Nach der Sommertreffenrunde jetzt noch einmal meine ausführlicheren Gedanken zu dem Spiel:
Das Setting ist irgendwo zwischen Postapokalypse, Shadowrun und Cthulhu. Man spielt mehr oder weniger professionelle Kriminelle, die oftmals die Drecksarbeit für die mit dem ganz großen Geld erledigen. Die "Zonen", um die sich das Setting dreht, sind bizarr und bieten viele Ansatzpunkte für Horror (atmosphärisch oder splatterig nach Wunsch) und schwarzen Humor. Der Umgang mit dem Fremden - Ausgrenzung, Ausbeutung, Angst - ist das zentrale Thema das Spiel, insofern kann man auch gut eine psychologische und/oder sozialkritische Note reinbringen, wenn man auf so was steht. Und schließlich haben die Zonenexpeditionen auch noch ein bisschen was von einem Dungeoncrawl auf LSD. Mir hat bei der ersten Runde am besten gefallen, wie sich der "Dungeonteil" relativ organisch mit dem eher psychologischen Teil (Konflikt zwischen der Mutter eines Mutanten, die ein richtiges Drecksleben hat und ihrem Sohn die Schuld daran gibt, obwohl sie ihn nach wie vor liebt, und einer Wissenschaftlerin, die den Sohn einerseits als Forschungsobjekt spannend findet und andererseits die Mutter zu Toleranz gegenüber dem Anderen "erziehen" will, was die Mutter wiederum als Angriff versteht und mit einer galligen Attacke gegen privilegierte Gutmenschen zurückschlägt) verbunden hat. Das Setting gibt solche mehrschichtigen Konflikte sehr gut her, weil es darum geht, einerseits Geld mit dem Fremden zu machen, sich andererseits persönlich irgendwie ethisch dazu zu verhalten und sich letztlich auch vor ihm zu schützen.
Eine wirklich eigenwillige Mischung - um sich ein Bild zu verschaffen, lohnt sich die Lektüre des zugrundliegenden russischen SF-Klassikers "Picknick am Wegesrand" von Arkadi und Boris Strugatzki.
Die Regeln sind praktisch nicht vorhanden - es handelt sich um ein würfelloses System, bei dem aus vom SL zugeteilten Zahlenwerten für die Güte einer Lösungsidee und die Güte des Rollenspiels(TM) sowie ggf. einem Bonus durch passende Fähigkeiten auf dem Charakterbogen errechnet wird, ob der Charakter den Zielwert knackt. Wir haben bei der Testrunde den Rollenspiel(TM)-Bewertungsteil durch einen Würfelwurf ersetzt, weil ich nichts davon halte, als SL Noten für die Spieler zu vergeben. Auf die Art ging es halbwegs, aber eigentlich hätte man sich die Regeln sparen können - sie haben nicht dazu beigetragen, das Spiel irgendwie zu gestalten und keine interessanten Möglichkeiten oder Anregungen bereitsgestellt. Letztlich haben wir praktisch regelfrei gespielt.
Noch eine Anmerkung zum System "as written": Selbst wenn man es für sinnvoll erachtet, Rollenspiel(TM) durch Probenboni zu belohnen, halte ich das System in Stalker für unglücklich, weil es das "gute Ausspielen" des Charakters automatisch an eine erhöhte Erfolgswahrscheinlichkeit bei der Probe knüpft, die gerade ausgespielt wird. Das macht es in dem System ziemlich schwer, Eigenschaften sinnvoll auszuspielen, die einem einen Nachteil in einer Probe verschaffen. Beispiel: Ein Wissenschaftler, der noch nie außerhalb eines Schießstands eine Waffe abgefeuert hat, muss sich mit der Pistole in der Hand eines Angreifers erwehren. Wenn der Spieler seinen Charakter hier so richtig ausspielen will, würde er vielleicht sagen: "Ich erstarre und halte die Waffe auf meinen Gegner gerichtet, bringe es aber nicht fertig, abzudrücken". Entweder, der SL gibt jetzt nun die Punkte für "gutes Rollenspiel", durch die die Probe möglicherweise sogar gelingt (na gut, vielleicht löst sich irgendwie doch ein Schuss und trifft zufällig), höchstwahrscheinlich aber misslingt (dem Wissenschaftler fehlt die Fertigkeit, und die Idee, einfach erstarrt stehenzubleiben, ist als losgelöst vom Charakter zu bewertende Strategie auch nicht gerade Erfolgvbersprechend); oder der Spieler macht "schlechtes Rollenspiel" und lässt seinen Wissenschaftler ruhig zielen und schießen - dann ist die Idee gut, das Rollenspiel aber "schlecht", und wahrscheinlich misslingt dann auch in diesem Fall die Probe. Sprich: Eine hinderliche Charaktereigenschaft auszuspielen, wird bei der konkreten Probe vom Regelsystem bestraft, sie nicht auszuspielen, wird aber auch bestraft. Ein Anreiz zum Ausspielen hinderlicher Eigenschaften bleibt damit eigentlich nicht bestehen, mit Ausnahme des moralischen Appells, "gutes Rollenspiel" zu betreiben.
Das Grundproblem ist m.E. die Kopplung von gutem Rollenspiel(TM) und Probenerfolg. Die ergibt einfach überhaupt keinen Sinn. Ein System wie Fate, in dem man später einsetzbare Punkte dafür erhält, gewählte Nachteile auszuspielen, erscheint mir da doch sehr viel vernünftiger. Das Material aus dem Regelbuch ließe sich m.E. auch wunderbar leicht auf Fate umschreiben, da es gewisse Verwandtschaften zwischen den Systemen gibt.
Der Hauptteil des Buches widmet sich aber ohnehin der Erörterung des Settings - ich schreibe bewusst nicht Beschreibung, denn Stalker ist keine Sandbox, sondern eher eine Sammlung von Elementen, die im Spiel auftauchen können, samt ausführlicher und brauchbarer Überlegungen für ihre Einbindung ins Spiel. Insofern ist das regelarme Regelwerk sein Geld allemal wert - die konkrete Settingsausgestaltung bleibt einem weitgehend selbst überlassen, aber das Material, das man dafür an die Hand gegeben bekommt, ist hervorragend aufbereitet.