Ich habe auch langjährige Engelerfahrung und ich finde, dass es eine große Stilfrage ist... vor allem wie
paramilitärisch man es denn haben will... "Engel" grundsätzlich unter das Stichwort "Military" zu stellen, finde ich verfehlt...
Im Grunde kann man die Gruppendynamik bei "Engel" nämlich auch mehr in Richtung "Werwolf" oder "Exalted" verstehen als in Richtung Military Corps: Dann ist eine Schar nämlich weniger eine militärische Spezialeinheit, die vom General (Ab) ihre Aufträge kriegt, die sie ausführen soll, sondern mehr eine Ansammlung von irgendwie "Auserwählten", die, ohne selbst etwas dazu zu können, in gefährliche Situationen geworfen werden und damit klarkommen müssen - hier wird die strikte militärische Rangfolge (Michaelit oben, die anderen unten) durch ein gemeinsames "irgendwie miteinander klarkommen" ersetzt. Bevor ich im Namen der angelitischen Kirche von einigen Paramilitärspielern gesteinigt werde: ich mag militärische Rangfolgen und militärische Rollenspiele nicht, aber ich liebe Engel, eben weil es diese Möglichkeit der Interpretation bietet. Jede Schar funktioniert anders und es ist über die langen Abenteuer sicherlich möglich, dass die Engel keine Kollegen werden, sondern Freunde (oder auch Rivalen...oder beides). Eine Schar ist etwas unglaublich intimes, sodass ich mir eine langsame Relativierung der Rangfolge gut vorstellen kann: am Anfang machen die Engel vielleicht noch Dienst nach Vorschrift, aber bald müssen sie notwendig beginnen auf die Gefühle ihrer Mitengel Rücksicht zu nehmen, damit die Schar funktionieren kann.
Ich vergleiche Rollenspiel gerne mit dem Aufbau von Fernsehserien: Eine Serie, in der das Ensemble keine Konflikte untereinander austrägt und in denen sich die "Rangverhältnisse" nie ändern, ist stinklangweilig. Dabei ist nicht gemeint, dass plötzlich der Ramielit der Anführer der Schar wird, sondern mehr, dass die Engel stärker beginnen, die individuellen Fähigkeiten (die vielleicht auch abseits des Ordensklischees liegen) zu realisieren.
Vergleichen wir es mit "Firefly" oder von mir aus sogar mit "Futurama": Mal/Leela ist der Captain und wird immer der Captain bleiben... das heißt aber nicht, dass er sich mit seiner Crew nicht fetzen kann und die dann ihr eigenes Ding durchzieht (und er ihnen im Nachhinein nicht böse ist; den Michaeliten, der gleich beim Prior petzen geht, wenn die Gabrielitin ihm wiedersprochen hat, halte ich bei der engen emotionalen Bindung der Engel zueinander, für die Ausnahme). Außerdem reden wir hier ja nicht von Supersoldaten, sondern von...
pubertierenden Heranwachsenden im Engelsgewand
..., die natürlich irgendwo auch "Menschen" sind und ihre (wie es salopp formuliert wurde)
Emo-Probleme haben. Außerdem sind Engel ja keine Befehlsempfänger im eigentlichen Sinne: der Prior und der Ab können ihnen Aufträge erteilen (auch eher Weisungen als richtige Befehle, wie ich finde), aber die Engel unterliegen so keiner strikten militärischen Rangfolge... sie stehen außerhalb der Hierarchie (deswegen duzen sie auch jeden, etwas, worauf in unserer Runde sehr geachtet wurde). Ein Templer hat einem Engel gar nichts zu sagen... er kann ihn höchstens um etwas bitten, was der Engel wahrscheinlich auch tun wird, weil das Dogma "Streiter des Herren" natürlich trotzdem wirkt.
Genau da kommt auch das "Große Geheimnis" zum Tragen: Man kann es komplett ignorieren und einfach eine Militäreinheit bis zur Läuterung spielen, aber dann würde mir bei Engel was fehlen. Es ist vielmehr zusätzlicher Zündstoff, der (natürlich nicht allein) zu interessanten moralischen Dilemmas führen kann. Am liebsten habe ich es, wenn man nicht plötzlich die Katze aus dem Sack lässt, sondern das Geheimnis über die Kampagne langsam einführt, ohne dass es sagt "Buh, hier bin ich!" - in der Kampagne geht es um etwas anderes, aber
the Secret spielt trotzdem eine Rolle:
das können seltsame Träume sein, die die Engel haben, oder hormonelle Probleme - Erinnerungen die plötzlich wiederkommen - Fähigkeiten, die der Engel hat, von denen er nie wusste, dass er sie hatte (meine Gabrielitin hat zum Beispiel irgendwann gemerkt, dass sie Klavier spielen kann, ohne es je gelernt zu haben) - fremde Sprachen die er auf einmal versteht - Leute, die ihn wiedererkennen und denen er versichert, dass eine Verwechslung vorliegen muss - die plötzliche Verliebtheit in einen anderen Engel oder gar einen Menschen - Engel, die selbst Bescheid wissen und ihn auf ihre Seite ziehen wollen... die Möglichkeiten für subtilere EInstreuung des Geheimnisses sind endlos...
Auch schön ist, kirchliche Mythen langsam zu entzaubern oder Widersprüche auftreten zu lassen: in unserer Runde war etwa die Hälfte der Schar bis lange in die Kampagne im festen Glauben, dass Engel unsterblich seien... und dann haben wir einen sterben sehen.
So kann das Geheimnis langsam eingeführt oder auch nur angedeutet werden, aber nie vollends von der Schar realisiert werden. Jedenfalls gibt das den Spielern was zum Grübeln und das ist für eine Runde immer gut. Engel ist, finde ich, irgendwo auch immer "Mystery"... und auch zu einem großen Teil "Soap". Die Ollis haben mal gesagt, dass die Ideen hinter Engel zum großen Teil auf japanischen Animes basieren, in denen... oh... Moment...
... das Engel zum großen Teil von japanischen Animes inspiriert ist, bei denen Heranwachsende dazu gezwungen sind in pseudomilitärischen Strukturen Probleme zu lösen, denen sie nicht gewachsen sind: "Neon Genesis Evangelion" wäre ein Beispiel... das passt auch gut zu meinen Beispielen oben... immerhin lebt Shinji mit seiner direkten Vorgesetzten in einer WG zusammen...
Auch die Charakterkonzepte müssen nicht so eng sein, wie man vielleicht denkt - wenn einer 10 Jahre am Stück seinen Rondra-Geweihten oder Zwergen-Rigger spielen kann, dann kann ich auch 10 Jahre meinen Michaeliten spielen. Auch Engel haben Hobbies, Träume, eine Vergangenheit im Himmel, Interessen und Gefühle... mit anderen Worten: Spieler hissen Flaggen und Charaktere schicken Kicker ins Renne...
Ich habe in einigen anderen Diskussionen bereits gelesen, dass es für Spielleiter oft bereits ein Ärgernis ist, wenn sich Spieler von ihrem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber der Institution Kirche nicht lösen können und so schon zu rebellieren beginnen, ohne das sich für sie ein konkreter Grund im Spiel darstellt. Wenn das schon der Fall ist, wie schwer ist es dann erst einen so großen Hintergrund aus zu blenden und die "Naiven" zu spielen?
Mach den Spielern vielmehr klar, dass die Angeliten "die Guten" sind - insgesamt hat diese Organisation im Gegensatz zur katholischen Kirche, mit der sie gerne verglichen wird, auch einiges voraus: sie kümmert sich stark um ihre Schäfchen. Die meisten Kirchentreuen sind Idealisten und leben danach. Sie bieten Menschen Schutz vor der Traumsaat, die einfach nicht aus coolen sexy Dämonen, sondern aus fünf Meter großen Blutegeln besteht. Die Bevölkerung ist mit ihrem Leben zufrieden, denn die Kirche richtet Feste aus und speist die Armen, so gut sie es kann. Gleichberechtigung wird großgeschrieben. In den Führungspositionen sitzen keine verkalkten Tattergreise sondern junge, dynamische Mitzwanziger mit einer gesunden Libido und einem Stall Kinder zuhause (allein die Erklärung, dass die Kirche nichts . Beutereiter sind nichts Schlimmes, denn sie ermöglichen von Gott gesegneten Kindern ein Leben jenseits der Angst vor dem nächsten Traumsaatangriff. Die Straßen in den Städten sind sicher. Die Menschen haben etwas, worauf sie sich stützen können. Der Pontifex ist ein dreizehnjähriger Knabe mit goldenem Haar und unglaublicher Güte. Und, wohl das wichtigste:
Leute, ihr seid,
Engel: ihr seid der lebende Beweis dafür, dass es Gott gibt und dass das angelitische System im Recht ist...
Ich würde nicht mit die "Engel ist ein düsteres Military-Setting"-Schiene fahren, denn das zerstört zwar die Zweifel, aber auch den Idealismus und die Naivität (die ich bei Engel für sehr wichtig halte) der Spieler. Lieber würde ich im Spiel die positiven Seiten der Kirche beleuchten, den strikten Militärdrill etwas lockerer sehen und vielleicht auch Teile der Ausbildung mit jedem Spieler spielen (der Nonnus oder die Nonna können als erster Kontakt der Engel auf dieser Welt schon viel zum Vertrauen der Streiter Gottes in seine Kirche beitragen.