In den letzten Wochen gab es hier eine angeregte Diskussion über DSA-Abenteuer und den zarten Trend zu "freiem Spiel" im Gegensatz zu "Railroading" in DSA-Produkten. Diese Begrifflichkeiten sind nicht immer ganz glücklich gewählt, was damit gemeint ist, ist einfach folgendes: Lange Zeit waren DSA-Abenteuer überwiegend auserzählte Geschichten mit einem dramatischen Spannungsbogen, die die Spieler nacherleben sollten. Für die Spielleitung ergab sich das Problem, wie die Spieler auf Linie zu halten sind. Unter den Stichworten "Railroading", "Illusionism", "Participationism" gab und gibt es hier und anderswo im Netz eine breite Diskussion dazu, das muss ich nicht alles wiederholen.
Dem gegenüber gibt es durch Forge und ARS-Diskussionen von zwei unterschiedlichen Seiten mittlerweile eine bessere Beschreibung davon, wie ergebnisoffenes Spiel funktioniert, das eben keine fertige Geschichte mit an den Tisch bringt. Diese Spielvariante ist überhaupt nicht neu, es gibt sie, seit es Rollenspiel gibt, und viele Menschen praktizieren sie auch, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen. Neueren Datums ist lediglich das Ausformulieren ihrer Prinzipien, zumindest in den mir bekannten Kreisen. Insbesondere im DSA-Kontext und insbesondere durch die Kaufprodukte wurde sie aber lange Zeit an den Rand gedrängt. Unter dem Stichwort "bass playing", "sandboxing", "old school", "player empowerment", "narrativism", "ARS", "thematisches Rollenspiel" kann man dazu lange Diskussionen hier, auf der Forge und im ORK finden; die sehr unterschiedlichen Ziele und Techniken (ARS und thematisches Rollenspiel sind was völlig verschiedenes, haben aber im RR-Erzählgeonkel einen gemeinsamen Feind) ergebnisoffenen Spiels werden dort erläutert. Muss hier auch nicht wiederholt werden, verwirrt nur.
Ich möchte hier zwei Dinge tun; einen Einwand zerstreuen und etwas länger eine Frage beantworten.
Der Einwand gegen ergebnisoffenes Spiel lautet schlicht "Das funktioniert doch eh nicht". Hinter diesem Einwand steht ein verzerrtes Bild ergebnisoffenen Spiels. Oft wird unterstellt, die Spielleitung würde hier nichts mehr vorbereiten, rein reaktiv auf die Spieler warten und keinerlei Fakten mehr über die Spielwelt setzen. Zum Beispiel würde die Spielleitung einfach sagen "Es ist der 30. Ingerimm, was tut ihr?" Dann würden die Spieler beschließen, den einen Ring in den Schicksalsberg zu werfen und das erzählen. Diese Position verweist darauf, dass das ja nie funktionieren könne, und wenn doch, dann nur mit einzelnen hochbegabten Gruppen, für die Mehrheit der Spieler sei so etwas unmöglich.
Hier wird übersehen, dass auch im ergebnisoffenen Spiel sehr wohl etwas vorbereitet wird und natürlich auch Input von Seiten der Spielleitung erfolgt, und natürlich auch in Form von direkten Abenteueranreizen. Allerdings bereitet die SL andere Dinge vor und sie reagiert anders auf den Input der Spieler. Sie bereitet ganz einfach die Gesetzmäßigkeiten vor, nach denen die Welt auf die Spieler reagiert. Dabei muss es sich keineswegs um eine physikalische Simulation handeln (obwohl das in Grenzen auch möglich ist und auch versucht wird). Es kann sich auch um moralische Regeln, Motivstrukturen der Gegner, Prinzipien der Spielwelt (Magie korrumpiert, Vampire sind intrigant, Elfen sind alle schwul) handeln.
In den meisten Rollenspielen wird die Vorbereitung beides umfassen: eine hinreichend genaue Modellierung der fassbaren Umstände der Welt, wobei "hinreichend genau" sich von Gruppe zu Gruppe, von Spiel zu Spiel, stark unterscheiden kann, und eher ungreifbare Dinge, wie Motive, Pläne, Vorgehensweisen, Persönlichkeiten, Einwohnerstrukturen und Beziehungen unter Personengruppen. "Ergebisoffenheit" wird hier befördert, weil zahlreiche Abenteuer in diesem Material angelegt sind, aber keine Geschichten, die nur nachzuerleben währen. Wenn man in dramatischen Begriffen bleiben möchte, setzen SL und Spieler dramatische Konflikte als Ausgangssituation.
Damit ist übrigens auch schon eine andere Technik dieser Spielart benannt, nämlich Ziele und Motivationen auf Seiten der SC, die diese auch verfolgen. Sie müssen bewusst Reibungsflächen mit der Welt schaffen, aber auch dies wieder, ohne den Ausgang dieser Geschichtenkeime zu bestimmen.
Das ist das eine.
Das andere sind eine Reihe von Regeln, mit deren Hilfe das Ergebnis der Interaktion von SC-Motivationen und Weltmaterial bestimmt wird. Hier zeigt sich die berühmte Ergebnisoffenheit am deutlichsten. Die Spielleitung überlegt nicht, wie die Ergebnisse sich am besten und schönsten in eine schon mehr oder weniger vorbereitete Geschichte einfügen, und auch nicht, welche Entscheidung zu welcher Geschichte führen würde und welche davon wohl besser wäre. Sie überlässt das Ergebnis ganz den im Vorhinein modellierten Weltgesetzen, ohne dabei an eine Geschichte zu denken. Nochmal: Diese Gesetze müssen keine reinen Naturgesetze sein, es sind damit auch Motive, Persönlichkeiten, bereits erspielte Geschehnisse usw. gemeint. Alles, woraus eben die Welt für alle am Spieltisch besteht.
Und nun, nach langem Anlauf, eben die Frage. Ja, warum sollte man denn das wollen? Erstens können die Geschichten, die so entstehen, ja wohl kaum mit der sorgfältigen Planung eines einzigen Autoren mithalten, das ist doch alles viel zu chaotisch. Zweitens merken die Spieler doch in vielen Fällen gar nicht, ob der Ork nun dasteht, weil es im Abenteuer steht oder weil es ausgewürfelt wurde.
Meine Antwort wäre, dass der kreative Prozess zwischen allen Spielenden (einschließlich SL) ein völlig anderer ist, wenn man auf die beschriebene Weise ergebnisoffen spielt. Tatsächlich ist es so, dass die Aufzeichung einer Runde, die ein DSA-Modul "durchspielt" und einer mit ergebnisoffenem Spiel sich nicht unterscheiden würden. Ich behaupte, dass die Spieler den Unterschied zwar nicht am einelnen Ereignisse, aber an der Dynamik einer Reihe von Ereignissen schon merken, was gerade gemacht wird.
Das ist aber auch nicht der Punkt. Die Konzentration auf die "Geschichte" ist für die Beurteilung der Unterschiede zwischen beiden Ansätzen nicht nur egal, sondern irreführend. Es geht ja nicht darum, andere Geschichten zu erspielen, es geht um das, was am Spieltisch passiert und was die Spieler während des Spiels erleben. Der kreative Prozess beim dem von mir beschriebenen ergebnisoffenen Spiel besteht aus ständiger Überraschung - auch für die Spielleitung. Diese Überraschung kann nur entstehen, wenn die Ergebnisse der Interaktion von Spielern und Welt nicht fest stehen, sonden an hinreichend objektive Gesetzmäßigkeiten übergeben werden. Dies führt gerade nicht zu starrem, ödem Spiel, sondern zur ständigen Herausforderung an alle Beteiligten, mit dem Unvorhergesehenen umzugehen. Dass dabei kein Nonsense rauskommt, liegt an der vorherigen Modellierung, die die Ergebnisse immer im Rahmen der Spielwelt und des bereits erspielten hält. Ich behaupte, und weiß es auch aus vielen Runden, dass sich durch den Umgang mit dem Unvorhergesehenen eine ganz andere Dynamik ergibt, als das Abklappern einer fertigen Geschichte.
Ein schönes Beispiel dafür hatte kirilow in einem anderen Thread gebracht. In VeG bringen die Spieler einen Nekromanten zur Strecke, der seine Schergen aussendet, um Kinder für seine dysteren Experimente zu fangen. Kirilow bemängelte unter anderem, dass kein Tagesplan des Nekromanten und seiner Schergen beigeben sei. Auf die Frage, wozu man denn sowas brauchen sollte, sagte er: Weil es doch sein könnte, dass die Schergen mit erbeuteten Kindern zurückkommen, wenn die Helden den Nekormanten schon erdolcht haben und das Städtchen beherrschen. Man stelle sich das vor: Die Guten habens gerade eben mit Ach und Krach auf den Thron geschafft und halten Gericht, da kommen drei abgefetzte Sölnder rein: "Öhm, wir hätten hier noch ein paar Blagen...äh, kriegen wir jetzt unser Geld? Menno, warum denn nicht?" Und die Väter und Mütter stehen vielleicht daneben. Und morden die Schergen. Wo die SC doch gerade Recht und Ordnung schaffen wollten. Oder sagen: Naja, bezahlen muss man Leute aber schon, die haben ja nur Befehle ausgeführt. Und murren, wenn die neuen Herren nicht abdrücken.
So was kan man nicht planen.
Aus solchen unvorhergesehenen Ereignissen entwickelt sich ein ganzer Rattenschwanz von unvorhergesehenen Ereignisse, Aktion führt zu Reaktion führt zu neuen Aktionen usw. Spielleitung und Spieler müssen ständig auf den Zehen denken, um das ins bisher erspielte zu integrieren. Es führt also auch in die Irre, nur isolierte Ereignisse zu betrachtehn, es geht ganz wesentlich um eine länger anhaltende Dynamik, die durch sowas in Gang kommt.
Und deshalb ist ergebnisoffenes Spiel auch nicht irgendwie schwieriger oder nur was für tolle, erfahrene Spieler. Zu dieser Ansicht gelangt man nur, wenn man der Chimäre einer Geschichte nachläuft, die es zu erhalten gilt. Klar, wenn alle spontan und unvrobereitet die Edda spielen sollen, ohne sich outgame abzusprechen, geht nicht.
Es gibt aber (noch) keine Geschichte, alle Mitspieler sind von dieser Last befreit. Das Spiel funktioniert im Gegenteil nur dann, wenn man die zu treffenden Entscheidungen keinesfalls im Licht einer Geschichte fällt, sondern als Spieler je nach Charaktermotivation und Situation entscheidet, als Spielleitung aber nach dem hinreichenden Weltmodell. Hier gleichen sich übrigens ARS-Spiele und Forgekram, auch wenn die jeweiligen Apologten sich spinnefeind sind. Bei beiden Varianten darf den Moment der Entscheidung nicht auf eine gedachte Story hin ausführen. Es gibt erstmal einen kreativen Prozess des Austausches, die Geschichte gibt es nur im Rückblick.
[Potenziell verwirrende Abschweifung: In Wirklichkeit ist die Dynamik wohl etwas komplizierter, weil man sicherlich das bisher Erspielte immer schon als Verlauf "der Geschichte" in die momentanen Entscheidungen einbinden muss. Es ist wirklich wie beim Bildhauen: Ich starte mit einer Idee, meißle, meißle, meißle, trete einen Schritt zurück, und verändere im Licht des Gesehenen das, was ich für mein Ziel halte, und dann wieder von vorne anfangen. Insofern beeinflusst "die Geschichte" schon den weiteren Verlauf, aber eben ... naja dynamischer. Wenn man das wirklich bis ins letzte Durchdringen wollte, scheinen mir aber die bisher im Rollo-Netz herumschwirrenden narratologischen und lingustischen Modelle ungeeignet; beim dem, was wir erklären wollenm geht es ja gerade nicht um eine Geschichte als Artefakt sondern um die Prozesshaftigkeit des Erzählens. Wahrscheinlich wären handlungstheoretische Ansätze der Kreativität besser: John Dewey "Kunst als Erfahrung". Ende der verwirrenden Abschweifung]
Es ist auch nicht so schwierig zu verkaufen:
Für ergebnisoffenes Spiel braucht man einfach eine hinreichend genaue Weltmodellierung - die sollte es zu kaufen geben. Man braucht Techniken, wie man die Interaktion zwischen Spielern und Welt hinreichend objektiv entscheidet - die sollte es auch zu kaufen geben. Man braucht als Spieler die Lust und die Chuzpe, sich in Situationen zu werfen und mit dem Unbekannten umzugehen, auf den Zehen zu denken.
Ja, warum, so spielen? Es ist einfacher, es ist überraschender, es ist ...naja., ein Abenteuer.
So weit.