Ich will noch mal auf den Anfang zurück und aufdröseln, was ich bei Wellentänzers Post für eine wenig hilfreiche Herangehensweise an das Thema halte, die in meinen Augen auf eine unsinnige Aussage hinausläuft. Ich lasse dabei das GNS-Modell außen vor, weil ich mit dem wenig anfangen kann und es auch in Bezug auf die meisten Spielweisen, die ich so erlebe, für nicht besonders treffend halte. "System does Matter!" erscheint mir als Gedanke dagegen sehr zutreffend, sowohl in Hinblick auf niedergeschriebene Rollensysteme als auch in Bezug auf das größtenteils informelle Gesamtregelwerk, nach dem Gruppen spielen. Dass die Betrachtungsweise "System does matter" für eine Auseinandersetzung mit Rollenspiel eigentlich immer sinnvoll ist, möchte ich hier verteidigen.
Also, Erstens:
Wellentänzers Eingangspost verstehe ich so, dass er "System does Matter" etwa so versteht: Edwards hat die These aufgestellt, dass man bessere Rollenspiel-Regelsysteme designen kann, wenn man sich dabei auf eine Agenda fokussiert. Indie-Spiele wie Polaris, Fiasko oder auch Edwards' Sorcerer sind angetreten, um diese These zu belegen - sie sollten "bessere" Systeme sein als das, was bisher dagewesen war (was der Intention der Systemdesigner nach sogar oft stimmen mag). Wellentänzers Meinung nach hat sich die Ausgangsthese in der Praxis nicht bewahrheitet, weil die Systeme letztlich nach wie vor viel weniger und kürzer gespielt werden als breiter aufgestellte, klassische Systeme. Ob das ein Qualitätskriterium ist, sei dahingestellt, aber wenn man "System does Matter" ausschließlich als eine solche Kampfthese (etwa wie "das Proletariat wird siegen!") versteht, dann hat Wellentänzer natürlich recht: sie hat sich widerlegt, die Indies haben nicht "gesiegt".
Ich verstehe den Satz "System does Matter" aber ganz schlicht erst einmal als eine Aussage über das, was man beim Rollenspiel beobachtet. Die Gruppe folgt einem System - das oft zu einem gewissen Teil aus vorgefertigten Regeln und Settings besteht - um eine gemeinsame Spiel-/Erzählerfahrung zu erzeugen. Diese These war deshalb zu dem Zeitpunkt wichtig, weil da (und zwar als Abgrenzung zu klassischen Spielen wie D&D) gerade die Ansicht im Schwange war, es ginge überhaupt nicht um Spielregeln, sondern ums "gute Rollenspiel", und die Spielregeln seien quasi notwendiges Übel. "System does Matter" hat dagegen gesagt: Natürlich kommt es bei einem Erzählspiel auf die Regeln an, auf die gedruckten im Buch, weil ihr sie nämlich entweder verwendet oder euch von ihnen abgrenzt, und noch mehr auf eure zumeist impliziten Regeln in der Runde, also auf die gemeinsame Festlegeung, um welche Themen es in dem Spiel geht und was inhaltlich erlaubt ist und was nicht.
Diese These halte ich für wichtig und auch für schwer widerlegbar.
Was die Indie-Spiele nun machen, sind eigentlich (wie 1of3 es charakterisiert hat) vor allem Experimente auf Grundlage dieser Erkenntnis. Polaris und Fiasko fragen beispielsweise: Wenn die typischerweise impliziten Regeln einer Runde - "Was sind die Themen unseres Spiels? Wer darf wie viel inhaltlich einbringen?" - für das Spielerlebnis so wichtig sind, wie wäre es dann mal mit einem Rollenspiel, das eben diese Regeln formalisiert und den Spielern an die Hand gibt?
Das Ergebnis: Dadurch, dass die Regeln in solchen Spielen etwas formalisieren, was sich in den meisten anderen Runden (bestenfalls) organisch herausbildet, bieten sie (wenn alle sich drauf einlassen) eine sehr schnelle Erzeugung eines bestimmten Spielerlebnisses. Man muss da nicht so viel stochern und probieren, sondern kann einfach machen, solange man sich an das Regelgerüst hält, darf man sich drauf verlassen, dass in etwa die gewünschte Art von Spielerlebnis (ein Coen-Film, eine romantische Tragödie, ein Horror-Teenage-Love-Melodram) entsteht.
Andererseits fällt gerade der Prozess einer organischen Herausbildung von Themen und Inhalten weg oder wird zumindest stark verkürzt: deshalb gibt es bei ihnen kein großes "Kampagnenbedürfnis", man hat ja nach ein oder zwei Abenden erreicht, was man erreichen wollte; die meisten solchen Spiele lassen ohnehin explizit keine Kampagnen zu, was auch daran liegt, dass die strenge narrative Struktur, die sie vorgeben, sich nicht beliebig ausdehnen lässt.
Sind solche Systeme nun also "bessere" Systeme? Ja, in dem Sinne, dass sie meistens besser "durchdesignt", also irgendwie als Kunstwerke "schöner" sind; Nein, in dem Sinne, dass sie nicht das gleiche wie klassische Systeme besser machen, sondern etwas anderes machen. Wenn man gerne eine Kampagne Vampire spielen und dabei gemeinsame Themen und Inhalte für's Spiel entwickeln und seinen Charakter ausbauen will, dann bringt es nichts, doch lieber zu Monsterhearts zu greifen. Wenn man aber wirklich das machen will, was Vampire zumindest zu Anfang als sein Thema ausgegeben hat - mit einem klaren Fokus auf die Frage "Wo verläuft die Grenze zwischen dem Mensch und dem Monster?" spielen möchte, dann ist Monsterhearts allemal einen Versuch wert.
(Exkurs: Vampire ist übrigens ein interessantes Beispiel, weil es ja zu den ersten Spielen gehört, die klassischen Designprinzipien gefolgt sind, gleichzeitig aber Werte wie "Menschlichkeit" eingebaut haben, um durch Regelelemente bestimmte inhaltliche Themen in den Vordergrund zu rücken. Dummerweise hat Vampire da halt wieder klassische und zu dem Zweck nicht besonders funktionale Regeln verwendet, weshalb es gerade das, wofür es wirbt, zumindest durch seine Regeln nicht begünstigt, sondern eher stört; was natürlich wiederum die Spieler nicht daran hindert, das Thema "Menschlichkeit" auch gegen den Regelapparat durchzusetzen. "System does Matter" und die Indies sind sicher auch eine Art dialektische Auseinandersetzung mit Vampire & Co).
Ich verstehe "System does Matter" also nicht als Kampfthese, sondern als eine Beobachtung über die Rollenspielpraxis; dadurch, dass diese Beobachtung als These auf den Punkt gebracht wurde, sind dann zahlreiche Systeme entstanden, die ihre Implikationen erforschen und dabei neue Erkenntnisse über die mögliche Rolle von Regelmechanismen in Rollenspielen zutage gefördert haben. Und die sind (wie ich oben schon schrieb) dann durchaus auch wieder in die klassischen Kampagnenspiele eingeflossen. Dass die Indies dabei die klassichen Systeme nicht abgelöst haben, zeigt nicht etwa, dass der Ansatz "System does Matter" falsch war, sondern nur, dass diese Systeme, weil sie so fokussiert und selbstreflexiv sind, eben nur ein sehr begrenztes Bedürfnis bedienen können - das aber richtig gut. Was jetzt auch keine neue Erkenntnis ist ... die Techniken, die Gruppen in ihnen erproben (vor allem die explizite Bestimmung von Themen und Inhalten), übertragen sie aber oft genug auch wieder auf klassische Systeme, wodurch die Rollenspielpraxis m.E. durchaus stark beeinflusst wird. Und auch da zeigt sich für mich wieder, dass "System Matters", weil die Auseinandersetzung mit andersartigen Regelsystemen die Spielerfahrung mit den schon bekannten Regelsystemen verändern kann.