Die meisten historischen Hintergründe sind nicht statisch, selbst wenn man sie zeitlich/regional stärker spezifiziert als es in den meisten Settings der Fall ist.
Um mal beim Beispiel zu bleiben: Das 19. Jahrhundert dauerte 100 Jahre. Das sind drei bis vier Generationen von Männern, die an sehr vielen Orten und in sehr vielen sozialen Schichten sehr unterschiedliche Auffassungen darüber hatten, was beispielsweise eine Frau darf und was nicht. Es sind aber hauptsächlich drei bis vier Generationen von Frauen, die sich in bestimmte Rollen eingefügt oder genau das eben nicht getan haben und durch eine Vielzahl an Umständen damit Erfolg haben konnten.
Wenn ich nun das Setting enger definiere, also beispielsweise das Jahr 1870 in London ansetze, fällt manchen HistorikerInnen vermutlich der (erste) Married Women's Property Act ein - ein Gesetz, das eine gesellschaftliche Absurdität beendete, nämlich die, dass jegliches Eigentum einer verheirateten Frau, egal ob nun bereits vor der Ehe bestehend oder während der Ehe erworben, automatisch in das Eigentum des Ehemannes überging und nach dessen Tod sogar in sein Erbe.
Interessanter ist aber, dass es ein Gleichstellungsgesetz ist, weil nämlich unverheiratete Frauen schon immer eigenes Eigentum besitzen und eigenständig wirtschaften durften. Interessant ist ferner, dass das Gesetz das Ergebnis einer Kampagne war, die von Frauen fast zwei Jahrzehnte lang geführt wurde und schlussendlich erfolgreich war.
Was lernen wir daraus: Eine Zeit, in der Frauen mit der Ehe praktisch Sklaven ihrer Ehegatten wurden (Wobei schwer abzuschätzen ist, ob, wie häufig und in welchen Schichten die Gesetzeslage zu einer solchen Situation führte ...), erlaubte nicht nur alleinstehenden Frauen, Geschäfte zu führen, sondern hielt sie auch keineswegs davon ab, sich mehr Rechte für den Fall zu erstreiten, dass sie doch zu heiraten beabsichtigten.
Daraus folgt, dass ein emanzipierter weiblicher Charakter womöglich in bestimmten Kreisen/Situationen scheel beäugt wird, aber im Prinzip machbar und spielbar ist. Eine Frau hätte in spezifischen Spielsituationen wie zum Beispiel dem Betreten eines Gentlemen's Clubs sicherlich Nachteile, aber ein männlicher Spieler hätte auch Probleme, in einem Ladies Club Zutritt zu erhalten. Auch sind Rollenmodelle nicht immer nachteilig: Eine Frau kann vielleicht in einem männlich dominierten Setting nicht überzeugend physisch drohen, aber ein Mann dürfte es wiederum schwer haben, beispielsweise die "Verletzliche Lady in Gefahr, alle Gentlemen zu Hülfe!"-Trumpfkarte auszuspielen und damit quasi gesellschaftliche Zwänge und die die Testosteron-Fraktion auszuspielen. Und eine emanzipierte starke Frau wird sich vermutlich auch schon vor diesem Gesetz einen Mann gesucht haben, der die bestehende Rechtslage nicht ausnutzt oder sich diesen entsprechend hingebogen haben. Übrigens war es auch schon in dieser Zeit nicht unüblich, dass begüterte und/oder im Stand höhere Frauen unter ihrem Stand heirateten und der Mann in einer solchen Ehe durchaus vorsichtiger auftreten musste - es gab auch damals schon Eheverträge oder notfalls handgreifliche Verwandte der Ehefrau.
Daraus wiederum würde ich schließen, dass es Aufgabe der Abenteuer-AutorInnen, der Spielgruppe und speziell des Spielleiters ist, für eine ausgewogene Verteilung von (beispielsweise) geschlechtsspezifischen Vor- und Nachteilen zu sorgen, wenn man historischen Sexismus als Bestandteil eines historischen Settings nicht ausklammern will. Nicht nur um der Spielbarkeit, sondern auch um der Authentizität willen lassen sich immer Möglichkeiten finden, wie sich Nachteile ausgleichen oder im Spiel sogar zu Vorteilen ummünzen lassen.