Nach der Lektüre der Beiträge hier und im Nachbarforum würde ich Folgendes dazu sagen:
Ich war ziemlich verwirrt von der knallhart militärischen Interpretation... ich habe "Engel" immer primär für ein Coming-of-Age-Spiel gehalten, bei dem es um das Aufdecken von geheimen Wahrheiten und die eigene Identitätsfindung geht. Mit großen Militär- und Dystopie-Anteilen, aber primär eigentlich schon ein eher emotionales Spiel.
Das setzt mich vor allem in folgende Position: Ich betrachte es aus der Sicht des Einzelengels. DarkSilver hat es beim
B! schon richtig, finde ich, gesagt: Ein großer Teil der Kirchenoberen, der wirklich in charge ist, muss daran
glauben. Die Täufer sind sicherlich sehr gläubig (in den Zwischengeschichten, die die Täufer in den Regelwerken behandeln, kommt das auch gut raus, finde ich), die Äbte der Himmel je nachdem – ich glaube nach der Lektüre des letzten Romans, dass grade Em Susat hochgradig gläubig ist, denn sie will aus Glaubensgründen diverse Befehle des Konsistoriums eben
nicht befolgen – zumindest sagt sie das. Und bei ihrem Überfall in den Lateran behandelt sie den Pontifex immer noch mit dem ihm gebührenden Respekt.
Auch der Aufbau der Orden ist mehr als nur funktionierende Militärstruktur. Sicherlich wäre es für die Kirche sehr viel besser, Raphaeliten die Umkehrung ihrer Kräfte zu erlauben, ja sie gar darin zu
unterweisen – selbiges gilt für zahlreiche andere Baustellen (Technologie, etc...). Aber niemand macht es, weil die Glaubensgrundsätze sich ein stückweit verselbstständigt haben und wirklich nur die ganz großen Player in der Kirche da überhaupt noch den Überblick haben. Der Rest ist einfach fromm und glaubt den Lehren der Kirche – inklusive der Unfehlbarkeit (oder zumindest der Perfektion im Sinne von „besser als ein Mensch“), der Teil eines Engelswesen ist.
Zudem glaube ich nicht, dass die Kirche überhaupt über die Mittel verfügt, jede Schar gleich zu läutern, wenn ihr die Nase des Inquisitors nicht passt. Denn: Wer soll das denn melden... wenn es für die Gläubigen doch so normal ist, dass die Engel unfehlbar sind, wer sollte denn so eine Schar melden – eine Nachricht, die noch verschiedene Instanzen durchlaufen muss, bis sie beim Abt landet, der das entscheiden kann. Einfache Kirchendiener auch hoch bis zum Erzbischof, müssten viel zu viel Wissen um am besserwisserischen Verhalten von Engeln Anstoß zu nehmen. Es wäre größere Überwachung nötig um die Freidenker in den Scharen zu eliminieren.
Den Ansatz im
B! bei den Engeln selbst anzusetzen, finde ich aber gut... wie indoktriniert sind sie eigentlich? Ich persönlich hasse es ja mir als Spieler sagen zu lassen „Du spielst deinen Charakter falsch!“ – besonders bei Engel. Ich bin ehrlich: Extremgehorsam macht doch keinen Spaß zu spielen. Zumindest mir nicht. Und so habe ich das Engel-Material für mich auch entsprechend interpretiert. Es ist also alles eine Frage von „Würde dein Charakter das tun?“ Und diese Frage ist im RPG-Kontext natürlich immer für viele Spieler problematisch...
Ich glaube es ist so: Vieles lässt sich über die Erzengel begründen („Ich habe meine Befehle von Ab Arbogast! Und der spricht für den Erzengel Jeremiel!“) – die Äbte erteilen Befehle an ihre Untergebenen und diese handeln, weil nach Weisung eines Abtes, zumindest
nach Kräften im Sinne der Erzengel. Wenn man dann dies in die Ausbildung der Engel einfließen lässt, dürfte das Problem kleiner sein: Klar, der Michaelit steht Gott am nächsten, weil Michael Gott der Liebste ist... aber das bedeutet ja nicht, dass man einem michaelitischen Engel nach dem Motto „Gottes Wege sind unergründlich!“ nicht klarmachen kann, dass im Grunde alle Vorgänge auf der Welt irgendwo von den Erzengeln intendiert sind... kein Befehl innerhalb der Kirche ist also per se sündig und nicht mal die Engel durchschauen alle Absichten des Herren. Engel sind also nicht allwissend (außer vielleicht den Ramieliten), sondern vielmehr „all-moralisch“, also moralisches Ideal und so integer wie man nur sein kann... das heißt ein Michaelit hat nicht immer den
richtigen Plan, sondern nur den kirchendogmatisch korrektesten – und Kirchenmitglieder müssen auch immer mal wieder gegen grundsätzliche Gesetze der Kirche verstoßen, solange ihr Glaube stark genug ist (bei Technologie und Schrift ist es ja nicht anders). Engel sind somit hinsichtlich des Dogmas unfehlbar, aber für weltliche Belange eben nicht... klar, das führt zu Problemen und sollte den Engeln zu denken geben, aber das gehört zur Intention des Spiels, finde ich.
Im Falle von Herrn von Kassel könnte der Michaelit in der entsprechenden Situation schon sagen: „Das ist falsch, was du tust!“ und ihm entsprechende Angelitica-Verse um die Ohren hauen (notfalls sogar Gabriels Gebot), aber Von Kassel hat viele Möglichkeiten, sich da rauszuwinden, eben indem er darauf rekurriert, dass seine Befehle von Em Susat stammen, dass er Weisungen vom Pontifex hat oder dass er ja nicht gemordet, sondern angemessen bestraft hat. Je nachdem wie jung die Engelsschar ist, kann man also angemessen begründen, dass der Mensch ein elender Sünder ist und die Engel einfach moralisch den besseren Durchblick haben – aber eben nur moralisch und Gott kann anderes mit den Menschen im Sinn haben und die Erzengel sowieso. Was die Schar dann mit dieser Begründung anfängt, ist eine andere Frage. Engel könnten davon ausgehen, dass es sinnvoll ist, den Weisungen der Kirchenmitglieder Folge zu leisten, weil diese ganzen Rädchen im Getriebe in letzter Instanz Teile im göttlichen Plan ist – die Befehle kommen im Zweifelsfall immer vom Ab, also von des Erzengels Sprachrohr.
Außerdem glaube ich, dass das angelitische Dogma in etwa so widersprüchlich in den Details ist, wie das christliche auch – vielleicht ist der Glaube etwas gestreamlinter, aber sicher nicht viel. Ein Ramielit könnte in der Schrift sicherlich Rechtfertigungen für die Tat Franz von Kassels finden aber auch Verurteilungen der solchen.
Nur so ein paar Gedanken dazu.