Meines Wissens nach bezeichnete der Begriff Railroading ursprünglich im Kern einen von einem Spieler als störend empfundenen Eingriff in dessen Entscheidungsfreiheit.
Rollenspiel ist ja grundsätzlich deswegen so anders als andere Gesellschaftsspiele, weil es den Spielern eben mehr Entscheidungsfreiheiten gibt. Die Spieler haben – bei einem klassischen System im Rahmen der systemintern vorgegebenen Spielmechanismen, die man spieltechnisch mit Naturgesetzen gleichsetzen kann – die Entscheidungsfreiheit über die Handlungen ihrer Charaktere. Und sie haben grundsätzlich auch die Freiheit, sich Vorgaben durch den Autor des gespielten Abenteuers oder des Spielleiters zu verweigern und in eine andere Richtung zu gehen, die ihnen besser gefällt.
Railroading (wenn man es auf Handlungen des Spielleiters anwendet) heißt nun, dass der Spielleiter die Spieler „zur Eisenbahn macht“ (das Wort existiert in der englischen Sprache nur als Substantiv, wo es „Eisenbahnwesen“ bedeutet, was aber im Zusammenhang mit Rollenspielen, wo es als aktives Verb gebraucht wird, keinen Sinn ergeben würde). Der Spielleiter ist also aktiv und er tut etwas mit den Spielern. Er schreibt ihnen exakt vor, wo es langgehen soll. Die Spieler sind passive Objekte seines Willens. So, wie ein Zug gezwungen ist, sich auf Schienen zu bewegen. Der Zug kann nichts dagegen tun. Er kann selbst keine Weichen stellen (darüber entscheidet das Bahnpersonal), er kann das Tempo nicht bestimmen (das macht der Lokführer) und er kann die Schienen nicht verlassen (höchstens durch einen Unfall). Ersetzt man nun den Zug durch eine Persönlichkeit, nämlich einen Spieler, so sieht sich dieser den durch den Spielleiter angewendeten Spielmechanismen gegenüber hilflos ausgeliefert. Er hat keine Entscheidungsfreiheit und wird zum reinen Konsumenten. Insofern unterscheidet er sich nicht von jemandem, der ein Adventure im Stil von „Monkey Island“ spielt. Er kann zwar Dinge tun und Ideen haben, Auswirkungen auf das Spiel zeigen aber nur die Aktionen, von denen der oder die Designer dachten, dass sie den passenden Lösungsweg darstellen. Es gibt keine Alternative zur vorgegebenen Route. Insofern müsste der betroffene Spieler eigentlich auch kein Rollenspiel spielen. Ich persönlich spiele unter Anderem deswegen Rollenspiele und nicht mehr Monkey Island, weil ich so oft (aus meiner Sicht) tolle Ideen hatte und mich geärgert habe, dass die Designer diese nicht zuließen.
Diejenigen Diskussionsteilnehmer, die vehement behaupten, man könne den Begriff „Railroading“ auch positiv oder wertneutral sehen, verwechseln meines Erachtens die mit dem Railroading verbundene Plotdiktatur (also einen vom Spielleiter vorgegebenen, unabänderlichen Betonplot) mit einem stark vordefinierten, aber immer noch änderbaren Plot. Ein Spielleiter, der railroadet, weigert sich – trotz der offensichtlich vorhandenen Wünsche seiner Spieler, den Plot mit zu gestalten – auch nur einen Zentimeter von seiner Geschichte abzuweichen. Es würde wenig Unterschied machen, wenn er sich stattdessen einfach nur hinsetzen und seine Geschichte vorlesen würde. In diesem Moment haben wir aber kein Rollenspiel mehr, sondern ein Zuhörspiel. Es gib nur das, was im Skript steht. „Lehnt Euch zurück und genießt meine Geschichte. Und ab und zu dürft ihr Würfel rollen, damit ihr nicht einschlaft. Es wird aber nichts daran ändern, was passiert.“
Der Spielleiter mit dem stark vordefinierten, aber immer noch flexiblen Plot hat zwar, wie der Railroader auch, eine hohe Meinung von seinen eigenen Ideen und Erzählkünsten, respektiert aber grundsätzlich, dass die Spieler, auch wenn sie überwiegend passiv sind, hin und wieder einen interessanten und neuen Aspekt in seine Geschichte einbringen können. Er ist kein Railroader, sondern quasi ein Pusher. Er schubst die Spieler in eine bestimmte Richtung und gibt ihnen immer wieder neue Schubse, um sie noch mehr in Richtung seines Plots zu bringen. Aber er fesselt sie nicht an diesen Plot, sondern lässt sie auch darum herum laufen und davon abschweifen. Er ist ein Anführer, aber kein Despot. Der Railroader ist ein Diktator.
Fazit:
Ich glaube nicht, dass irgendjemand, der Rollenspiel machen will, dabei wirklich gerailroadet werden möchte. Wer will denn ein Spiel, das eigentlich davon lebt, dass man der Geschichte seinen eigenen Stempel aufdrücken kann, als machtloser Zuschauer spielen? Diejenigen, die immer wieder behaupten, sie fänden ab und zu ein bisschen Railroading ganz toll (manchmal, aber nur manchmal...), meinen damit wohl eher, dass sie es mögen, wenn der Spielleiter sie hin und wieder auf den Kern seine coolen Geschichten aufmerksam macht, wenn sie gerade Gefahr laufen, sich in einer Sackgasse zu verrennen. Sie möchten geführt und dirigiert, aber ganz bestimmt nicht unterdrückt werden.
Edit: Ein paar Schreibfehler korrigiert.