Bei mir läuft gerade Jefferson Airplane.
Wenn ich in den Sechzigern Teen gewesen wäre, wäre ich garantiert in Grace Slick verliebt gewesen.
Stattdessen höre ich heute, 54 Jahre später, White Rabbit, den wahrscheinlich größten Hit der Band, und mache mir ein paar Gedanken. Ich lese diese Lyrics, die Alice im Wunderland als Drogentrip interpretieren und denke unter anderem an Eskapismus-Diskussionen, die auch heute noch geführt werden.
One pill makes you larger
and one pill makes you small
and the ones that mother gives you
don't do anything at all
go ask Alice
when she's ten feet tall
Ich schaue mir ein Gitarrentab für den Song an und verfolge beim Hören die Akkorde mit.
Die Strophen starten in Fis-Dur und besitzen durch eine Wechselbewegung zum darüberliegenden G-Dur ein Art Flamenco-Feeling.
Wenn im Refrain Alice erwähnt wird, wechselt die Musik aber regelmäßig nach A-Dur.
Na, und da liegt vielleicht schon die Interpretation nahe, die eine Tonart als Realität und die andere als Drogenrausch-Traumwelt anzusehen... aber dann kommt die Bridge:
When men on the chessboard get up
and tell you where to go
and you just had some kind of mushroom
and your mind is moving low
go ask Alice,
I think she'll know
Coolerweise ist es hier genau umgekehrt: Der Anfang ist in A-Dur, und wenn Alice erwähnt wird wechselt die Musik nach Fis-Dur.
Was ist hier los? Die eben gerade etablierte Dichotomie "Traum und Realität" löst sich bereits wieder auf. Wo endet das eine und wo beginnt das andere?
Auch Alice kann sich in Carrolls Roman keinen Reim darauf machen. Die letzte Strophe und das anschließende Outro scheinen das auch widerzuspiegeln:
When logic and proportion
have fallen sloppy dead
and the White Knight is talking backwards
and the Red Queen's off with her head
remember what the dormouse said.
Feed your head, feed your head.
Zur Erklärung sei gesagt, dass Alice in der Teegesellschaft von Carrolls Roman ein paarmal versucht den absurden Äußerungen der Gesprächsteilnehmern zu folgen. Die Haselmaus fordert sie aber schließlich auf, den Mund zu halten, wenn es um Dinge geht, die sie nicht versteht. Alice schweigt dann auch wirklich, ist aber gleichzeitig aufgrund der für sie undurchschaubaren Situation so entsetzt, dass sie davon läuft. Bei Jefferson Airplane bleiben Logik und Proportionen ebenfalls undurchschaubar und unkommentierbar... und einem Gast der Teegesellschaft bleibt nichts weiter übrig, als zu essen... so sind die Schlussverse des Songs vielleicht zu verstehen.
In einem Song aber, in dem von Pillen und Pilzen die Rede ist, lässt sich leicht erraten, was da gegessen werden soll. Und logisch: Durch das Rauschmittel und die folgenden Halluzinationen öffnet sich dann wohl der Zugang zu Alice´ Traumwelt. Wichtiger ist für mich aber die Ambiguität: Ich kann am Ende nicht mehr unterscheiden, was für eine Bedeutung A-Dur und was für eine Bedeutung Fis-Dur hat.
Und erst wenn ich das nicht mehr unterscheiden kann, wenn meine Realität zum Traum wird und mein Traum zur Realität... dann bin ich wirklich im Wunderland angekommen.
Jefferson Airplane: White Rabbit