D&D 4e hat gleich zu Anfang viel Potential verspielt, weil die ersten Produkte qualitativ nicht überragend waren:
- Wenig inspirierende "Core Books" mit insgesamt weniger Inhalt als die D&D-3.x-Gegenstücke
- Kaufabenteuer mit einer unglücklichen Mischung aus Standardkost und innovativen Elementen
- Erstaunlich schlechte Abstimmung mit den hauseigenen Miniaturen- und Dungeon-Tiles-Linien
Wenn man nur den Stand von Mitte/Ende 2008 betrachtet, auf dem die deutsche Ausgabe ja hängengeblieben ist, kann ich manche harsche Kritik an dem System schon verstehen. Leider sind aber auch die viele der selbsternannten Kritiker auf diesem Stand stehengeblieben - wenn sie sich überhaupt eingehend mit der Edition beschäftigt haben. Das hält sie aber natürlich trotzdem nicht davon ab, Vergleiche mit D&D 3.5 und Pathfinder anzustellen, ganz so, als hätte es von D&D 3.x keine Version 3.0 gegeben - 3 Jahre vor der Überarbeitung mit D&D 3.5. Während diese "Kritiker" (ich setze das mal bewusst in Anführungszeichen) dem von ihnen favorisierten System also etliche Jahre Reifezeit in Form von Erfahrungen aus dem echten Spielbetrieb zugestehen, lassen sie das gleiche für D&D 4e nicht gelten. Das ist schon konsequent.
Aus Sammelwut habe ich mir nebenbei fast alle deutschsprachigen D&D-3.5-Bücher besorgt und wollte das System demnächst mal meistern (schon um meine Investitionen zu rechtfertigen
). Beim Einlesen fiel mir schnell auf, wie umständlich, unlogisch und uninspirierend erhebliche Teile des Systems sind. Ein gutes Beispiel dafür sind die detaillierten Fertigkeiten- und Talent-Anforderungen für die meisten Prestige-Klassen, die unterschwellig eigentlich nur eine Botschaft transportieren: "Überlege dir am besten schon vor Spielbeginn, was aus deinem Charakter einmal werden wird, und lass es sich ja nicht aus dem Rollenspiel heraus entwickeln". Oh, und was machen die wichtigsten Prestige-Klassen bitte im Spielleiter-Handbuch? Hat was von Giftschrank.
Aus meiner Sicht ist das Hauptproblem von D&D 4e, das einige der besten Produkte zu spät herausgekommen sind und dadurch nicht die Beachtung erfahren haben, die sie verdient gehabt hätten. Ich schätze, es war auch etwas viel verlangt von den Spielern, sich schon nach 2 Jahren die Grundregelwerke neu zu kaufen und die bis dahin erschienenen Splat Books in die Ecke zu stellen.
Die gesamte D&D-Essentials-Linie fühlt sich für mich jedoch sehr nach D&D an, manchmal vielleicht etwas mehr nach AD&D als nach D&D 3.5, aber das muss ja nichts Schlechtes sein. Ein gutes Beispiel dafür ist die D&D Essentials Red Box, das mit Abstand beste D&D-Starter-Set, das ich bislang gesehen habe. Es könnte noch etwas umfangreicher sein, aber es war jeden Cent der ca. 15 Euro, die ich dafür bezahlt habe, wert. Das beiliegende Abenteuerheft erzeugt für mich genau das typische D&D-Feeling, das einige der 4th Edition so gerne absprechen. Das Abenteuer ist in gewisser Weise ein klassischer Dungeon Crawl, enthält aber auch einige nichtlineare und rollenspielfördernde Elemente, z. B. den Seitenwechsel eines Monsters, der zur Moralfrage für die Gruppe werden kann. Der Dungeon ist zwar nicht spektakulär, aber - anders als in der Pathfinder-Einsteigereinsteigerbox - keine krude Ansammlung von parcourartigen Spielelementen, sondern aus einem Guss. Mit Hilfe der Erweiterungen, die Wizards of the Coast für das Abenteuer im Laufe der Zeit herausgebracht hat, kann man daraus sogar eine kleine Kampagne machen.
Auch bei den Essentials-Spielerbüchern "Heroes of the Fallen Lands" und "Heroes of the Forgotten Kingdoms" kann ich nicht erkennen, was daran nicht D&D sein soll. Klar gibt es immer noch Kräfte statt Zauber und einige andere Besonderheiten. Aber es ist längst nicht mehr so ein Power-Gamer-Baukasten wie noch das erste Player's Handbook. Ich habe erst heute morgen wieder im 3.5er-"Buch des Krieges" (aka "Complete Warrior") gelesen, einem der "Must Have"-Bücher für D&D 3.5, wie man oft im Netz lesen kann. Es mag kein ganz fairer Vergleich sein, aber wenn man diese lieblose Aneinanderreihung von D&D-3.5-Regelbrocken mit ihren Comic-Stil-Bildchen einfach mal neben die liebevoll gestalteten, von fantastischen Ideen regelrecht überquellenden "Heroes of the Feywild" legt, kann mir keiner mehr erzählen, dass in D&D 3.5 mehr Rollenspiel drinsteckt als in D&D 4e.