Klassenlos kann man diese problemlos brechen: Dort kann man auch einen Magier von einer Akademie spielen, der nicht aus Büchern zaubert und sich in Tiere verwandeln kann. Dort kann man waffenlose Nahkämpfer spielen, die nicht im Kloster großgeworden sind.
Du gehst doch in diesem Beispiel selbst schon wieder von Klassen aus, nur halt getweakt. Ein Magier ist doch in den meisten Spielsystemen nicht nur ein Settingelement, sondern auch ein bestimmtes Paket aufeinander bezogener Fähigkeiten. Gerade, wenn es nur darum geht, den Hintergrund anzupassen, legen die meisten Klassensysteme, bei denen die Klassen eher Nischenschutz und Kompetenzverteilung dienen, einem doch keine Steine in den Weg. Ich frage mich wirklich, von was für Systemen du ausgehst, bei denen die Klassen tatsächlich so eng gefasst sind, dass ein waffenloser Nahkämpfer im Kloster aufgewachsen ist (nur weil er auf Regelebene "Mönch" heißt, muss er doch nicht im Setting ein Mönch sein).
Für mich klingt das, als wenn du davon ausgehst, dass man sich sklavisch an die Fluff-Elemente der Regelwerke halten muss. Die kannst du aber auch genauso als Anregung verstehen. Dann kaufst du dir mit der Klasse weniger eine In-Game-Rolle im Sinne der Figur, die du darstellst, und mehr eine Reihe aufeinander abgestimmter Spielmechaniken. Wie genau du das jetzt mit der Vorstellung von deinem Charakter zusammenbringst - ob er seine Nahkampffertigkeiten in einem Kloster gelernt hat oder in der Gosse oder bei einem Geheimdienst, ob er Schmetterlinge hasst oder Spinnen liebt, zu welchen Göttern er betet - kannst du doch in sehr vielen Klassensystemen frei entscheiden. Nur, wenn extrem kleinteilige Regeln und eine sehr enge Abstimmung von Spielwelt und Klassen vorliegen (Beispiel DSA), dann bekommst du da vielleicht echt Probleme, weil so viel der Settingvorgaben sich direkt in dem Klassenpaket wiederfinden und du halt, wenn du nicht aufwendig tweakst, darauf festgelegt bist, als Magier über eine akademische Bildung zu verfügen und krankhaft neugierig zu sein (wobei die Klassen hier ja eigentlich meistens noch deutlich enger definiert sind, als die Settingvorgaben es fordern würden).
Ich kann nur wieder mit den Beispielen meiner in letzten Zeit aktiven Systeme kommen, die alle Klassensysteme sind: Ars Magica zum Beispiel, da hast du ein eigentlich enorm starres Klassengerüst, in dem die Rollen von Magus, Gefährte und Grog in ihrer Spielrelevanz ganz klar festgelegt sind. Trotzdem kann ich mir in diesem Gerüst absolut eigenwillige Figuren bauen - ein Magus kann ein Säufer sein oder ein Asket, ein Wildnis- oder Zivilisationstyp, jähzornig oder gemütlich. Ein Gefährte kann alles vom Feenkind bis zum ruppigen Söldner sein. Oder halt Numenera, wo ich zwar in der Fähigkeitenentwicklung durch die drei Grundklassen ziemlich festgelegt bin, aber die Ausinterpretation der Fähigkeiten so frei ist (der klassische Schadenszauber kann halt alles vom Feuerball über die Psikraft bis hin zur Manipulation der Moleküle des Ziels sein), dass ich fast jeden beliebigen Background mit jeder beliebigen Klasse verbinden kann.
Oder nochmal Ashen Stars: Wenn ich da Klassenpakete wie "Pilot" auswähle, legt das meinen Charakter ganz genau darauf fest, dass er derjenige ist, der das Raumschiff steuert und die dazugehörige Peripherie beherrscht. Wenn ich genau das will, dann ist so ein Klassenpaket eine Vereinfachung. (Und nein, als Spieler würde ich mir nicht unbedingt die Raumkampfregeln vor dem Spiel durchlesen - ich bin SL, deshalb habe ich mir alle Regeln durchgelesen, aber meine Spieler waren froh, einfach Pakete wählen zu können und sich im Laufe der Kampagne nach und nach mit den Regeln vertraut zu machen. Durch die Pakete wussten sie, dass sie insgesamt alle Fähigkeiten unter ihren Charakteren verteilt haben, die sie brauchen, um einen Raumkampf zu überstehen.)
Der Steuerberater, der als Hobby Bergsteigen oder Karate hat.
Der Student, der sich zu Hause um seine drei kleineren Geschwister kümmern muss und deswegen gar nicht richtig zum studieren und/oder feiern kommt.
Der Akademiker, der seinen Titel nur durch Bestechung bekommen hat.
Der Arbeitslose, der dank Lotto-Spielen Millionär geworden war und deswegen seinen Job gekündigt hat.
Der Selbstständige, der sich ein eigenes Grundstück gekauft hat und dort halb-autark mittels Subsistenzwirtschaft lebt.
Ich habe kein Problem damit, dass man sich mit der Sache vorstellt, die einem hauptsächlich prägt. Ich habe halt eher ein Problem damit, dass diese Sache dann auch den ganzen Rest von dir bestimmen soll.
Da würde ich mich einmal mehr fragen: Von was für Systemen sprichst du, in denen durch die Klasse
alles über die Figur festgelegt ist? Das einzige System in dieser Richtung, das mir einfällt, ist DSA4 mit seinen Professionen. Selbst da ist es nicht so krass. Wenn ich einen Akademiker spielen will, der gar keine akademische Bildung hat, dann wähle ich halt nicht die Charakterklasse "Akademiker", sondern die Charakterklasse "Herumtreiber" oder "Trickbetrüger" oder "Otto Normal" und lege fest, dass er einen akademischen Titel und ordentlich Schotter hat.
Wenn man sich natürlich darauf versteift, dass der, der InGame Akademiker ist, auch das Paket namens "Akademiker" wählen muss, dann macht man es sich schwer. Aber dazu gibt es in den allermeisten Systemen überhaupt keinen Grund.