Wie angekündigt habe ich inzwischen Gustavo Dudamels Gesamteinspielung der vier Symphonien von Charles Ives. Kurze Einordnung:
1. Symphonie: Jugendwerk
2. Symphonie: zukunftsweisendes, großes Werk
3. Symphonie: reduziertes, eher kammermusikalisches Werk
4. Symphonie...
Über die 4. Symphonie hier ein paar Worte: Das ist ein Monster von einem Stück! Es geht weniger um die Dauer, die vier Sätze (Prelude - Comedy - Fugue - Finale) dauern insgesamt eine gute halbe Stunde... so viel wie die durchschnittliche Beethoven Symphonie etwa.
Die Besetzung allerdings ist gigantisch:
Außer dem üblichen ohnehin schon groß angelegten spätromantischen Orchester gibt es einiges zu entdecken:
- ein Fernchor, der aus 5 Streichern und einer Harfe besteht
- ein Saxophonist, der zwischen den Holzbläsern sitzt
- eine "ether organ" (es ist nicht klar, was Ives damit meint, üblicherweise wird ein Theremin oder ein Keyboard verwendet)
- diverse Tasteninstrumente: eine Celesta, eine Orgel, ein vierhändig gespieltes Klavier, ein weiteres Klavier, das in Vierteltönen gestimmt ist, und ein drittes Klavier, das eine solistische Rolle spielt
- eine gewaltige Schlagzeuggruppe: Xylophon, Glocken, Pauken, eine "Piccolo-Pauke", Militärtrommel, große Marschtrommel mit Becken, Tam-Tams, Triangel und eine "indian drum"... im vierten Satz werden die "indian drum", die große Marschtrommel, die Tam-Tams und die Militärtrommel zu einem gesonderten Schlagzeugensemble gruppiert und bilden damit ein weiteres Extraensemble
- ein Chor
- zwei Sologeiger und eine Solobratsche
Der erste Satz ist kurz, aber schon hier erklingen verschiedene Instrumentengruppe, die scheinbar ohne größere Beziehung übereinander geschichtet sind: sehr leise Hintergrundklänge, die immer wieder von massiven, vor sich hin wälzenden Soundmassen begraben werden. Recht bald singt der Chor in Form einer einstimmigen Melodie eine amerikanische Hymne dazu.
Der zweite Satz ist lang. Hier wird die Overlay-Technik noch weitergeführt. Die verschiedenen Klangmassen spielen hier sogar in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Immer wieder erheben sich fragmentartig Motive aus amerikanischer Marschmusik aus dem Orchestersound, um schon bald wieder von anderen Ereignissen niedergewalzt zu werden. Ja, das ist Freude am Lärm... das Faszinierende ist nur, dass es kein willkürlich dahingeklatschter Matsch ist, sondern ein genau ausgeklügelter Gesamtklang, der an Komplexität kaum noch steigerbar scheint.
Der dritte Satz ist die kleine Erholungsecke der Symphonie. Er enthält eine Doppelfuge - also auch eine recht komplexe Form. Allerdings bleibt Ives hier konsequent in C-Dur, von daher wirkt der Satz weniger schräg und leichtgewichtiger.
Der vierte Satz dauert siebeneinhalb Minuten und stellt alles in den Schatten, was bisher gewesen ist. Die komplexen Klangmassen wälzen sich wie Fafnir auf den Hörer zu. Das Orchester ist in drei, manchmal sogar vier unabhängig voneinander agierende Gruppen geteilt: das normale, große Orchester, das Schlagzeugensemble, der hier nun vierstimmig singende Chor, der Fernchor mit den Streichern und der Harfe. Diese Gruppen musizieren teilweise in sich bereits recht differenziert und polyphon - auf die anderen Klanggruppen scheinen sie dabei aber kaum Rücksicht zu nehmen: sie besitzen jede für sich eine individuelle Lautstärke, Geschwindigkeit und Struktur - kurz: es wird alles aufgefahren, um eine genau ausgeklügelte sich langsam voranwälzende Kakophonie zu erzeugen. Der Satz erfordert zwei Dirigenten!
Die einzelnen Elemente in der Musik sind zumindest teilweise halbwegs traditionell und gar nicht so ungewöhnlich. Andere Elemente sind avantgardistisch und schräg. Der extreme Klangeindruck entsteht aber letztlich dadurch, dass Ives all diese Klanggruppen unerschrocken und kompromisslos übereinanderschichtet und unabhängig voneinander vorantreibt: es entsteht ein einzigartiges Chaos, in dem bei genauem Hinhören eben doch eine Ordnung erkennbar ist. Um das zu erkennen, muss man das Stück oft gehört haben. Es endet übrigens im Nichts, was in meinen Ohren nichts Versöhnliches beinhaltet. Die Musik scheint am Schluss zu zerfallen, die Gruppen lassen sich nicht mehr synchronisieren, sie laufen auseinander und verklingen jede für sich. Hier gibt es keine auf Effekt angelegte großartige Schlussapotheose, wie man nach diesen Klangmassen vielleicht erwarten könnte. Es ist so, als drehe der große Schöpfer Ives nach und nach all die Radios, die er angestellt hat wieder leiser, bis sie verstummt sind. Schließlich herrscht eine seltsame Stille. Ich habe mich gefragt, ob das jetzt eigentlich bedeutet, dass ich die Apokalypse überlebt habe...
Ich verlinke eine Youtube-Aufnahme, bei der die Partitur mitläuft - so gut das eben möglich ist. Die Darstellung gerät beim vierten Satz an seine Grenzen: Hier stehen in der Partitur so viele Instrumente übereinander, dass sie im Video geteilt werden mussten. Ab 25:35 sieht man auf der linken Seite die obere Hälfte, auf der rechten Seite die untere Hälfte der Partitur. Der Nutzen des Videos ist hier also begrenzt. Mitlesen geht nicht mehr so richtig, zum Staunen reicht´s aber.
Charles Ives: Symphony Nr. 4Wer damit nicht zufrieden ist, kann im Netz die Gesamtpartitur einsehen. Sie lässt sich zwar nicht downloaden, aber immerhin ansehen... auch der vierte Satz, so wie er original notiert ist. Hier ist die Adresse:
https://issuu.com/scoresondemand/docs/symphony_no_4_perf_ed_47475Vorsicht aber... ich bin wirklich ein geübter Leser von Orchesterpartituren, bei diesem Stück bin ich aber trotzdem drei, viermal an meine Grenze geraten. Die Asynchronität ist der Wahnsinn!
Ives hat nach seinem Kompositionsstudium übrigens erfolgreich als Versicherungskaufmann gearbeitet und zweimal eigene erfolgreiche Büros eröffnet. Er hat gesagt, wenn er die Musik zu seinem Lebensunterhalt gemacht hätte, wäre er gezwungen gewesen Kopromisse zu machen. Es kommt nicht oft vor, dass ich jemandem dazu gratuliere, kein Berufsmusiker geworden zu sein. Ives ist die Ausnahme. Ich bin sehr glücklich über dieses Stück! Wie schön, dass ich immer noch solche Entdeckungen machen kann! Wie schön, dass es solche radikalen Visionäre wie Ives gibt, die ihr Ding durchziehen bis zum Schluss!