Eine interessante Frage!
Ich muss zugeben, dass ich eher Leser als Verfasser von literarischen Texten bin, und meine Antworten deshalb vermutlich auf praktischer Ebene unbefriedigend bleiben.
Die Frage, was Atmosphäre denn nun eigentlich ist, klammere ich übrigens erst einmal total aus - das wäre ja nochmal ein Riesenthema für sich. Vielleicht sollte man das tatsächlich definieren, um vernünftig diskutieren zu können, aber für den Augenblick genügt mir ein intuitiver Begriff von dem, was man bei Erzählungen "Atmosphäre" nennt.
Ich denke, man sollte nicht versuchen, "Atmosphäre" künstlich herzustellen. Jede Form von Atmosphäre sollte sich ungezwungen aus der Fiktion der Szene ableiten. Sobald der Autor beim Lesen des Manuskriptes einen "Mangel an Atmosphäre" feststellt, sollte er die Szene AN SICH überprüfen - auf Wichtigkeit, Plotvernetzung, Spannung etc. - und diese bei Bedarf lieber Streichen, als sie mit der Anfütterung durch vermeintliche Atmosphäre retten zu wollen, welche meistens nur die Lektüre klebrig und zäh macht.
Ähnlich wie der sogenannte "eigene Stil" ist Atmosphäre nichts, was ein Autor nachträglich in seine Geschichte hineintragen sollte. Das Ergebnis wirkt dann oft unbeholfen, aufgebläht, sogar unfreiwillig komisch.
Eine Szene, die vielen Lesern vom Herrn der Ringe eindringlich im Gedächtnis geblieben ist, ist der Versuch der Gefährten, durch das Westtor nach Moria zu gelangen. Die atmosphärischen Beschreibungen und geschichtlichen Andeutungen sind so knapp wie nur möglich ausgefallen, der Zauber, der von der Erzählung ausgeht, geht ganz aus dem Aufbau der Narration hervor.
Dieses Kunststück gelingt Tolkien nicht immer. Viele Leser beschweren sich über endlose Landschaftsbeschreibungen - nicht, weil diese stilistisch schlecht verfasst wären, sondern weil sie in keinem erkennbaren Bezug zur jeweiligen Etappe der Handlung stehen.
Autoren wie Anne Rice missbrauchen regelmäßig ihr eigenes Personal, um Atmosphäre zu schaffen. Da werden Kerzen aufgestellt, Duftessenzen verbreitet, ein Bad eingelassen - als ob das mein erster Reflex wäre, wenn ich einem waschechten Knochengeist begegne!
Man vergleiche diese gezwungen wirkende Strategie mit der kunstvollen Form der Verführung, die Thomas Mann in "Wälsungenblut" am Leser vollzieht, indem die gesamte Erzählwelt mit den Parfümen und Stoffen ausgestattet ist, die das Personal von Anne Rice erst umständlich herantragen und aufstellen muss.
Atmosphäre in Form von Requisiten heranzukarren, scheint mir ein weiterer beliebter Fehler zu sein. Ein Bösewicht, der die Totenschädel erst selber aufstellen muss, wirkt leicht lächerlich; eine Stätte, die an sich voller Gebeine ist, erzeugt auf eine weniger gezierte Art die passende Atmosphäre.
Störend finde ich atmosphärische Beschreibungen, wenn sie dem Genre der Erzählung widersprechen. Das jüngste Beispiel hierfür ist für mich "Das erste Horn" von Richard Schwartz, worin der Autor zahlreiche Stilbrüche begeht, um das unterzubringen, was er für "atmosphärisch" hält.
So soll der Held des Abenteuers vom Krieg gezeichnet sein, und es fehlt nicht an Rückschauen und inneren Monologen, die den Krieg als erschütternde, traumatische Erfahrung darstellen - überhöht durch die Eigenschaft des Helden, nicht sterben zu können.
Unvermittelt aber wünscht sich derselbe Mensch - angesichts von Weibergezänk, wenn ich mich recht erinnere - wieder in eine echte Schlacht zurück, da diese "einfacher" sei. Vermittels dieser flapsigen und herrenwitzigen Bemerkung werden die bemühten Versuche, dem altgedienten, ausgelaugten Krieger Charakter abzutrotzen, mit einem Schlag desavouiert.
Überhaupt macht die Dialogführung wie auch die Beschreibung des Personals klar, dass wir es mit einem Pulp-Abenteuer zu tun haben - jählings aber wird die Erzählung durch eine pseudopoetische Passage unterbrochen, worin Schnee und vereiste Gebäudeteile beschrieben würden, als hätten wir uns in die Welt von "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" verirrt.
Atmosphärische Beschreibungen müssen also immer zur Gesamtanlage der Erzählung passen, und dürfen nicht wahllos zusammengestoppelt werden. Gerade der Impuls, durch eine besonders raffiniert verfasste Landschaftsbeschreibung oder dramatische Seelenschau "Anspruch" in ein ansonsten bloß unterhaltsames Werk hineinzuschaufeln, ist unbedingt zu unterdrücken.
Man sollte zu seiner Geschichte stehen und diese nicht durch gekünstelte E-Literatur-Anleihen zu pimpen versuchen. Wenn ein Charakter nicht interessant ist und nicht auf interessante Weise in die Handlung eingebunden ist, helfen auch theatralische Rückblenden und afterphilosophische Reflexionen nichts.
Oftmals wichtiger, als eine Atmosphäre zu schaffen, ist das Kunststück, sie nicht zu brechen. Ein falsches Wort - das zum Beispiel nicht in die Zeit der Erzählung passt - kann ein Leseerlebnis derart nachhaltig ruinieren, dass man gar nicht genug Beschreibungen aufhäufen kann, um diesen Lapsus wieder gerade zu bügeln.
Dazu gehört für mich eine gewisse Zurückhaltung bei Adjektiven und Adverbien, deren strotzender Gebrauch oftmals Atmosphäre erzeugen soll, dem Leser aber nur klarmacht, dass hinter der Erzählung ein Erzähler schwitzt. In den allermeisten empfiehlt es sich nach wie vor, dass der Autor nicht auf seine anstrengende Arbeit aufmerksam macht - jede Mühseligkeit gilt es zu verschleiern.
Natürlich haben unterschiedliche Leser auch unterschiedliche Auffassungen und Toleranzgrenzen, was Atmosphäre und ihre Erzeugung anlangt. Ich erinnere mich an den Essay eines italienischen Literaturwissenschaftlers, der Lovecraft gegen den Vorwurf in Schutz nahm, auf billige Weise eine gruselige Stimmung erzielen zu wollen. Das Aneinanderreihen von Schlagwörtern "ekelhaft, widerlich, faulig, verrottet, verdorben, bizarr, entsetzlich" sei schlechter Stil und bewirke beim Leser das Gegenteil - so die Kritik. Der Essayist hingegen meinte, dass Lovecraft ganz bewusst eine Wortmagie in Stellung bringe, die durch das hypnotische Wiederholen der immerselben Begriffe des Grauens gerade ihre besondere Wirkung entfalte.
Daran angrenzend ist das weite Feld des "Kitsch". Während Nabokov selber über nichts lieber wetterte als über den "poschlost" anderer Autoren, wird er wiederum von Michael Maar dafür geziehen, eine verhängnisvolle Schwäche für Zirkus und Zuckerwatte zu besitzen - für einen Gaukler- und Artistenkitsch also, der durch seine Süßlichkeit vielen Erzählungen Nabokovs die Stringenz nehme.
Zusammenfassend würde ich sagen, dass Atmosphäre immer aus der Erzählung heraus entwickelt werden sollte. Wenn man glaubt, eine Szene durch eine Atmosphärenbeschreibung aufwerten oder gar retten zu müssen, sollte man lieber die Prämisse der Szene selber hinterfragen und sie zur Not ganz streichen.
Man sollte sich bewusst sein, welche Art von Literatur man verfassen will, und diesem Grundsatz treu bleiben.
Dann entsteht die Atmosphäre, die man erzielen möchte, oft ganz von selbst.