@ Zornhau:
Das könnte daran liegen, das wir als SLs unterschiedliche Schwerpunkte in unseren Kampagnen setzen. Ich habe einen groben Plot im Kopf und improvisiere den Rest, indem ich die Hintergründe meiner Spieler mit dem von mir gewünschten Plot und den Interessen der Spieler verknüpfe. Das Hauptaugenmerk bei mir liegt also auf der Story. Da meine Spieler machen können was sie wollen, tragen sie die Kampagne.
Hier liegt nicht etwa ein Unterschied in den Schwerpunkten in den Kampagnen vor, sondern ein ganz GRUNDSÄTZLICH ANDERER Kampagnen-BEGRIFF.
Ich bin mit Kampagnen rollenspielerisch "aufgewachsen". - Eine Kampagne ist NICHT eine durch dieselben SCs weitergetragene Folge von Szenarien (egal ob mit starkem, schwachem, oder ohne Plot gespielt), sondern eine Kampagne ist das, was der SPIELLEITER den Spielern an Spielwelt spielt (die durchaus in mehreren Gruppen in DERSELBEN! Kampagne spielen können).
Die Kampagne ist der "Charakter" des Spielleiters. Sie ist die PERSÖNLICHE Kampagne genau EINES Spielleiters.
Das trifft auf Eigenbau-Kampagnen (d.h. eigene Welten oder selbst adaptierte Welten) zu, wie auch auf die Auslegung, die ANREICHERUNG und SCHWERPUNKTSETZUNG hinsichtlich des gelieferten Materials bei Kauf-Spielwelten wie Glorantha, Forgotten Realms, Weird West, usw.
MEIN Weird West ist definitiv ANDERS als der Weird West von einem anderen Spielleiter.
Wer nicht mit diesem Kampagnenbegriff vertraut ist, kann vielleicht mit folgendem Vergleich ein wenig Zugang dazu bekommen: Wenn man einen VORGENERIERTEN Charakter, z.B. eine "Beilage" zu einem Con-Abenteuer, einem Spieler gibt, dann nimmt dieser das, was er an Charakterbeschreibung erhalten hat, und macht daraus im aktiven Spiel SEINEN EIGENEN CHARAKTER. Die im Spiel erspielten Fakten (erhaltene Narben, erworbene Cyberware, geknüpfte Beziehungen, usw.) fügen sich zu der PERSÖNLICHEN Auslegung des Charakters durch den Spieler hinzu. Der Charakter wird fortgeschrieben, seine Errungenschaften, seine Niederlagen, usw. - das alles wird auf einem Zeitstrahl weitergeführt.
Wenn man ein VORGENERIERTES Kampagnen-Setting wie Weird West, eine Spielwelt, die dazu gedacht ist, daß man SEINE EIGENE Kampagne daraus macht, bekommt (kauft), dann nimmt man das, was man an Beschreibungen dazu aufgenommen hat, und man macht daraus im aktiven Spiel SEINE EIGENE KAMPAGNE. Diese Kampagne ist der "Charakter" des Spielleiters. Diesen Charakter spielt der Spielleiter nach den Regeln und seiner persönlichen Schwerpunktsetzung (nicht Plot oder Nicht-Plot, sondern Schwerpunkte in der Kampagne, also Konzentration auf die Great Maze Region, Betonung des Konflikts der Railcompanies mit der Church of Lost Angels (gegenüber anderen in der Region beschriebenen Konflikten), Herausstellung der Allgegenwart von Mad Science im Maze, usw.). Seine Entscheidungen die in der Kampagne vorhandenen NSCs einzusetzen - unter dem "Risiko", daß sie von den SCs permanent "herausgeschrieben" werden, und die Entscheidungen der Spieler, wie sie mit der dargebotenen Spielwelt umgehen wollen, schaffen FAKTEN, die diese, seine Kampagne fortschreiben. Alles wird auf dem Zeitstrahl der Kampagne weitergeführt.
Die Kampagne liegt ganz grundsätzlich beim Spielleiter. Sie stellt KEINE Szenarien-Folge dar, sondern die Szenarien sind nur die Gelegenheiten, bei denen Fakten durch aktives Spielen in der Kampagne geschaffen werden.
Dabei ist es so, daß man mit unterschiedlichen Gruppen in DERSELBEN Kampagne spielt. - Die Spielwelt wird NICHT jedesmal, wenn man eine neue Posse in den Weird West bei DEMSELBEN Spielleiter schickt, "rebootet". Im GEGENTEIL! Die von anderen Gruppen, mit anderen Charakteren, zu anderen Zeiten erspielten FAKTEN in der Kampagne sind für die aktuelle Gruppe ebenfalls FAKTEN (historische Fakten, falls die anderen Gruppen auf dem Zeitstrahl der Kampagne früher agiert haben).
Ich spiele genau EINE Weird West Kampagne in Deadlands Classic. Die bespiele ich seit Jahren. In dieser spielen und spielten mehrere unterschiedliche Gruppen. In manchen sind die Spieler der einen Gruppe mit anderen Charakteren nach Jahren wieder eingestiegen, und freuten sich darüber, daß die von ihrer alten Gruppe erspielten Fakten tatsächlich FAKTEN in meiner Kampagne sind. Ihre damaligen Errungenschaften werden nicht entwertet und durch einen "Reboot" bedeutungslos, sondern sie haben MEINE Kampagne nachhaltig beeinflußt. Es gibt auch Spieler, deren Charakter in mehreren Gruppen weitergespielt wurde. Dieser Charakter zog somit nicht nur seine persönlichen Charakter-FAKTEN mit in die andere Gruppe, sondern er befindet sich in DERSELBEN Spielwelt, in MEINER Kampagne.
Vielleicht konnte ich mit dieser Darstellung klar genug darlegen, warum ich hier einen grundsätzlich anderen Kampagnen-Begriff als Hauptdifferenz sehe. - Die eigentliche Szenarien-Folge ist da eher sekundär und ich habe in derselben Kampagne sowohl plotgetriebene wie auch "Sandbox"-Szenarien-Folgen mit derselben bzw. anderen Gruppen durchgeführt. Der Kampagne ist es "egal", auf welche Art die Fakten zur Fortschreibung erspielt wurden.
Der Kampagne ist es somit egal, ob eine Kauf-"Kampagne" (= Szenarien-Folge) so geleitet wird, daß auch ja alle "Eisenbahnstationen" des Railroad-Express abgefahren wurden, oder ob der Spielleiter den einzelnen Charakteren mit den in ihnen angelegten Ansatzpunkten eine Folge von Szenarien maßgeschneidert selbst erstellt, oder ob der Spielleiter seine Spielwelt "plotfrei" als "Sandkasten" zum freien Agieren spielt.
Die Spieler können dabei also in der Kampagne (dem "Charakter" des Spielleiters) in einen Plot-Zug einsteigen und nur Verzierungen zu den festgelegten Stationen beitragen, oder sie können die echten MACHER sein, und mit jeder ihrer Entscheidungen neue, harte, weitreichende Fakten in die Kampagne schreiben. - Ob "ergebnisvorbestimmt" oder ergebnisoffen gespielt wird, ist nur eine Frage der Einflußbreite, die man den Spielern einräumen will.
Das ist eine Frage der persönlichen Vorlieben und anderer Randbedingungen (es gibt ja schließlich auch GUTE Gründe eine mega-railroady Folge von Abenteuern durchzuspielen - z.B. weil man so zumindest DABEI war, als metaplot-wichtige Ereignisse stattfanden (G7), statt nur darüber in einem schlechten Roman zu lesen (Engel)).
Bei einer klassischen Kampagne, d.h. die Kampagne als "Charakter" des Spielleiters, gibt es für die Spieler erst einmal keine "Geschichte" zum "Tragen", sondern ob und was die Spieler mit der Kampagne des Spielleiters machen können, hängt sehr davon ab, was konkret an Abenteuern gespielt wird und WIE diese gespielt werden.
Dabei ist das, was im Eingangsbeitrag aufgezeigt wurde, nur EINER von vielen möglichen Wegen. Auch wenn ein Spielleiter eine Aventurien-Kampagne (SEINE Aventurien-Kampagne!) leitet, und er darin die G7-Szenarien nach dem "Enjoy the ride"-Prinzip für seine auch nur an solch einer "Ich war dabei, als der Metaplot passierte"-Spielweise interessierten Spieler anbietet, so ist es doch zum einen SEINE Aventurien-Kampagne, SEINE G7-Szenarien-Auslegung, und die Charkatere seiner SPIELER.
Es ist nicht immer das Maß aller Dinge, ob man zu einem anderen ENDZUSTAND in einer Folge von Szenarien kommt, sondern der Weg dahin ist es, was die Unterhaltung bietet. Daher spielten und spielen so viele unterschiedliche Gruppen gerade auch die bekanntermaßen "ergebnisbeschränkten" Abenteuer. Man bekommt DENSELBEN TEXT der einzelnen Abenteuer, aber mit der Spielwelt als Charakter des Spielleiters hat man schon eine persönliche Adaption vorliegen, mit den einzelnen SCs weitere persönliche Blickwinkel, und mit dem, wie die Gruppe als Ganzes (Spielleiter und Spieler) mit dem gegebenen Material umgehen, ist der Weg zu den vorgegebenen Endzuständen ANDERS, und zwar auf unterhaltsame UND individuelle Weise anders. Dabei kann man wirklich nicht behaupten, daß hier die Charaktere die "Kampagne" (= Szenarien-Folge) "tragen" würden. Sie sind aber die Avatare der Spieler in der Welt des Spielleiters, mittels derer sie mittendrin (Meta-)Plots erleben können, die sie sonst nur lesen müßten.
Der eine oder der andere Ansatz seine Kampagne mittels Szenarien zum Leben zu erwecken, schließt sich ja nicht gegenseitig aus - wenn man die Fortschreibung der Kampagne betrachtet.
Ich habe gerade in meiner aktuellen Deadlands Classic Runde (wie gesagt: DIESELBE Kampagne seit Jahren, nur eine anders zusammengesetzte Spielergruppe, teilweise andere Charaktere, teilweise andere Spieler) den Schwerpunkt auf die Great Maze Region gelegt. Dort wird mit schwachem Plot (letztlich nur: reist, von wo auch immer ihr gerade seid nach Lost Angels) startend gerade eher der Charaktereinfluß auf die Kampagne stärker, je mehr bleibende Berührungspunkte die Spieler mit meiner Kampagne haben. Das führt zu Szenarien, die rein charakteriniiert und charakterbestimmt sind. Und da ich meine Kampagne aber parallel dazu als stimmigen "Sandkasten", der auch dann funktioniert, wenn die Spieler/Charakter nicht darin agieren würden, anlege, werden die Zufallstabellen für die Great Maze Region STÄNDIG eingesetzt und führen zu neuen Fakten, Komplikationen, "Umwegen", usw. Diese Sandbox-Phase ist von mir auch bewußt so gewollt, um die Charaktere an Kompetenz "aufzupäppeln", so daß sie für einen Satz an "gesetzten" Szenarien, eingebettet in die weitere Anwendung der Zufallstabellen, "fit" genug sind. Und diese gesetzten Szenarien sollen den SCs einen Vorgeschmack auf das geben, was ihren Charakteren danach bevorsteht: eine Metaplot-Abenteuer-Folge, die z.T. eben NICHT ergebnisoffen sein wird. Es gibt hier die Chance an welterschütternden Ereignissen auf dem aktuell noch zukünftigen Zeitstrahl meiner Kampagne aktiv teilzuhaben, wenn auch bestimmte Ergebnisse FESTSTEHEN (Metaplot halt). - Ich mische hier Kauf-Szenarien, eigen erstellte von externer Motivation, Zufallstabellenergebnisse und Charaktergetriebenes. Und das funktioniert!
Ich sehe überhaupt keinen Grund in meinen Kampagnen, was die Szenarien anbetrifft, in einer Art "Trennkost" zu verfallen. Ich verwende ALLES, was mir und meinen Spielern Spaß macht. Und auch ABWECHSLUNG in DERSELBEN Kampagne macht Spaß.