Jetzt kommen wir zum System:
Dort hast Du eine sehr detailierte Powerhierarchie. Die ist aber komplett von irgendwelchen Beastkonsequenzen entkoppelt. Du kannst regeltechnisch einen Drittgenerationsvampir sein, der alle Powers auf 10 hat, ohne dass er da bei jeder Gelegenheit von seinem Beast kontrolliert wird oder er damit ein komplett unmenschliches Monster ist. Genau da scheitert das Originalsystem am Anspruch des Settings. Klar kannst Du da als SL handwedeln, indem Du sagst: "Dein Beast übernimmt die Kontrolle über Dich, nachdem Du Auspex2 angeworfen hast." Oder Du sagst als Spieler: "Ich habe jetzt Power XY angeworfen. Diese Macht koste ich voll aus und dadurch übernimmt mich mein Beast." Aber sowas wird halt garnicht auf regeltechnische Weise dargestellt. Wenn Du Deinen Charakter richtig baust, interessiert Dich Dein Beast nur in ganz extremen Situationen (Ich kann mich noch erinnern, wie einige Spieler mit Feuer rumkokettiert haben, nur um zu zeigen wie toll ihr Charakter gebaut ist).
Genau das ist der Kritikpunkt am System: Das Setting sagt etwas ganz Anderes aus als das System. Also nicht die Spieler und deren Spielstil sind der Kritikpunkt sondern das Enttäuschen der Erwartungen, die durch das Setting geweckt wurden, durch das Sytem.
Kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Selbst wenn wir uns jetzt wirklich dumm stellen und einfach nur das zusammenbauen, was da im Regelwerk als Standard "vorgegeben" ist, haben wir einen relativ schwachen Neugeborenen, mit ein paar Pünktchen in Clansdisziplinen, die jetzt noch nicht so der oberburner sind, wenn es darum geht, Gliedmaßen auf der Tanzfläche zu verteilen oder generell den Superhelden raushängen zu lassen. Und selbst wenn man es kann, gibt es eine Settinginhärente Grenze: die Maskerade und das System von Menschlichkeit bzw. von den Wegen. Und das ist meines Erachtens auch nach System vorgegeben, sonst kann man gleich alles über Bord schmeißen.
Gerade wenn wir von "rules by the book" sprechen - und darauf fußt ja dieses "Das System bedingt die Superheldennummer doch!"-Argument kannst du eben
keinen Gen 3 Ubervampir spielen. Wie soll das gehen? Du hast nicht mal genug Punkte, um den Neugeborenen powermäßig auszustatten und physisch nicht die Möglichkeit, genug Punkte in Generation zu stopfen, um auch nur ansatzweise irgendwo da "unten" anzukommen.
Dazu kommen nette Sachen wie Geistesstörungen bei unausgeglichenen Disziplinskombos oder zu krasser Verlagerung und / oder Steigerung einer von ihnen und Kains Durst, wenn mans mit dem Diablerieren übertreibt. Beides, neben Raserei- und Rötschreckwürfen, Menschlichkeit und Wegen und sozialen Stigmata völlig klar geregelte und systematisierte Regulationsmechaniken.
Und selbst im Spiel dürfte es schwierig sein, jetzt rein by-the-book, an niedrigere Generationen und höhere Powerz ranzukommen. Man muss sich nur mal die oft zurecht kritisierten, völlig überpowerten NSCs in den Regelwerken durchlesen und kann sich vorstellen, wie "leicht" das ist, die zu diablieren, wenn man nicht gerade einen SL hat, der die auf dem Silbertablett serviert.
Deswegen: man muss eine Gruppe haben, die dieses Spiel unterstützt - und das "Problem" beziehungsweise die "bedingende Komponente" ist meiner Meinung nach weder das Setting, noch das System, sondern der Spieler und seine Herangehensweise. Für deine Argumentations- und Schlussfolgerung nimmst du (wie andere hier) natürlich empirische Ergebnisse zur Hand und meinst: es überschneidet sich häufig, es passiert häufig, es muss also vorgegeben sein. Sehe ich nicht so. Im Gegenteil. Was alles für Schindluder mit dem Regelwerk / Setting betrieben werden kann sagt ja noch nichts darüber aus, welcher Spielstil "bedingt" wird. Vor allem nicht, wenn man unbequeme und diesem Spielstil unförderliche Regelmechaniken und Settingkonventionen einfach ignoriert, was man muss, um seine Munchkin-Superheldenvampire zu bekommen.
Wenn ich bei Shadowrun die Sache mit der Essenz und der Prioritätssetzung der Lebensstile (und ihrer Erhaltung) ignoriere, ganz zu schweigen von den Legalitäten von Waffen und der Schwierigkeit der Beschaffung,
kann ich mir auch die übelsten Cracker bauen, die völlig lächerliche und physisch unmögliche augmentations und cyberware aufgeladen haben, um gewisse Effekte zu erzielen oder generell overpowered zu sein. Wird das vom System oder vom Setting bedingt? Nein, warum auch? Es gibt doch klare Grenzen und Richtlinien, Vorgaben und Schranken, die genau das verhindern. Die muss man erst bewusst (oder unbewusst) ignorieren.
Ich kann mir ehrlich gesagt nur vorstellen, dass die etwaigen Systemregelungen schlichtweg übergangen und gebogen werden. Teylen hat es schon gut angesprochen, nur so ist es möglich, das wirklich anhand des Buches als "gegeben" zu interpretieren, meiner Meinung nach. Und selbst wenn du jetzt ausschließlich von der allerersten Edition des Systems gesprochen hast (die ich nicht kenne), gilt das, da die Diskussion sich hier soweit ich weiß auf die Spielrealität bezieht.. und das schließt alle Editionen mit ein. Zumal es müßig ist, über systeminhärente Bedingungen zu Spielweisen zu sprechen, die längst durch neue und überarbeitete Editionen ausgebessert wurden. Ich kann persönlich aber auch nicht nachvollziehen, wie man die Disziplinen lesen und an Superhelden denken kann. Dafür sind die viel zu underwhelming, viele davon viel zu sozialbetont.
Und nochmal: klar
kann man das alles dazu benutzen, so eine Art von Spiel zu pflegen und damit Spaß zu haben, man
kann alle Settingskonventionen übergehen und sich munter durch die Gegend"spexen"- und diablerieren. Ist ja auch legitim. Aber dazu muss man eben einen gehörigen Anteil von Setting und System ignorieren.