Also, überlegen wir mal:
Schauplatz ist die Großstadt.
Ein wichtiges Thema ist hierbei das soziale Gefälle, also die zum Teil extremen Unterschiede zwischen arm und reich, verschiedenen Ethnien (in den USA: schwarz und weiß, Chinesen, Mexikaner), Männern und Frauen (in klassischen Noir Sex fast immer als Zahlungs/Lockmittel, die "Waffen einer Frau", die in einer männerdominierten Welt wenig andere Möglichkeiten haben, ihre Ziele zu erreichen, und darüber selber zynisch werden)
Damit sind wir auch gleich bei einem anderen wichtigen Motiv, der allgegenwärtigen Gewalt, die unter der Oberfläche brodelt und beim geringsten Anlass ausbricht. Die Großstadt ist ein Dschungel, in dem nur die Stärkeren überleben. Die Armen setzen sich mit Fäusten, Waffen, Sex und Drogen durch, die Reichen mit Intrigen, Geld und Einfluss.
Das Dschungelhafte taucht etwa bei Raymond Chandler auch immer wieder als Bild auf: der Reiche im Gewächshaus, die Tierhaftigkeit der Menschen in Aussehen und Verhalten, Stadtansichten, die mit Natur verglichen werden (Straßenschluchten, Verkehr wie Ameisen, Gestank von Abfall, das Meer vor L.A.). Selbst das Wetter ist extrem: Entweder es regnet die ganze Zeit und es ist irgendwie immer Nacht oder die Sonne brennt mörderisch, der Nachmittag geht nie vorüber.
Handlungsorte sind sowohl Abbruchhäuser, Spielhöllen, Bordelle, Boxhallen, schäbige Lichtspielhäuser als auch Tanzpaläste, Villen, gediegene Büros, Pferderennen, Banken.
Die Spieler sind einsame Streiter in einer korrupten Welt, die unter einem Mantel aus Zynismus die letzten Spuren ihre Ideale zu bewahren versuchen. Sie sind Außenseiter, weil sie sich im Machtkampf erst einmal auf keine Seite schlagen und trotz allem versuchen, das Richtige zu tun. Diese Hoffnung auf etwas Menschlichkeit blitzt immer wieder auf, wird aber regelmäßig enttäuscht.
Wie man sieht, ist Noir erstmal kein typisches (heroisches Fantasy-)Rollenspiel-Genre. Warum? Die Protagonisten im Noir sind eigentlich Einzelgänger, keine Gruppen. Sie außerdem Anti-Helden und scheitern eigentlich fast immer. Sie haben kaum einmal klare Aufträge, sondern lassen sich (selbst als Ermittler) im Milieu treiben und laufen dem Fall eher hinterher. Nicht selten haben sie es mit mehreren sich überkreuzenden "Fällen" zu tun, deren Lösung sich am Ende oft beiläufig/zufällig ergibt bzw.: die Hintergründe des Falls stellen sich als etwas ganz anderes heraus, als ursprünglich angenommen, am Ende steht keine saubere Auflösung, sondern eher ein achselzuckendes "Weiter so". Das ist als Spielinhalt leicht frustrierend.
Wenn man´s dennoch umsetzen will, muss man a) auf die oben genannten typischen Motive achten, was eine Frage der erzählerischen Umsetzung ist und b) ein System wählen, das eher durchschnittliche SC mit tödlichem Kampfsystem und idealerweise einer Mechanik für seelische Verletzungen verknüpft und vielleicht auch noch Beziehungsgeflechte/Motivationen/persönliche Ziele mechanisch unterstützt, also ein schlankes Erzählspiel oder ein gemäßigter Indie. Die Aufklärung von Kriminalfällen durch echte Ermittlungs/Kombinationsarbeit am Spieltisch wäre eher untypisch; der "Fall" ist im Noir eigentlich nur Aufhänger für die Milieu- und Charakterstudie.
Meine Wahl wäre Unknown Armies, wobei dann einfach der okkulte Hintergrund auf ein Minimum heruntergefahren wird. Wobei: In vielen Noirs gibt es ja Elemente, die ans Übernatürliche, Surreale grenzen (gerade gelesen: Kahlschlag von Joe R, Lansdale, wo ein Schurke im Auftrag Gottes seinen Opfern die Seelen aus dem Mund zu saugen meint - oder natürlich "Mullholland Drive" von Lynch). Das Spiel bietet eigentlich alles oben genannte, bis auf das Beziehunsgeflecht. Die Regeln für Street Level (also das, was du brauchst) gibt es im Einsteiger-Kit umsonst; wenn es dir gefällt, bietet das SL-Kapitel des Buchs auch noch ein paar gute Ideen zu Motiven und Schauplätzen als Atmo-Bringer.
Auch möglich wäre Primetime Adventures, wobei man dann extrem auf die zwischenmenschliche/seelische Dynamik abstellt. Mit dem "Personal Set" und Traits, die auf genrespezifische Elemente abfahren, kriegt man aber auch den Rest gut in den Griff.
In einem eher klassischen System wie Cthulhu oder WoD müsste man versuchen, über die Charaktergestaltung und Regelanwendung ein Gefühl der Unterlegenheit/Bedrohung auf Seiten der Spieler zu erzeugen, während zugleich die Fiktion die Motivation liefert, sich doch in Gefahr zu begeben. Wäre dann wohl mehr "Stimmungsspiel" bzw. das Klassische "Ich kann eigentlich von den Wert her nicht, es muss aber sein."