Wir sind recht zufällig auf eine ziemlich einfache Methode gekommen, ein sehr freies Freeform-RPG zu starten. Es ist für niemanden Vorbereitung nötig und ist ideal für einen Abend, wenn man nicht so recht weiß, was man spielen soll.
Zu Beginn einigen sich alle auf einen Ort und ein Jahr, und auf eine ermordete Person. Bei uns war es Miami im Jahr 1984, ermordet wurde ein Reeder namens Wellington.
Alle Spieler übernehmen die Rollen von Polizeiermittlern. Alle haben zu Beginn des Spiels den gleichen Wissensstand. Niemand weiß also, weder IC noch OOC, wie und warum sich der Mord ereignet hat.
Man beschließt also, zu ermitteln. Das geht zum einen, indem man Zeugen, Angehörige etc. befragt. Auf Zuruf wird die Rolle des entsprechenden Zeugen an einen Spieler gegeben, der dann auf die Fragen der Ermittler Auskunft gibt. Mit anderen Dingen, wie der Tatortbesichtigung oder der Obduktion kann man genauso verfahren. Befragt werden dann eben die Kollegen, die den Tatort gesehen haben oder der Gerichtsmediziner. Das ist eigentlich das ganze Prinzip. So simpel wie es ist, hat es mehrer Vorteile:
Zum einen gibt es zu keinem Zeitpunkt jemanden, der die alleinige Gewalt über die Story, bzw. das, was "wirklich" passiert ist, hat. Jede Information bekommt man nur gefiltert über die Befragung einer anderen Figur. Ob diese Figur die Wahrheit sagt, ist natürlich nie vollständig sicher. Man kann sich also einer "Wahrheit" nur annähern. Das impliziert natürlich auch, dass der Mord innerhalb des Spiels nie aufgeklärt werden kann (Es sei denn, alle legen es darauf an und arbeiten zusammen auf eine Version hin, kein Zeuge erzählt also widersprüchliches. Aber das wäre ziemlich kontraproduktiv.). Stattdessen wird die Story immer komplexer, immer widersprüchlicher und immer lebendiger. Schließlich war auch "Twin Peaks" genau so lange eine großartige Serie, bis der Sender David Lynch zwang, den Mord an Laura Palmer aufzuklären.
Zum anderen kann sich jeder an der Storygestaltung beteiligen. Egal, ob er gerade gute Ideen hat, oder nicht. Denn die Storygestaltung ist immer so kleinteilig kooperativ, dass nie jemand aus dem Stegreif eine komplette "Szene" oder dgl. erfinden muss. Wenn ihm gerade nicht viel einfällt, kann er sich auch auf das Fragenstellen, also die Ermittlerrolle beschränken. Und welche Fragen gestellt werden, hat genauso großen Einfluss auf die Rekonstruktion der Story, wie die Zeugenaussagen. Oder man kann als Zeuge sich alles aus der Nase ziehen lassen, auch das ist fruchtbar.
Fruchtbar sind außerdem alle Arten von Widersprüchen und Missverständnissen. Versteht jemand ein Wort falsch, sofort aufnehmen und verwenden! So entstehen auch tolle Namen :-). Klamaukiges ruhig zulassen, aber den Inhalt des Klamauks völlig ernsthaft behandeln und dann bspw. diesem völlig unrealistischen und absurden Geschehen, das durch den Klamauk entstanden ist, auf den Grund gehen. Toll sind auch widersprüchliche Ermittler, z.B. wie Scully und Mulder: Einer, der an übersinnliches glaubt, eine andere, die immer eine rationale Erklärung sucht, selbst wenn das unmöglich scheint.
Wir haben uns im Verlauf des Abends plötzlich in einem Dickicht widergefunden, das eine Mischung aus David Lynch und Paul Auster war, in dem selbst die Ermittler nicht mehr sicher waren, ob sie vielleicht etwas mit dem Mord zu tun hatten. Und was hatte es mit dem Film auf sich, der in der Mordnacht im Fernsehen lief und den nie ein Mensch in voller Länge gesehen hat, weil er als so "unamerikanisch" gilt?
In weiteren Runden haben wir später das Prinzip der Zeugenbefragung aufgeweicht und haben gemeinsam und "ungefiltert" andere Geschehnisse rekonstruiert. Dabei wechselten wir fließend die Erzählperspektiven und die Zeiten. Einzige Regel: Man darf das, was jemand anderes als "auktorialer Erzähler" beiträgt, nicht mit "nein" ablehnen, nur mit "ja, aber..." relativieren. Das hat teilweise super funktioniert, großen Spaß gemacht und tolle Storys entstehen lassen. Aber es braucht ein bisschen Übung.