Grundsätzlich hat Jörg natürlich Recht. Um ein Spiel richtig kennenzulernen braucht es eine Weile.
Nun zum ABER:
Wenn man sich für ein neues (= noch nicht ausprobiertes) Spiel interessiert, dann kann man schon
beim ersten Lesen Grundtendenzen feststellen.
Wenn beispielsweise Mooks zwingend im Regelwerk verankert sind, dann bin ich erstmal kritisch.
Kommen dann noch mehr Elemente dazu, die mir weniger liegen oder die ich überhaupt nicht mag
(wie ein ausgefeiltes Kaufsystem mit überbordendem Vorteil-Nachteil-Kuhhandel), dann ist irgendwann der Punkt erreicht,
an dem ich schon vor dem ersten Spielen sage: Nix für mich!
Beim ersten Spielen kann man Elemente, die man gut findet oder gegen die man Vorbehalte hat ausprobieren und prüfen.
Funktioniert das Spiel IN GRUNDZÜGEN so, wie ich es mir wünsche? Komme ich mit den Spielmechanismen prinzpiell klar?
Die ersten Spielabende geben darauf Antworten.
Man darf allerdings nicht vergessen, dass die ersten Spielerlebnisse beinahe zwingend von Schwierigkeiten
wie falscher Regelanwendung, Nachblättern, etc. getrübt sind.
Sollte das Spiel nach dem ersten (zweiten und dritten) Praxistest TENDENZIELL immer noch Gefallen finden,
dann lohnt es sich das Spiel weiterzuverfolgen. Andernfalls kann man es getrost aussortieren.
Im Kampagnenspiel danach zeigt sich, ob man mit RSP-System XY glücklich werden kann.
Das "Hineinwachsen" in das System und das Herausbilden eines Gruppenstils beginnt.
Meine ersten
Erlebnisse mit TSoY waren nicht allzu gut. Mit den Pfaden, die ich gewählt hatte bin ich im Spiel gar nicht zurecht gekommen. Das Spiel war szenisch und über die Auffrischung der Reserven kamen Sequenzen ins Spiel, die für das Abenteuer schlicht langweilig waren.
DOCH: Das System hat auf einer grundlegenden Ebene funktioniert. Es ist sichtbar geworden, dass "Erfahrungspunkte-Abholen" über die Pfade Spaß machen KANN und meine Vorbehalte gegenüber
conflict Resolution konnten ausgräumt werden. Solar System konnte später noch weitere Probleme beseitigen und Klarheit schaffen. Heute gerhört es mit zum Pool der Systeme, die ich besonders mag.
Ähnliche
Erfahrungen habe ich
mit cD&D gemacht, wo ich SL war. (Das war ein Haus-Con-Experiment. "cD&D out of the box.")
Interessant war die Reaktion der Spieler: Die eine Hälfte hat ihre Vorurteile gegenüber old school Spielen bestätigt gesehen und sich danach wieder ganz auf D&D 4 gestürzt. Die andere Hälfte wusste, trotz aller Spielschwierigkeiten einige der Spielmechanismen zu würdigen. Mit letzteren habe ich dann später noch mal Labyrinth Lord gespielt. Mit recht gutem Ergebnis.
Bei uns war's eigentlich immer umgekehrt: Wir waren für die Sachen, die wir gespielt/ausprobiert hatten, immer Feuer und Flamme und haben einige Sessions lang gespielt, bevor wir völlig frustriert drauf gekommen sind, was eigentlich alles hakt und ächzt.
Tja. Das ging mir bei Savage Worlds so ähnlich. Wir haben das Spiel ~ 1,5 Jahre relativ regelmäßig im wöchentlichen Rythmus gespielt. Dabei hat es mir immer weniger gefallen. (Zugegeben - daran sind nicht nur Spielerfahrungen schuld, sondern auch die Internet-Diskussion, die parallel auch noch die Erwartungen meinerseits an das System hochgeschraubt hatte.) Es ist nun nicht so, dass ich das Spiel gar nicht mehr mögen würde, aber ich musste lernen, dass ich es nur für eine sehr begrenzte Zahl an Settings gebrauchen kann.
[ I]ch empfehle den Mut zur Langsamkeit. [...]
Den empfehle ich auch. Anders als Jörg plädiere ich nicht für ein ausgiebes Spielen und Testen und für viel Geduld mit einem System, sondern für ein mehrstufiges Prüfverfahren. Beginnend mit dem Einlesen/sich mit dem Spiel vertraut machen (z.B. durch Unterhaltungen mit dem SL), das zum Verständnis der Spielprämissen, des Spielrahmens und der Spielstimmung führt. In der Folge: Testspiele. Dann: Kampagne.
Jede Hürde sollte von einer Spielgruppe separat genommen werden.
Diese Langsamkeit ist es, die ich Heute oft vermisse, das sich Zeit lassen und an ein System gewöhnen. Nach einem One Shot meint man, das System perfekt zu kennen und ein fertiges Urteil abgeben zu können. Dabei hilft oft nur langes Spielen um mit den Stärken und Schwächen eines Systemes zurecht zu kommen und mehrere Spieler die sich mit den Regeln befassen um es in seiner ganzen Tiefe kennen zu lernen.
So wichtig der Gewöhnungseffekt ist. Meine erste Aufforderung wäre es nicht.
Trotzdem: Den Ansatz kann ich durchaus nachvollziehen. Mir wäre meine Zeit für eine Geduldsübung für unpassende Systeme zu schade. (Und die Ablehnung der Geduld ist jetzt wiederum untypisch für mich.
)