Bevor wir darüber diskutieren ob und wie das Storyteller System bzw. das Storytelling System ausbalanciert ist, brauche ich eure Definition von Balancing.
Balancing bedeutet für mich, dass jeder vom Regelwerk vorgesehene Charaktertyp annähernd gleichstarken Einfluss auf den Spielverlauf in einem Abenteuer mit verregelten Standardsituationen nehmen kann.Also mal einschränkend gesagt, was ich hier schreibe bezieht sich insbesondere auf das Balancing in primär erzählerisch orientierten Runden. In anderen Runden, z.B. sehr an der Herausforderung orientierten Runden, würde ich wahrscheinlich noch höhere Anforderungen an das Balancing im System richten.
Zuallersertmal: ich sehe es normalerweise nicht als primäre Aufgabe des SL an, dafür zu sorgen, dass jeder Spieler/Charakter sein Spotlight bekommt. In erzählerischen Runden bin ich da ein Bisschen nachgiebiger, aber auch da kann ich als SL nicht immer wissen, was der Charakter nun kann, was der Spieler nun (mit dem Charakter) will und was der Spieler sich von den Aktionen seines Charakters erhofft. Manchmal klappt das ganz gut, wenn die Charaktere sehr deutlich spezialisiert sind
und sich die Spezialisierung ins vorliegende Abenteuer einfügt. Ich kann im Voraus als SL z.B. planen/vorbereiten, dass die Spieler in Situationen kommen, wo der Sozialcharakter mit Spitzenwerten in Intimidation und der Wildnischarakter mit Spitzenwerten in Spurensuche und Tierkunde glanzvolle Auftritte haben werden.
Aber manchmal weiß ich eben nicht weiter, und ich bin nicht so genial wie ein Hollywooddrehbuchautor, dass ich für jede Folge bzw. jeden Spielabend einem Mechaniker/Bastler unter den Charakteren eine Aufgabe hinstellen kann. Oft kommen eben nur "Standardsituationen" heraus (ein oder zwei Kämpfe, ein oder zwei Gespräche, eine Schleich- und Einbruchsaktion und eine Bibliotheksrecherche). Wenn der Spieler selbstständig Ideen entwickelt, wie er mit seiner Charakterspezialisierung etwas
auf unterhaltsame Weise bewegen kann, ist das super, aber ich halte es für eine übertriebene Anforderung, vom SL zu erwarten, dass er die Spieler dauerhaft (und fair!) optimal mit Spotlights bedienen kann (zumindest ich kann es nicht).
Balancing bedeutet für mich, dass
unterschiedliche Charaktertypen in den
verregelten Standardsituationen des Spiels einen
annähernd gleichen Einfluss auf den Abenteuerverlauf haben können, der unabhängig von SL-Wohlwollen ist.
Mit
unterschiedlichen Charaktertypen meine ich sowas wie Klassen, Völker, Clane, Stämme, Horrorspezien usw.
Die
verregelten Standardsituationen sind ein wichtiger Punkt. Was außerhalb der Regeln ist, braucht in der Beziehung nicht zu interessieren. Mir ist es wichtig, dass von der Spielbeschreibung her angezeigt wird, welche Situationen (Herausforderungen) in dem Spiel häufig auftreten sollen. Und dazu, dass es im Spiel Mechanismen gibt, um diese Situationen abzuhandeln (um Erfolge bzw. Misserfolge zu ermitteln).
Prinzipiell bestehen drei Möglichkeiten (in der Praxis kommt meistens Möglichkeit b oder c in Regelwerken vor):
a) es gibt eine häufig/immer wiederkehrende Standardsituation, in der verschiedene Charaktertypen auf unterschiedliche Weise zum Erfolg beitragen können.
b) es gibt eine Reihe verschiedener Standardsituationen, in denen einzelne Charaktertypen herausragende Bedeutung haben
c) Es gibt eine häufig wiederkehrende Standardsituation und eine Reihe verschiedener Standardsituationen.
(eventuell gibt es in sehr erzählerischen Spielen unterschiedliche Situationen, die von allen Charakteren gleichermaßen mit Erfolgsaussichten und Einfluss bewältigt werden können, solange eine bleibige Fertigkeit erzählerisch als Lösungsmöglichkeit begründet wird. Aber da habe ich zu wenig Erfahrung mit.)
Sehr praktisches Beispiel für a) wäre ein System/Abenteuer, das sich in erster Linie aufs Kämpfen konzentriert. Kampf ist die häufig wiederkehrende Standardsituation, jeder Charaktertyp trägt auf unterschiedliche Weise zum Sieg bei, kein Charakter ist im Kampf das fünfte Rad am Wagen. D&D(4) ist da ein Beispiel, dank der Tricks auch SW. Natürlich muss die Standardsituation nicht "Kampf" sein. An den Skillchallenges bei D&D kann und soll sich z.B. auch jeder Charakter der Gruppe annähernd gleichrangig beteiligen.
Die Balancefrage wäre hier:
Kann jeder Charaktertyp in einem annähernd gleichen Maß zum Erfolg in der Standardsituation beitragen?
Beispiele für b) wären alle Systeme, die einzelne, sehr unterschiedliche Aufgaben den Spezialklassen zuschieben. Die meisten klassenbezogenen Fantasysysteme machen das so, aber auch bei den Vampirsystemen weisen die Clansdisziplinen deutlich darauf hin, wer welche Jobs spielen soll (z.B. Sozialcharaktere mit mindestens zwei von Dominate, Presence, Auspex; Schurkencharaktere mit Auspex + Obfuscate; Waldläufer mit Animalism + Protean usw.)
Die Balancefragen wären hier:
Sind die unterschiedlichen Situationen gleichermaßen bedeutsam für den Abenteuerverlauf?
Haben die Spezialklassen in ihrem Bereich tatsächlich größere Erfogschancen und größeren Einfluss als nicht-spezialisierte Klassen?
Hier können eventuell erhebliche Spotlightunterschiede bestehen, und ehrlich gesagt glaube ich auch, dass hier am meisten gemurkst wird. Beim Buffy the Vampire Slayer RPG bin ich mir z.B. nicht sicher, ob die Aktionen der Whitehats nicht deutlich unwichtiger sind als die Aktionen der Heroes. Aber mir fehlt die praktische Erfahrung, inwieweit das durch die Gummipunkte ausgeglichen wird.
Fall c) versucht, einen Kompromiss zwischen a) und b) zu schließen: es gibt ein oder zwei wiederkehrende Standardsituationen, an denen jeder Charakter mit annähernd gleicher Bedeutung teilnehmen kann, aber auch Spezialaufgeben für Rampenlichtauftritte. Die Mondphasen in WtA haben z.B. stark angegeben, wer der Prügler, wer der Redner, wer der Schamane und wer der Trickser der Gruppe ist - aber im Grunde konnten alle Werwölfe gut Kämpfen. Fall c) ist besonders anfällig für Balanceverluste.