Bruce Heard war maßgeblich an der Erschaffung einer alten TSR-Kampagnenwelt beteiligt, Mystara. Vor einigen Jahren wollte er die Rechte für diese Welt von Wizards of the Coast kaufen und diese neu beleben, bekam die Rechte aber nicht. Also entwickelte er seine eigene Spielwelt, welche im Ergebnis in vielen Aspekten stark an Mystara und Spelljammer erinnert.
Nach acht Jahren hat er im Alleingang auf ca. 900 dicht beschriebenen Seiten einen komplexen Pantheon, einen Fantasy-Kosmos sowie drei von insgesamt 10 großen Reichen seines Hauptkontinents Caldera beschrieben, des weiteren existiert eine Großkampagne, drei Kurzabenteuersammlungen, Player Guides, Konversionshilfen für D&D in der ersten Edition sowie Kurzgeschichten. Als nächstes sind eine Zwergenspielhilfe sowie ein großer Band zu Luftschiffen, Luftkampf, Deckplänen, etc. geplant. Ich habe schon öfters gespielt und fühle mich durchaus mit der Welt vertraut.
Ich kenne mittlerweile nach Jahrzehnten als Rollenspieler einige Fantasy-Welten und habe sie in letzter Zeit bis auf wenige Ausnahmen aus Langeweile für historische oder Polizeispiele links liegengelassen – aber Calidar berührt mich innerlich dann doch. Ich nehme vorweg was gut gefällt: Heard kann im Vergleich mit den Autoren von all dem Mist der heutzutage auf den Rollenspielmarkt geworfen wird besser schreiben, hat Ideen. Er kombiniert seinen Einfallsreichtum mit Detailverliebtheit, Settings wie Fateforge, Spelljammer oder sogar das durchaus gefällige Rise of the Drow sind oberflächlicher. Ich glaube noch nicht unter den verklärenden Blick des Fans zu fallen, wenn ich den qualitativen Unterschied zwischen einem kommerziellen Produkt und einem Herzensprojekt sehe.
In der Aufmachung kann Calidar mit heutigen, opulenten Grafikbomben nicht mithalten. Die Texte sind in dichten Abständen geschrieben, wenig von den in heutigen Produkten üblichen Abständen, so dass auf augenscheinlich wenig Seiten eine Menge steht. Die Zeichnungen wirken wie comicartige Radierungen, ausreichend um einen guten Eindruck von der äußeren Erscheinung der Persönlichkeiten und Monster der Spielwelt zu bekommen, letztendlich aber zu wenige.
Auf dem Sektor Kartenwerk glänzt Calidar wie wahrscheinlich wenig andere Spiele: Es gibt bildschöne topographische Karten, Windkarten, Hexcrawl-Karten in jedem Regionalband, so dass eine Old-School-Erforschung möglich wird, soziopolitische Karten für die Verbreitung einzelner Glaubensrichtungen, funktionale D&D-Battlemaps sowie normale Gebäudekarten, welche hübsch aber auch semiprofessionell rüberkommen.
Es soll nicht verschwiegen werden dass Heard sich selbst als Schriftsteller sieht, daraus resultiert dass die eigentlichen Spielhilfen immer mit ca. 25 Seiten einer Fortsetzungsgeschichte beginnen, welche die Abenteuer einer Luftschiffsbesatzung verfolgt. Ich muss zugeben dass die Geschichte mir nicht weiter in Erinnerung geblieben ist.
Das Spieluniversum wird Soltan-Ephemeride (Soltan ist der mächtigste, offenkundig am Islam angelehnte Sonnengott der natürlich außerhalb aller anderen Pantheone steht) genannt, ein einzelnes Sonnensystem mit mehreren Planeten und Monden welche alle von Fantasy-Spezies besiedelt sind. Calidar ist einer dieser Planeten, welcher von besagten Spezies im Begriff ist kolonisiert zu werden, wobei gegenwärtig nur einer der vier Kontinente, Caldera, mittelalterliche/antike Fantasy-Zivilisationen beherbergt und eine Ausbreitung dieser überhaupt gestattet. Die restliche Welt, die sogenannten Dread Lands, stehen unter dem Schutz der Weltenseele Calidars, welche Macht manifester Naturgeister jedwede Ressourcenausbeutung oder Erschließung gewaltsam unterbindet und viel unerschlossene Wildnis erhält. Nur sporadisch, wenn die Weltenseele des Planeten sich periodisch „neu sammelte“ (im Text werden Assoziationen im Zusammenhang mit Ebbe und Flut geweckt), konnte Calidar in der Vergangenheit besiedelt werden und unter großem Aufwand neue Zivilisationen entstehen – um schließlich wieder unterzugehen. Damit ist eine Begründung für verwilderte Ruinen auf allen Kontinenten gegeben. Clans an wildem „fellvolk“ (Halblinge?) bewohnen diese Kontinente.
Um Calidar kreisen 3 überbevölkerte Monde, jeweils Sitz eines Elfen-, Menschen- sowie Zwergenreichs, welche mit Weltraum-Segelschiffen nun eben diese Welt vor einiger Zeit kolonisierten. Weitere Planeten sind Draconia, an der Oberfläche dem Jupiter ähnlich, innen eine Hohlwelt mit bewohnbarer Biosphäre, beherrscht von einer fiesen Drachenkönigin, welche versklavte Menschen sowie ihre eigenen Ordensritter auf Kaperfahrt nach magischen Artefakten gehen lässt, um diese dann in magische Energie umzuwandeln. Endlich mal eine Begründung was Drachen mit ihren Schätzen eigentlich machen.
Der nächste Planet, die Lao-Kwei-Ephemeride ist eine nach Kriegen verwüstete, trockene Marswelt mit ockerfarbener Vegetation auf den Ruinen einer versklavten Rasse, welche vom alten Schildkröten-Imperium rothäutiger Zauber-Mandarine beherrscht wird; diese befinden sich im Konflikt mit einem ebenfalls leicht an asiatischen Kulturen angelehnten Volk auf dem Mond Lao-Kweis.
Ghüle ist ein von finsteren Göttern in dieses Sonnensystem geworfener Dungeon-Planet, besiedelt von Millionen von Monstern – unter anderem die üblichen Verdächtigen wie die Orks, Oger , Trolle, Goblins. Der Planet ist quasi ein Flugzeugträger für die Raubzüge der Monsterhaften, welche ab und zu mit Beute und Sklaven in eine andere Dimension zurück schlüpfen um das Geraubte besagten finsteren Göttern zu opfern.
An dieser Stelle sollte wohl mittlerweile klar sein dass die üblichen Tropes der Fantasy-Rassen hier nahezu alle vorhanden sind – es gibt verschiedene Menschenvölker, Elfen, Zwerge, Orks, Gnome, Halblinge, Canine, Katzenwesen sowie das Sternenvolk – eine Sammelbezeichnung für mehrere mysteriöse Rassen und damit unter anderem eine Möglichkeit, eigene Rassen wenn gewollt ins Setting einzuführen. Unter anderem werden im Spielweltüberblick der Spielerhefte Elfen als „tree-huging Nazis with living skyships that suck sap and can grow deck weaponry as needed“, Zwerge als „gold-loving, earth mining, steampunk Klingons“ beschrieben. Das kann man langweilig finden, ich werde das jetzt nicht beschönigen. Ich mag dass ohne Fisimatenten vom Autor zugegeben wird, dass unter anderem altbekannte Klischees in Calidar verwurstet werden. Später mehr zu diesen Tropes im Kontext.
In den Player Guides zu den einzelnen Regionen gibt es jeweils neue Klassen, mit Konversionguides, Spezialfähigkeiten und Steigerungstabellen für OSR-Spiele. Das hilft nicht jedem, aber wenn man überhaupt neue Berufe/Klassen haben möchte ist das die in meinen Augen beste Version. Beispielsweise kann man einen Ritter Draconias spielen, also einen Spion der finsteren Drachenkönigin vom anderen Stern der Undercover in der Gruppe finstere Werke verrichtet.
Die Sache mit der erwähnten Weltenseele verdient Erläuterung. Jeder Planet hat eben eine solche, einen Magiepool/pseudo-spirituelles Guthaben welcher die Physik der jeweiligen Welt beeinflusst. Die Seele eines jeden auf dem jeweiligen Planeten geborenen Wesens wird aus diesem Magiepool „aufgeladen.“ Wer stirbt, dessen Seele endet nach einiger Zeit im Limbo auf drei mögliche Weisen: Entweder sie wird in einem irdischem Erdöl ähnlichem, blutigen Treibstoff namens Seitha gefangen (bzw. wenn man bereits untot war direkt zu Seitha verflüssigt), welcher für die Raum-/Segelschiffe benötigt wird, oder kehrt zu ihrer Weltenseele zurück (woraus man reinkarniert werden kann) oder wird zum unsterblichen Diener eines Gottes, dem man zeitlebens gedient hat. Die Götter erhalten ihre Macht über die Seelen ihrer Gläubigen, überhaupt kommen Götter erst durch die Gläubigen ins Sein – sie werden wortwörtlich erfunden, ohne abfällige Konnotation. Über die Generationen kann die jeweilige Weltseele von den Gläubigen gewechselt werden, Götter sind aber immer von den Seelen einer einzelnen Weltseele abhängig – Religionskriege sind vorprogrammiert:).
Dieses System hat zur Folge dass sich Helden in den Dienst eines Gottes stellen können und von diesem zum Dank – man will die Kundschaft ja nicht vergraulen – mit allerlei spiel-mechanischem Firlefanz ausgestattet wird, es gibt viele Tabellen zum auswählen. Darüber hinaus kann der Götter-werden-Erfunden-Mechanismus („Eternal Glory“) direkt genutzt werden – je mächtiger, berühmter und bei der Bevölkerung verehrter die Helden werden, desto wahrscheinlicher wird es dass sie aufhören zu altern. Irgendwann werden sie (wenn vom Spieler gewünscht) zu Halbgöttern, mit nochmal neuen magischen Kräften, wandern immer noch durch die Soltan-Ephemeride, können aber auf eigenen Wunsch auch mal einen Urlaubsabstecher ins jeweilige Elysium ihrer Gottheit machen oder eigene Gläubige aufnehmen. Gibt es mal ein Zerwürfnis mit dem jeweiligen Gott-Chefchen so wird man zum schlafenden Halbgott und die eigenen Gläubigen können keine Wunder mehr wirken – eine innerweltliche Begründung um einen Zweithelden auf die Reise zu schicken, um den ersten wieder aufzuwecken. Ein Halbgott, welcher bei gleichzeitig genossener Verehrung durch Zehntausende an Gläubigen das Leben verliert, wird selber zum Gott. Für hohe Stufen ist das mal eine interessanter Alternativpfad als Karriereplan anstatt der sonst bekannten Ebenenreisen und Eigenreichgründungen.
Das System ist dann auch die selbst erklärte Daseinsbegründung für die erste beschriebene Menschennation Calderas, die Bewohner Meryaths – ein polynesisch-sizilianisches Inselvolk das sich als Staatsziel das schöne Hobby des Drachenermordens in die Verfassung geschrieben hat. Da wird man, wenn man überlebt, recht zügig zum nicht alternden Helden.
Ich werde in nächster Zeit noch mehr schreiben, kann das hier natürlich nicht zu meiner Hauptbeschäftigung machen. Beim nächsten Mal etwas Weltbeschreibung und was jetzt eigentlich in meinen Augen so gut ist.