Was mich aber irritiert und was ich nicht verstehe ist, dass es sich für mich so anhört, als wäre der Charakter "statisch".
Er hat keine Handlungsoptionen und reagiert auch nicht auf seine Umwelt.
Das ist ein Missverständnis. Wenn es noch da ist, lohnt es sich, weiter darüber zu sprechen. Ich bin übrigens nicht sauer.
Fangen wir mit dem an, worüber wir uns einig sind. Der Charakter ist natürlich nie unabhängig vom Spieler, aber Kraft der ihm verliehenen Eigenschaften besitzt er auch Eigenständigkeit. Der Spielereinfluss sitzt am längeren Hebel und kann potentiell die Eigenständigkeit des Charakters beliebig umändern. Genau darauf möchte der Charakterdarsteller jedoch verzichten. Er betont die Eigenständigkeit des Charakters und zieht seinen Spielspaß dadurch, sich in ihrem Rahmen zu bewegen und diesen Rahmen der Charaktereigenständigkeit nicht zu durchbrechen (ungeachtet der Möglichkeiten, die er dazu hätte).
Wenn ich dich richtig verstehe, wirkt der Filter der Charaktereigenständigkeit auf dich statisch. Durch diesen Filter presst der Charakterdarsteller seine kreative Energie. Das schränkt in der Tat den Handlungsspielraum des Spielers stark ein. Die Frage ist, ob diese Einschränkung so weit geht, dass der Charakter dadurch statisch wird und nicht mehr auf seine Umwelt reagieren kann. (Ich meine mit Charakterumwelt die Spielwelt, in die er eingebettet ist. Man könnte damit auch die Ebene der Spielgruppe meinen.)
Grundsätzlich ist das nicht der Fall. Der Charakter ist selbstverständlich flexibel und kann aus verschiedenen Handlungsoptionen wählen.
Unter welchen Bedingungen kann der Eindruck entstehen, dass das nicht der Fall ist? Wann wirkt ein Charakter statisch? Mir fallen verschiedene Möglichkeiten ein.
a) Der Spieler verteidigt die
Handlung des Charakters, statt seiner
Eigenschaften. Der Charakter ist so lange flexibel, wie man seine Eigenschaften festlegt. Sobald man bestimmte Handlungen als charakterbestimmend festlegt, geht die Flexibilität verloren. Beispiel: Der Charakter soll machtgierig sein. Das ist eine Eigenschaft. Sie bietet eine Fülle an Handlungsoptionen, die dazu in Abhängigkeit von der Umweltsituation variieren. Gegenüber Unterlegenen kann der Charakter seine Machtgier offensiv ausleben. Gegenüber Überlegenen Gegnern wird er sich zurückhalten, weil sie ihn komplett vernichten würden. Machtgier als Eigenschaft erlaubt also sogar gegensätzliche Handlungen - buckeln genauso wie treten - je nachdem, mit wem der Charakter es zu tun hat. Außerdem ist Machtgier nicht auf ein bestimmtes Mittel, z.B. Gewalt, angewiesen, sondern kann auch durch Intrigieren, Netzwerken, cleveres Kooperieren und sonstige Maßnahmen getragen werden. Diese Flexibilität geht verloren, wenn man den Charakter über eine spezifische Handlung definiert: "Tritt jeden in den Arsch, der sich ihm quer stellt". So ist nun keine Unterscheidung mehr zwischen verschiedenen Gegnern möglich. Der Charakter tritt den König genauso wie den Bettler, ungeachtet der unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Konsequenzen. Es steht ihm auch nicht mehr frei, sich anderer Mittel als der Gewalt zu bedienen.
b) Die Schuld liegt bei den Mitspielern: Sie bewerten die Handlungsfreiheit der Charaktere mit einem anderen Bezugssystem als der Charakterdarsteller, und können diesen daher nicht verstehen. Beispiel: Die Gruppe hat eine Burg von Bösewichten befreit. Der Baron, der die Burg ehemals besessen hat, nun aber in stark geschwächter Position da steht, bietet der Gruppe einen Auftrag an. Sie sollen noch einen Außenposten ebenfalls stürmen und von Räubern befreien. Unser machtgieriger Charakter hat also die Möglichkeiten, die Burg für sich zu beanspruchen und als Burgherr seine Position auszubauen, oder sich in den Dienst des eigentlich schwächeren Barons zu stellen und weiter Auftragsarbeit zu leisten. In dieser Situation ist nicht besonders einsichtig, warum der machtgierige Charakter sich die herrliche Chance entgehen lassen soll, Burgherr zu werden. Es passt zu seiner Eigenschaft. Die alternative Option passt nicht dazu. Die Mitspieler drängen unseren Charakterdarsteller aber zur zweiten Option, aus welchen Gründen auch immer. Sie könnte besser zum Storyverlauf passen. Vielleicht mögen die Mitspieler aber einfach das rastlose Umherziehen des Tricksterspiels und wollen sich auf eine Alternative nicht einlassen. Jedenfalls werfen sie dem Charakterdarsteller Sturköpfigkeit vor, und seinem Charakter mangelnde Flexibilität, weil der unbedingt die Burg für sich einnehmen will.
Die Sturheit kann durchaus auf beiden Seiten liegen. Wir können konstatieren, dass konsequente Charakterdarstellung die Handlungsoptionen der dargestellten Figur deutlich reduziert, aber keinesfalls auf einen Wert von 1, also zu einer einzigen Handlungsmöglichkeit, zu der es keine Wahl gäbe. Gerade die Umweltbedingungen der Spielwelt können jedoch dazu führen, dass die grundsätzlich flexible Eigenschaft der Figur in einer speziellen Situation nur eine logische Handlungsoption zulässt.
Fingerspitzengefühl ist von allen Beteiligten gefragt. Der Charakterdarsteller sollte zusehen, dass seine Eigenschaften flexibel genug sind, um ihn nicht zu sehr einzuschränken. Die Mitspieler sollten zusehen, dass sie den Charakterdarsteller nicht sehenden Auges in die Sackgasse treiben, in der situationsbedingt nur eine einzige figurgerechte Handlungsoption übrig bleibt. Sie kennen schließlich die Eigenschaften seiner Figur und können daher voraussehen, in welcher Situation die Figur Wahlmöglichkeiten hat und wo sie wirklich nicht mehr gegeben sind.
Dazu ein Beispiel aus der eigenen Erfahrung: Als Charakterdarsteller hatte ich einen gefallen Ritter auf der Suche nach Ruhm. Er war jedem Abenteuer aufgeschlossen, solange die Moral nicht allzusehr unter die Räder geriet. Seine moralischen Ansprüche waren als Aspekte verankert, also für alle Mitspieler deutlich sichtbar. Außerdem appelierte er in sehr vielen Konflikten an die Ehre des Gegners. Der Moralkodex drückte sich nicht nur auf dem Papier, sondern auch im Verhalten aus. Die Gruppe profitierte auch mehrfach von dieser Eigenschaft. Aber dann setzten sich die anderen in den Kopf, ein Buch zu stehlen. Das wollten sie vor dem Ritter verheimlichen, weil sie wussten, dass er nicht mitmacht. Als der Diebstahl aufflog, hat der Ritter noch alles in die Wege geleitet, um das Problem für alle Seiten zufriedenstellend zu lösen. Die Gruppe kann das Buch in Ruhe studieren, der Bibliothekar bekommt es anschließend zurück. Der Moral wäre auch genüge getan. Aber nein, das Buch musste unbedingt gestohlen werden, der Kompromiss wurde abgelehnt. In der Konsequenz musste der Ritter aus der Gruppe scheiden. Was bleibt dem Charakterdarsteller übrig, wenn die Mitspieler die vorher akzeptierten Figureigenschaften konsequent ignorieren und auch Lösungskompromisse ablehnen? Wer bei solcherart Konflikten die Sturheit dem Charakterdarsteller zuschiebt, macht es sich zu einfach.
Manche Spielstile passen nicht gut zusammen, das wissen wir. Gänzlich unverträglich sind sie deshalb nicht, wenn alle Beteiligten aufeinander Rücksicht nehmen. Die Unfähigkeit zur Rücksichtnahme ist keine Sache des Spielstils, sondern eine Sache der Spielerpersönlichkeit.