Oder: Ein Plädoyer für die Freiheit
Oder: Beugt euch nicht länger dem unzulänglichen Rechenkünsten, sondern geht den Weg miteinander.
Balancing. Dieses Wort taucht immer wieder auf, wenn es um's Thema RP geht. Ein Großteil der Designer bemüht sich darum. Viele Spieler wünschen es sich. Der Versuch wird regelmäßig unternehmen, das Thema im theoretischer Betrachtung zu erfassen und zu bewerten.
Im Folgenden gebe ich meine ganz persönliche Meinung zu dem Thema kund und bin mir beinahe sicher, dass ich mich damit ziemlich in die Nesseln setze. Ich wage den Versuch trotzdem, euch dafür zu begeistern, "Balancing" über Bord zu werfen, diese Geisel der RP-Spielerschaft einfach zu ignorieren und ganz befreit ohne Zwänge seitens des Balancing unser gemeinsames Hobby zu genießen.
Für die Theorie-Fraktion: Ich habe keine Quellen neben persönlicher Erfahrung und ein bisschen Herumlesen von einigen Büchern und digitalen Medieninhalten. Ich habe keine Untersuchungen angestellt. Ich habe keine Statistiken. Ich habe keinen Akademischen Grad in Spieltheorie (sonst schon, falls das die Voraussetzung wäre, mich überhaupt ernst nehmen zu können - wenigstens damit kann ich dienen).
Im Folgenden beziehe ich mich auf das, was ich als "mechanisches Balancing" bezeichne, sprich alles was in "Werten" im System verankert ist.
Das "soziale Balancing" in der Mikrogesellschaft einer Rollenspielrunde, lasse ich außen vor.
(Darüber hinaus soll es in erster Linie um klassischeres Rollenspiel mit einer Person am Tisch mit der Sonderfunktion SL gehen - wieder ne Info für die Theoretikerfraktion.)
Es geht los.
Balancing. Da ist der Begriff schon wieder. Beinahe alle RP'ler sind sich einig, das Ding braucht man, sonst ist "Alles doof, außer Mutti".
Ich erdreiste mich zu fragen, warum.
Wir brauchen Balancing, damit SL und Spieler abschätzen können, ob ein "Encounter" passt oder nicht. Wir brauchen Balancing, damit die Spieler herausfordernde "Encounter" mit ihren SC durchleben können, oder?
Nein. Der SL kann ganz unabhängig von irgendwelchen "balancierten" Spielmechanismen spannende und herausfordernde Spielszenen erschaffen.
Nein. Je nachdem wie die Gruppe spielt, kann es da verschiedene Ansätze geben. Bei meinem persönlichen "Feind" Pathfinder kann es ja passieren, dass die Gruppe regeltreu spielen will. Für "Balancing" gibt es so Mechanismen wie Point-Buy, Wealth-by-Level oder Class-Level. Hilft gar nix.
Wir nehmen an, der DM will's "spannend" machen. Also den Ausgang des Kampfes ungewiss lassen. Der Einfachheit halber sagen wir, er kalkuliert mit einem Ausgang von 50/50. Er macht alles richtig. Passt den Encounter an genau seine Gruppe an. Arbeitet nicht mit fiesen Tricks. Worauf läuft es also hinaus, wenn die Gruppe sich einig ist, "beschissen" wird nicht, also der SL verbiegt keine Würfelergebnisse? Es läuft auf einen Wurf mit W2 hinaus. 50/50 heißt, in 50% der Fälle verliert die Gruppe. Das tolle Abenteuer ist vorbei. Die wenigsten Gruppen wollen genau das erreichen.
Viele Spieler hatten mit Sicherheit (zumindest hoffe ich das) bereits etliche Erfahrungen gemacht, in denen nicht die Spielmechanismen dafür entscheidend waren, dass am Spieltisch Spannung aufkam. Und vielleicht hatte der ein oder andere Spieler schon einmal ein spannendes Erlebnis, obwohl sein Charakter eigentlich "keine Chance" hatte (weil z.B. die "richtigen" Skills nicht vorhanden waren).
Für mich folgt daraus: Der SL und die Spieler sind gemeinsam gefordert, die Spannung zu erzeugen.
Ok, ja, stimmt.
Aber wir brauchen doch Balancing, damit die Spieler nicht untereinander benachteiligt werden, oder?
Nein. Spieler werden immer benachteiligt oder bevorzugt. Zumindest besteht immer die Gefahr, dass der einzelne Spieler in seiner ganz persönlichen Erlebniswelt das so wahrnimmt. Wir betreiben keine Buchhaltung, wir gehen einem gemeinsamen Hobby nach in einem dynamischen Mikrosozialgefüge. Gruppendynamik könnte man auch sagen.
Es mag vielleicht Spieler geben, die sind schon genervt, wenn sie das Opfer eines "Kill-Steals" werden - sie haben den määäächtigen Krieger gebaut und jetzt kommt der Popel-Noob ums Eck und klopft die letzten beiden HP aus dem Monster. Fies, oder? Ja, für diesen Spieler erscheint es vielleicht tatsächlich fies. Liegt aber nicht am Balancing.
Der andere Spieler ist angeödet, weil er neben seiner Mighty Poweraxe of Doom keine Punkte mehr für soziale Skills hatte. Und jetzt wird den ganzen Abend schon der Empfang bei Hofe ausgespielt. Fies. Ja, vielleicht. Liegt aber wieder nicht am Balancing.
Diese "Gerechtigkeit", oder die Wahrnehmung von Gerechtigkeit, ist von unzähligen situativen und individuellen Faktoren abhängig und kann daher kaum über ein mechanisches System abgebildet werden. Es geht um weiche, soziale, psychologische Faktoren.
Für mich folgt daraus: Die Gruppe insgesamt sollte sich im Miteinander am Spieltisch einfach darum bemühen, jedem Mitspieler gerecht zu werden, ihm seinen Freiraum zu lassen und seinen Spaß zu gönnen.
Ich gehe davon aus, dass ich mit meinem Appell einen schweren Stand haben werde.
Trotzdem bitte ich euch: Ignoriert in Zukunft "Balancing". Darum geht es nicht. Es geht darum, gemeinsam am Tisch eine schöne Zeit zu haben. Ganz nach persönlichem Geschmack kann das heißen, möglichst viel zu würfeln, möglichst viele Anekdoten zu erleben, möglichst viel Stimmung zu erzeugen. Aber all das hat mit irgendwelchen Werten auf einem Zettel Papier nichts bis sehr wenig zu tun.
Spielt frei und unbeschwert und kümmert euch nicht ums "Balancing" - das gibt es nämlich gar nicht.