In den letzten Tagen habe ich "A multitude of angels" gehört, eine Keith Jarrett 4 CD Box mit Konzertaufnahmen einer Italien-Tournee Ende der 90er Jahre. Jarrett spielt auf hohem Niveau, gerade die dissonant-expressionistischen Passagen sind einen Tick aggressiver als beim Köln Concert, es gibt ein paar flotte Momente, die fast nach Bluesrock klingen, einmal beendet Jarrett eine lange Nummer mit einer Art Trauermarsch, insgesamt also durchaus ein wenig Abwechslung, Welten liegen aber nicht zwischen den Aufnahmen.
Als ich damit durch war, bin ich ein bisschen ungeduldig geworden. Gibt´s denn nicht ein Solokonzert von Jarrett, in dem er mal etwas ganz anderes ausprobiert hat? Ich habe ein bisschen recherchiert und dann bedauerlicherweise lesen müssen, dass Jarrett 2018 einen Schlaganfall hatte und aufgrund seiner eingeschränkten Bewegungsfähigkeiten keine Konzerte mehr gibt. Von diesem Punkt aus habe ich dann aber mal nachgeschaut: Was war eigentlich sein letztes Solokonzert? Ich vermute, es ist eine Aufnahme aus München vom Jahr 2016. Zwei Wochen zuvor hatte er noch einen Auftritt in Budapest. Beide Konzerte sind inzwischen veröffentlicht. Ich habe sie nicht auf CD, aber es gibt zumindest Ausschnitte im Netz. Von der Form her ähneln sie dem Konzert in Rio. Das ist kein Zufall. Bis zur Jahrtausendwende hat Jarrett in seinen Solokonzerten immer zwei lange Mammuttracks gespielt und dann eventuell noch ein oder zwei kleine Zugaben hinterher (siehe Köln Concert). Danach ist er zu einem guten Dutzend Einzelnummern von 5 bis 9 Minuten Länge übergegangen. Die letzten ein oder zwei Nummern waren dabei dann in der Regel Standards. Ein Rezensent bezeichnet das als "improvisierte Suite". Na gut.
Ich habe die Nummer 3 des Münchener Auftritts verlinkt. Es ist in meinen Ohren wie immer schöne, aparte Musik. Wer genau zuhört erkennt vielleicht, dass sich die Harmonien alle um einen einzelnen Zentralton drehen, der immer präsent ist, auch wenn die Akkorde recht abwechslungsreich sind. Das ist hübsch - aber andererseits auch nicht gerade ungewöhnlich. Ein Kommentar unter dem Clip spricht von einem "gradual build-up". Ja. Die Melodie breitet im Verlauf der knapp 6 Minuten ein wenig ihre Flügel aus. Für die letzten 30 Sekunden werden die Akkorde massiver und lauter. Gut. Aber gibt es einen durchgehaltenen Spannungsbogen? Ich weiß nicht, so ganz überzeugend finde ich das nicht. Ich muss auch dran denken, dass diese Nummer am Ende einer mehr als 40 Jahre währenden Solokonzertreihe steht. Beethoven ist am Schluss immer verrückter geworden. Jarrett... bleibt doch in bewährten Bahnen. Was einmal originell und aufregend war, klingt hier zumindest für mich etwas nach Stagnation.
Keith Jarret: München IIIIch werde mir noch ein paar Ensembleaufnahmen mit Jarrett anhören. Von seinen Solokonzerten habe ich erstmal genug gehört.