Ich setze diesen System-Thread mal fort, weil es sich gerade so ergibt.
Nachdem ich am vergangenen Freitagabend wieder eine Runde H&S spielen konnte und sogar wieder zwei ganz neue Leute hinzugekommen sind, bietet es sich hervorragend an, meine neuesten Eindrücke zu posten.
Achtung, das hier soll natürlich kein reines Selbstgespräch werden. Wenn irgendjemand ähnliche oder andere Erfahrungen - mit H&S oder mit Superhelden-Systemen im Allgemeinen - gemacht hat, möchte ich sie wirklich gerne hören. Also, bitte schreiben.
Am letzten Freitag ist im Vorfeld unserer kurzen Spielrunde, für die alle mit neuen Superhelden angefangen haben, etwas aufgetreten, was man fast schon als Standardproblem oder als Standardsituation im Zusammenhang mit H&S bezeichnen kann. Ein bestimmter Spieler, der ohnehin schon aus anderen Runden den Ruf hatte, besonders "overpowerte" Alleskönner-Über-Charaktere mit hohen Werten in allen möglichen Fähigkeiten spielen zu wollen, hat sich freiwillig für H&S gemeldet und sich ohne meine Hilfe einen neuen Charakter ausgedacht. Das ging aber so, dass ich vorher im Nebenzimmer noch für 10 Minuten etwas mit einem anderen Spieler diskutieren musste, und der "Powergamer" sich an unserem Tisch in dem anderen Raum eine Art Wunschliste von Fähigkeiten aufschrieb, die ich dann anschließend korrigieren sollte. Das kommt in einem System mit freier und "nach oben offener" Charaktergenerierung wahrscheinlich noch vergleichsweise häufig vor. Selbst wenn der betreffende Spieler ein Exemplar des H&S-Buchs gehabt hätte (in diesem Fall konnte der Spieler nicht genug Englisch, um es zu lesen), hätte er keine "Charakterklassen", "Berufe" oder "Archetypen" nachschlagen können. Daher eben die Idee mit dem Wunschzettel.
Dieser Spieler, den ich hier jetzt einfach mal den "Powergamer" nennen möchte, neigt grundsätzlich nicht dazu, sich Geschichten oder insbesondere die Vorgeschichte seiner Helden aufzuschreiben. Bloße Attribute und Fähigkeiten mit Zahlen dahinter sind ihm lieber. Wenn wir zusammen H&S spielen, geht es zum Glück immer, dass ich als Editor oder andere Spieler am Tisch genug Ideen einwerfen, so dass alle Charaktere bald eine passende Hintergrundgeschichte haben.
Nach dem Gespräch mit dem anderen Typen im Nebenraum kam ich also schließlich zu dem Powergamer an den Tisch und bekam von ihm das Blatt mit seiner Wunschliste herübergereicht. Dort fand ich dann etwas vor, das fast schon zu abstrus klingt, als dass es noch glaubhaft sein könnte. Es war erwartungsgemäß völlig überpowert und "unbalancing" (wie sagt man das überhaupt ordentlich auf Deutsch? ... "aus der Balance bringend"?), selbst für ein Superheldenspiel. Kein normaler Spielleiter hätte das je zugelassen, ohne drastische Einschränkungen und/oder Kürzungen. Es klingt wahrscheinlich wie ein schlechter Powergamer-Witz. Ich schwöre aber, dass er genau das Folgende - so gut wie wortwörtlich - auf sein Blatt geschrieben hatte:
[zunächst mal kein Name, kein Geschlecht, kein Beruf, kein Alter ... aha... DRIVE: ebenfalls Fehlanzeige]
- Teleportation
- Telekinese
- Telepathie (unbegrenzt)
- Titanhaut
- Riesenwuchs
- Unglaubliche Kraft
- Mega-Schlag
- Kann in die Zukunft sehen (wenige Minuten)
- Verbesserte Sinne
- Eiserner Wille (quasi nicht zu brechen)
- Gestaltwandler, der jede humanoide Gestalt annehmen kann und immer perfekt getarnt istZusätzlich hatte der Spieler die Ideen, dass der Charakter ein Alien von einer fortschrittlichen Rasse von Superwissenschaftlern sein sollte, auf der Erde einen Doktortitel in Chemie erworben hatte, als Erdenmensch getarnt seit zwanzig Jahren in Amerika lebte, und in seiner Geheimidentität der Besitzer einer Fabrik für A-, B- und C-Waffen (!) war.
Wie gesagt, ich weiß, dass das völlig meschugge klingt, aber genauso meschugge ist der Spieler.
Er machte allerdings das Zugeständnis, dass ich als Editor alles von der Liste herunternehmen könnte, was ich persönlich nicht mag oder nicht zulasse. So weit, so gut. Ich nahm also meinen Stift und machte mich ans Werk.
Zunächst erklärte ich dem Spieler, dass sein Superheld in dieser Form sicherlich Superkräfte aus allen möglichen Bereichen besitzen würde und damit quasi alles Mögliche machen könnte, so dass es für die anderen Helden in der Runde gar keine Berechtigung mehr geben würde. Ein so starker "Held", wenn es ihn überhaupt geben würde, könnte fast alles
allein machen. Allein das war natürlich schon ausschlaggebend genug für mich, um diese Liste des Spielers gehörig zu "zensieren". Dazu sind Editors schließlich da. Schwierig ist es aber gerade in H&S, wo es keine Punktelimits gibt und das Buch auch keine harten Grenzen für die Art und Zusammenstellung der Powers setzt. Es ist eben vom Regelwerk her allein alles offen und ich wollte auch nicht einfach sagen, "Maximal 5 Superpowers pro Charakter." Nach behutsamen Erklärungen, weshalb dieses und jenes nicht ging, strichen wir die Liste auf diejenigen Sachen zusammen, die dem Spieler offensichtlich am wichtigsten waren.
Ich meinte, offenbar mochte der Powergamer besonders gern "geistige" Kräfte wie Telepathie und die verschiedenen Versionen davon. Schon sein vorheriger Charakter für H&S hatte Telepathie und Telekinese als Hauptfähigkeiten. Ich nahm dann auch den Charakter Storm Knight aus dem Regelbuch als Beispiel und zeigte dem Powergamer, dass dieser Beispielcharakter im Grunde ja auch bloß eine Superkraft hatte, nämlich "Wetterkontrolle". Diese Kraft "Wetterkontrolle" ist dann noch in vier Bereiche unterteilt:
Thema:
Wetterkontrolle- Wetterkontrolle - Angriffe (z.B. Blitze schleudern, Hagelkörner auf den Gegner regnen lassen, Gegner rutscht auf Glatteis aus)
- Wetterkontrolle - Verteidigung (z.B. Windböen, Nebelwand, Schild aus Eis)
- Wetterkontrolle - Fortbewegung (z.B. Auf dem Wind dahingleiten, also "Fliegen")
- Wetterkontrolle - Veränderung (z.B. etwas mit einer Windböe umstoßen)
Das nahm ich schließlich auch als Vorgabe und schrieb für den Powergamer auf:
Thema:
Geistige Kräfte- Telepathische Angriffe (z.B. Schockwirkung, telepathischer "Schrei" bzw. kopfschmerzenverursachender telepathischer "Schlag")
- Telepathische Verteidigungen (z.B. telepathisches Abschirmen, telepathischer Störsender, ...)
- Geistige Fortbewegung - Teleportieren auf Sichtweite (Charakter kann sich mit etwas Konzentration an Punkte auf Sichtweite versetzen, muss den Ort aber gut sehen können und es darf kein Hindernis an dieser Stelle stehen)
- Geistige Veränderungen - Telekinese (Sachen umschmeißen, Türen aufmachen, ... das Übliche)
Unabhängig von diesem Paket mit dem gemeinsamen Thema "Geisteskräfte" (Telepathie, Telekinese, ... na ja, alles was mit "Tele-" anfängt, so wie der Spieler es mir sagte) gab ich dem Charakter auch die Fähigkeit zum "Gestaltwandeln", so wie er sie haben wollte:
Gestaltwandeln - nur auf sich selbst; nur menschenähnliche Formen
Der Charakter durfte sogar ein auf der Erde lebender Außerirdischer sein und hatte tatsächlich einen Doktortitel in Chemie. Er arbeitete an einer bedeutenden Stelle in einem Unternehmen aus der freien Wirtschaft, aber nicht in einem Rüstungskonzern. Auf gar keinen Fall besaß er einen Waffenkonzern und sämtliche Wunschträume zu ABC-Waffen flogen genauso schnell zum Fenster raus wie sie gekommen waren.
Dann sollte der Powergamer noch seine Vorgeschichte etwas ausschmücken, also weshalb er überhaupt auf der Erde war, warum er auf der Erde sein Chemiestudium absolvierte und nicht auf einem anderen Planeten, und wie alt er aussah, und so weiter. Damit hatten wir schließlich einen einigermaßen "verwendbaren" Hearts & Souls-Charakter.
Dieser Charakter des Powergamers hatte selbstverständlich auch einen Drive, sonst wäre er nicht komplett gewesen. Ich denke, als Drive nahm der Spieler die gute alte "Community" ... und als Stress Trigger einigten wir uns auf "Platzangst".
Zuerst wünschte sich der Powergamer zwar sein eigenes "Kryptonit", in diesem Fall ein kristallartiges Material aus dem Weltall, das auch auf der Erde herumlag und von seinem zerstörten Heimatplaneten stammte. Diese "Element X" Idee habe ich allerdings auch vom Himmel geschossen und den Spieler gezwungen, etwas anderes auszuwählen. Nun bekommt sein Charakter leicht Angst in engen Räumen und in zusammengedrängten Menschenmengen. Das fand ich cool, denn so wird es für den Charakter schwierig, seine telekinetischen und sonstigen Kräfte in voll besetzten U-Bahn-Waggons, in Kaufhäusern, Diskotheken, bei Rockkonzerten oder in engen Fahrzeugen oder Cockpits anzuwenden. Sehr interessant.
Die von mir zensierte Liste der Powers sah folglich so aus:
-
Teleportation steht unter dem Paket "Geistige Kräfte - Fortbewegung"
-
Telekinese steht unter dem Paket "Geistige Kräfte - Veränderung"
-
Telepathie (unbegrenzt) steht unter dem Paket "Geistige Kräfte"
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Titanhaut-
Riesenwuchs-
Unglaubliche Kraft-
Mega-Schlag-
Kann in die Zukunft sehen (wenige Minuten)-
Verbesserte Sinne hat nur normale Wahrnehmung, steht unter "Brains"!
-
Eiserner Wille (quasi nicht zu brechen)-
Gestaltwandler, der jede humanoide Gestalt annehmen kann und immer perfekt getarnt ist (separate Superkraft, allerdings in der Story auch "geistig" gesteuert)
Zusätzlich zwang ich den Powergamer gleich noch dazu, mit meinen neuen "Limits" auf Spielwerte in H&S zu spielen, die ich kurz vorher für neue Superheldencharaktere festgelegt hatte. Diese Limits sind nahezu meine einzige richtige Hausregel für H&S. Sie zielen schlichtweg darauf ab, dass Spieler nicht allen Superkräften und Attributen ihrer Charaktere von Anfang an maximale Werte wie "Spectacular Cosmic" geben.
Für neue Charaktere:- Maximal 1 Attribut/Power auf "Spectacular Superhuman" [3W8]
- Maximal 3 Attribute/Powers auf "Exceptional Superhuman" [2W8]
- Maximal 3 Attribute/Powers auf "Ordinary Superhuman" [1W8]
- Alle übrigen Attribute/Powers müssen auf der Human Scale sein.
- Für jeden Charakter ist nur 1 Drive zugelassen. Es gibt keine "sekundären" Drives für neue Superhelden.
Ich habe selber erst im Nachhinein gemerkt, dass diese Limits wirklich gut passen, denn sie verhindern automatisch, dass der Charakter sowohl in den Attributen, als auch in allen seinen Powers Superhuman-Werte hat oder alles auf das gleiche Maximum setzt.
Wie gesagt schreibt ja H&S hier von sich aus keine Begrenzungen vor. Was wir gemeinsam gebraucht hätten, ist eben ein "Pitch", wie es in H&S heißt, also ein Exposé mit Vorschlägen zu einer Comicserie. Im Pitch einer Serie steht normalerweise auch so etwas wie die generelle Stärke der Superkräfte, die in der Serie vorkommen werden, und wie viele und welche Form von Superkräften die Charaktere haben (Mutanten à la X-Men, Verwandlungen durch Weltraumstrahlen à la Fantastic Four, magische Kräfte wie Dr. Strange oder Captain Marvel, eine uralte intelligente Waffe wie die "Witchblade").
Ja, das nächste Mal beginne ich auf jeden Fall mit einem Pitch. Allerdings läuft unsere kleine H&S-Runde nun ja bereits und man könnte höchstens im Nachhinein den "Pitch" dafür aufschreiben und neu dazukommende Charaktere danach erschaffen.
Ich hoffe, dass dieser lange Bericht für andere hilfreich war.