Darf ich mal neugierig sein und fragen, welche Voraussetzungen du meinst?
Flächendeckende (Rechts-)Staatlichkeit, Durchsetzung des Gewaltmonopols und enge Zusammenarbeit staatlicher und staatsähnlicher Entitäten.
In Shadowrun ist der Staat schwach und pleite, der hat schlicht nicht mehr die Mittel für eine totale Überwachung und die zugehörige Intervention*.
Die Konzerne überwachen zwar fröhlich, aber echten Zugriff haben sie nur auf ihr eigenes Territorium und ihre eigenen "Bürger".
Ein umfassender Austausch der Konzerne untereinander findet genau so wenig statt wie ein Austausch mit dem Staat - das führt zu einer umfassenden Balkanisierung, die zusammen mit No-Go-Areas mehr als genug Rückzugsmöglichkeiten für Runner bereit stellt.
Auf Konzerngelände muss man natürlich sehr vorsichtig sein, aber das ist temporär begrenzt und sobald man raus ist, ist das Thema im Prinzip erledigt. Der Knackpunkt für den Konzernbürger ist ja gerade, dass er nicht raus kann bzw. will, weil er nichts anderes hat.
Selbst wenn ein Konzern es sich in den Kopf setzt, einen Runner in andere Territorien zu verfolgen: Dort hat er juristisch nichts zu melden und auch wenn es einen Dienstweg in Sachen Amtshilfe gibt (was i.d.R. nur bei Konzern zu Staat der Fall sein wird und nicht bei Konzern zu Konzern), wird sich die angefragte Seite kein Bein ausreißen, um zu helfen. Da muss der Konzern also den Ball flach halten und selbst konspirativ tätig werden.
Das ist also schon mal eine ganz andere Nummer als heute mit internationalen Haftbefehlen, umfassenden Auslieferungsabkommen usw.
Davon abgesehen, dass man einen SIN-losen auch damit nicht zu fassen bekommt.
Und da haben wir jetzt noch gar nicht von Korruption, Unfähigkeit und Überlastung gesprochen.
Shadowrun ist halt nicht Deutschland oder die USA im Jahr 201x, sondern Mexiko, Brasilien, Südafrika - da
wird in einem Ausmaß auf der Straße rumgeschossen und anderweitig gemordet, dass der Staat schlicht nicht mehr hinterher kommt - und die "niedrigere" Kriminalität ist dann erst recht egal. Selbst bei guter technischer sowie personeller Ausstattung und Organisation
und einem funktionierenden Justizwesen wäre das allein aufgrund der Fallzahlen schon zum Scheitern verurteilt. Aber das ist ja alles nicht gegeben.
Früher (als vielleicht nicht alles, aber zumindest SR besser war) hat SR recht gut erklärt, was technisch möglich wäre und - viel wichtiger - warum es dann doch nicht so stattfindet, wie es theoretisch sein könnte.
Irgendwann hat man diese ganzen
guten Gründe aber aus den Augen verloren und sich gedacht "Boah, das ist ja voll unglaubwürdig, wenn das nicht gemacht wird, wo doch heute schon viel mehr in der Richtung läuft". Das stimmt eben an allen Ecken und Enden nicht und dann bekommt man so hirnrissigen Kram wie GOD oder eine globale SIN-Registratur, die grundlegende Prämissen des Settings über Bord wirft und es noch nicht mal merkt.
*Man darf auch nicht vergessen, dass heute zwar mehr Daten gesammelt werden können, aber die tatsächliche Verwendung ist der Knackpunkt. Es gibt eben keine schwarzen Hubschrauber oder Lieferwagen von Google, in denen Leute auf Nimmerwiedersehen verschwinden - wenn das der Fall wäre, wäre das ganze Thema ein völlig anderes.
Es verzerrt die komplette Betrachtung, wenn man in der Diskussion massivste totalitäre Gewalt nach stalinistischem Vorbild einerseits und heutige technische Möglichkeiten andererseits in einer Form verbindet, wie sie schlicht nicht verbunden
sind.
Und ansonsten sollte man mal unvoreingenommen schauen, wie schnell diese angeblich übermächtigen Systeme an ihre Grenzen stoßen - sei das nun im hier angesprochenen Fall Hongkong oder ganz pauschal bei den USA mit ihrem gigantischen Überwachungs- und Interventionsapparat, den sich kein anderer Staat in dieser Größenordnung auch nur ansatzweise leisten kann und der
trotzdem noch lange nicht ausreicht.