwicklung beim klassischen Dungeoncrawl oder vergleichbaren Missionen (nicht, dass ich solche so oft spielen würde). Die Frage wurde ja mal gestellt, warum dann nicht gleich Computer spielen? Nun, eben darum! Interaktion, ganz menschliche. Authentizität. Das fügt Komplexität hinzu, das erhöht doch den Genuss, ja, ich bin versucht zu sagen, den
Wert des Spielerlebnisses!
„Hey, wie schaffen wir es, dass D&D mehr Spaß macht als Computerspiele?“ – „Indem wir es möglichst genau wie ein Computerspiel machen, nur ohne Computer!“ – „Coool.“ Nun, ich kann verstehen, dass manch einer diesen Enthusiasmus nicht teilt. Bitte jedoch dies nicht zum Anlass nehmen, diesen Thread zu einer weiteren D&D 4-Bashing-Orgie verkommen zu lassen, danke.
Oder der höchst klassische ausgespielte Kneipenbesuch nebst Kneipenschlägerei (oder Badehausbesuch, oder Rahjatempelbesuch) – sind die wirklich alle belanglos und langweilig und überflüssig gewesen? Wären eure Charaktere die gleichen gewesen, die Beziehungen zu anderen Charakteren ebenso bedeutsam, wenn ihr nicht selbst erlebt hättet, wie sie geknüpft wurden (wenn sie da geknüpft wurden)?
Nun mag der ein oder andere von euch sagen: „Na gut, das ist halt Sim.“ Ich weiß nicht. Zu anderen Zeitpunkten habe ich schon gehört: „Bullshit, das ist doch Nar.“ Keiner kann mir eigentlich so genau sagen, ob mein bevorzugter Spielstil nun Vanilla Nar ist, oder doch High Concept Sim, oder vielleicht doch ein Hybrid. Ich selbst ändere meine Meinung täglich. Aber ich brauche das auch gar nicht zu wissen, da ich ja schon weiß, wie ich gerne spiele, und damit hat sich dann GNS für mich erübrigt.
Die Sache mit dem Reward SystemNur am Rande sei erwähnt, dass ich auch von der teilweise im Forge-Umfeld proklamierten Hörigkeit gegenüber dem sogenannten „Reward System“ überhaupt nichts halte. Zwar ist nichts Grundsätzliches gegen Belohnungssysteme in Rollenspielen einzuwenden, doch wenn diese allzu deutlich dem Spieler sagen, was er zu tun hat, dann wird doch der Beitrag des Spielers selbst entwertet: Dann hat er das eben nur gemacht, um die Punkte zu kriegen, das wird doch von ihm erwartet. Und was er dann genau gemacht hat, das ist eigentlich austauschbar.
Das gleiche gilt auch auf Resolutionsseite für Regelmechanismen, die Spieler zu einem ganz bestimmten Verhalten bewegen wollen. BARBAREN! ist ja schon ein relativ forgiges Spiel, das ich heute auch so nicht mehr schreiben würde, aber ich wurde trotzdem gefragt, warum es eigentlich so was wie Waffenschaden gäbe. Ob es nicht viel männlicher wäre, wenn ein Barbar den Bären mit bloßen Händen erwürgt. Ja klar, habe ich gesagt, das wäre viel männlicher,
weil es schwerer ist ohne Waffe. Genau dadurch wird doch die Leistung des Spielers validiert.
Das hat auch nichts mit Gamism zu tun. Es geht nicht um gewinnen und verlieren oder so was. Es geht einfach darum: Du willst etwas, dann verdiene es dir. Und wenn du es dir verdient hast, dann hat es ein anderes Gewicht, als wenn du es einfach so hinterher geschmissen bekommst. Und wenn du dann darauf verzichtest, weil dir was anderes wichtiger ist, oho, tja, das ist großes Tennis! Das ist dann nämlich der eigentliche Reward. Und wieder: Das Spielgeschehen, der eigentliche Inhalt des Spiels, wird validiert.
Und die verschiedenen Spaßquellen, kommen die sich nicht ins Gehege?Tja, manchmal ist des einen Spaß des anderen rotes Tuch. Aber wie geht man dem am besten aus dem Weg? Selbst das Big Model anerkennt, dass im Spiel nicht alles, was passiert, direkt mit der Creative Agenda zusammenhängt oder auf diese hindeutet. Instance of Play und so. D.h. wenn du eine Gruppe siehst, die einen Kampf spielt, wo die Spieler taktieren, Regeln anwenden, würfeln, mitfiebern – dann sagt dir das genau
gar nichts über die Creative Agenda der Gruppe. So weit, so schlecht.
Der wesentlichere Punkt, der leider zu oft übersehen wird, ist aber: Diese Gruppe hat,
unabhängig von ihrer Creative Agenda, ganz offensichtlich Spaß an dem, was sie gerade da macht. Und ihr Spiel wäre ärmer, wenn man es so streamlinen würde, dass das wegfällt. Ebenso wäre es ärmer, wenn man es so streamlinen würde, dass nur noch dieser Kampf übrig bleibt. Verschiedene Spaßquellen zuzulassen, ist nicht optional. Erst in der Summe machen sie Rollenspiel zu dem wunderbaren Zeitvertreib, der es ist.
Dann bleibt also nur noch die Frage, wie man Konflikte zwischen Spaßquellen vermeidet. Soweit ich das heute sehe, kann ein System das nicht. Das können nur die Spieler selber. Die Systemgläubigkeit mancher Forgianer geht da viel zu weit. Der Grund, warum es bei den Forge-Spielen oft überdurchschnittlich funktioniert, ist erstens, dass Leute, die Forge-Spiele kaufen, ohnehin bewusster reflektieren und offener kommunizieren als Otto Normalrollenspieler. Und zweitens, dass man sich eben sehr stark auf einzelne, vom System vorgegebene Spaßquellen konzentriert. Wobei wie gesagt der Nachteil ist, dass man ggf. auch viel gesundes Fleisch mit wegschneidet.
Aber reflektieren und kommunizieren, das kann man auch ohne gestreamlintes Reward System, ohne Amputation weit im Gesunden. Und wer weiß, vielleicht hat man am Ende mehr davon. Ebenso, wenn man nicht alles vorher genau festlegt und definiert, sich auch mal tragen lässt, dem Spiel erlaubt, sich selbst zu entwickeln, auch unerwartete Blüten zu treiben. Das, meine Freunde, ist die Bricolage-Idee. Ben Lehman hat mal gesagt, Polaris sei als Design ganz wesentlich von Chris Lehrich’s Artikel
Ritual Discourse in RPGs inspiriert, jetzt wisst ihr auch, warum Polaris
anders ist.
Des Pudels Kern: Um alle verfügbaren Spaßquellen auszuschöpfen, um ein nachhaltiges, mehrdimensionales und noch dazu den Bedürfnissen der Gruppe angepasstes Spielerlebnis zu erzielen,
muss jede Gruppe ihr eigenes Spiel spielen – und nicht das Spiel des Autors.
Muss jede Gruppe ihren eigenen Weg finden, und etwaige Widersprüche von Spaßquellen selbst auflösen.
Muss sich daher ein gegebenes Rollenspiel auf verschiedene Weisen und mit verschiedenen Schwerpunkten spielen lassen. Und wenn die Gruppe dann ihren Weg gefunden hat, es zu spielen, dann hat sie eben ein
komplettes Spielerlebnis, und kein beschnittenes.
Also alles zurück auf Null?Also, sagt Fredi, willst du etwa, dass wir wieder die alten Schinken von Anfang der 90er rausholen und uns mit denen rumärgern? Fünf Minuten Spaß alle zwei Stunden? Nein, will ich nicht. Ich spiele gerade wieder Vampire: the Masquerade, und es gibt immer noch viel, das ich daran ändern würde. Reflektieren schadet nie, den Sinn von Regeln hinterfragen, und auch den Schwerpunkt eines Systems; das, was das System eigentlich erreichen will. Auch neue Wege erforschen, wie ein Regelwerk, ein Text, ein
Setting der Gruppe dabei helfen kann, den oben beschriebenen Prozess zu durchlaufen und ihren eigenen Weg zu finden. Es soll ja schon einen Unterschied machen, wenn man ein anderes Spiel spielt, die sollen ja nicht austauschbar sein. Da gibt es noch viel zu lernen, noch viel zu entdecken.
Doch man sollte sich nicht blenden lassen. Man sollte die Dinge nicht einfacher machen, als sie sind. Man sollte nicht glauben, nur weil man den Sinn von etwas nicht auf Anhieb erkennt, hätte es keinen. Auf keinen Fall sollte man dem Trugschluss aufsitzen, dass jeder Widerspruch ein Problem sein muss. Vielleicht kann es sogar eine Kunst sein, die
richtigen Widersprüche zu wählen, in deren Spannungsfeld sich Kreativität entfaltet. Und auf
gar keinen Fall sollte man glauben, ein Spielentwickler könnte den Spielern das Denken abnehmen, und mit dem richtigen Regelwerk könnte jeder gut spielen.
Ich finde schon, dass man von der Forge vieles lernen kann. Jeder sollte mal das ein oder andere Forge-Spiel spielen, einfach weil es dazu führt, die eigene Spielweise zu überprüfen und kritisch zu hinterfragen. Eine Motorwäsche, sozusagen. Und wenn man selber Rollenspiele entwickeln möchte, schadet es sicher nicht, mit einem kleinen Forge-Spielchen anzufangen. Erstens geht das viel schneller, als ein richtiges Rollenspiel
zu schreiben. Und zweitens lernt man so sehr genau, zu analysieren, was eine gegebene Regelmechanik im Spiel eigentlich genau bewirkt.
Zum AbschlussAh, jetzt ist es raus, was ich schon länger denke. Und jetzt, da ich es geschrieben habe, habe ich eigentlich schon gar keine Lust mehr, es den Wölfen (beider Seiten) zum Fraß vorzuwerfen. Aber was soll man machen, erst groß ankündigen und dann kneifen geht ja auch nicht. Seid bitte lieb, ja?
Euer Vermi