Ursula K. LeGuins Erdsee-Zyklus ist eine Fantasy-Jugendbuch-Serie. Die ersten drei Bände sind wirklich empfehlenswert. Im weiteren Sinne sind es Entwicklungsromane. Es geht um junge Menschen, die in LeGuins Fantasy-Setting versuchen müssen, ihren Weg zu finden. Auch das Magie-System ist ganz interessant: Es basiert auf einer Art Namensmagie. Wenn du den wahren Namen von irgendeinem Wesen oder sogar irgendeinem Objekt, etc. was-auch-immer kennst, hast du als Zauberer Macht darüber. Deshalb lernen Zauberer während ihrer Ausbildung Unmengen an Namen.
Ich muss gestehen, dass meine Erinnerung an die Romane nicht mehr ganz so frisch sind, trotzdem habe ich mich ziemlich über die Nennung von LeGuins Erdsee-Zyklus gewundert, als ich Archipelago gelesen habe. Zunächst einmal setzt das System in meinen Augen eigentlich keine signifikante Besonderheit der Romane um. Es ist ziemlich universal.
Ich zitiere hier mal den einschlägigsten Abschnitt aus der Einleitung der Archipelago-Regeln:
I wrote this game trying to capture the feeling of Ursula K. LeGuin´s Earthsea books. I wanted a game of grand destinies, that at the same time had time to dwell on the details of plants, words, everyday lives. I wanted a game that was about great conflicts, but at the same time treated its characters´ stories with respect. I wanted not a steel framework, but a spider web of thin threads creating subtler stories.
This game works best if you play it slow. Sometimes, the best thing to do is wait a little and see how things unfold. Ged stayed with Ogion for years, learning about the old language, the names of flower petals and bugs. There´s time to let the characters evolve.
Breathe in. Breathe out. Take your time.
Ich finde, es geht hier einiges durcheinander: Ja, die Erdsee-Bücher sind keine Action-Reißer und entfalten ihre Handlung nur zögerlich. Das ist die vorherrschende Erzählhaltung. Inhaltlich geht es zwar auch um relativ lange Zeitspannen. Allerdings gibt es durchaus herkömnmliche Zeitraffer. Für Geds Lehrzeit bei Ogion werden - wenn ich mich recht entsinne - jetzt nicht unbedingt Unmengen von Seiten benötigt, weil die Lehrzeit ja auch lang ist. Hier wird völlig konventionell Zeit gerafft um die Erzählung nicht langweilig werden zu lassen.
Was Archipelago an Regeln zu bieten hat, hat 1of3 schon ganz gut auf den Punkt gebracht. Vielleicht sollte man noch dazu sagen, dass das alles ist. Es gibt die Schlüsselwörter (Handlungsziele, auf die die einzelnen Charaktere hin gespielt werden sollen, sie werden von den Mitspielern bestimmt), die Itras By Karten (ich habe gelesen, dass Archipelago hier übrigens das Vorbild ist, Itras By verwendet also Archipelago-Karten, nicht anders herum) und den Spielern werden Setting-Elemente zugeordnet, über die sie die Verfügungsgewalt bekommen. Abgesehen davon gibt es ein paar ganz rudimentäre Sätze, mit denen man als Mitspieler die Erzählung eines Spielers, dessen Charakter gerade sein Spotlight hat, mitgestalten kann (Zum Beispiel, indem man seinen Mitspieler auffordert: "Versuche das auf andere Art und Weise", oder "Beschreibe das im Detail", oder "Das könnte schwieriger sein"). Das war´s.
Mit so einem System kann man sicherlich Geschichten im Stil der Erdseeromane erzählen. Ich sehe aber keinen Grund dafür, warum das mit anderen Arten von Geschichten weniger gut funktionieren sollte. Am ehesten lässt sich ein Bezug zwischen System und Romanen herstellen, wenn man über das Erzähltempo spricht. So allmählich, wie in LeGuins Romanen Handlung entfaltet wird, so ist das wohl auch bei Archipelago gedacht. Allerdings findet sich in den Regeln auch folgende Anweisung: "Avoid big time jumps. In a game like this, the characters´ stories can easily get interwoven. If you then suddenly decide your next scene should take place ten years later, it can be hard for the other players to match their stories to yours." Die geht sicherlich über LeGuins Schreiben hinaus. LeGuin benutzt, trotz ihrer behutsamen Art des Erzählens, durchaus Zeitsprünge um handlungsarme Zeitphasen überspringen zu können. Das ist auch ganz normal, denke ich.
Archipelago ist das erwachsenste System, was ich kenne. Es hat dieselbe nahezu vollkommene Erzählfreiheit wie Itras By, es gibt aber keinen koordinierenden Spielleiter und darüber hinaus wird auch noch davon ausgegangen, dass sich die Gruppe gemeinsam ihr Setting und ihre Charaktere selbermacht. Das ist sehr viel Arbeit, erfordert Spieler, die sich hineinknien und im Spiel selbst dann geschickte Erzähler sind... sonst wird es sehr, sehr schnell öde.
Ein Spiel, für die Runde, bei der alles stimmt. Wenn das gegeben ist, schlägt aber seine Stunde!
Chiarina.