Jetzt ist es endlich so weit: das Maß ist voll. Ungefähr 13 Jahre geistert nun schon ein Aufsatz durchs Netz, der leider Gottes immer und immer wieder verlinkt wird, anstatt ihn einfach mit dem Mantel des gnädigen Vergessens zu bedecken. Es handelt sich um „D&D: Calibrating Your Expectations“ von Justin Alexander. In seiner ganzen hirnvereisenden Abscheulichkeit nachzulesen hier:
http://www.thealexandrian.net/creations/misc/d&d-calibrating.htmltl;dr-Version: "D&D ist (auf niedrigen Stufen) realistisch."
Die Kernbehauptung finden wir in dem Satz:
You can plug real world values into it, process them through the system, and get back a result with remarkable fidelity to what would happen in the real world.
Die Probleme gehen damit los, dass der Autor Regeltexte mit seinen persönlichen Ansichten bzw. wilden Schätzungen vermischt. Das geht los bei der Verteilung der Attribute von NSCs. Wir kennen ja die „Arrays“ aus dem DMG für „Standard“ und „Elite“. Alexander versteigt sich nun zu zwei Behauptungen, die nicht die Bohne vom DMG gestützt werden:
- nur 2-5% der Gesamtbevölkerung verwenden den Elite-Array.
- Der Großteil der Bevölkerung hat nichtmal den Standard-Array, sondern „straight 10's and 11's across the board“ und hätte demnach nichtmal +1 auf irgendein Attribut.
Ich werde mir hier gar nicht die Mühe machen, weiter darüber zu diskutieren, da ich die Arrays bereits grundsätzlich für zu schlecht halte. Aber die Aussage, die allermeisten Standard-NSC hätten schlechtere Werte als das Standard-NSC-Array, die ist wirklich gold.
Als nächstes schwadroniert er über das Eintreten von Türen; darüber kann ich nun nichts sagen, da bei mir daheim die Türen mit Klinken ausgestattet sind und ich deswegen noch nie eine eintreten musste. Wenn er also sagt „This matches our real life experience“, muss ich ihm das wohl glauben.
Das nächste Kapitel jedoch ist „Encumbrance“, also Traglast, und dazu kann ich durchaus etwas sagen. Hier wird der Artikel wirklich etwas bizarr: der Autor zitiert einen anderen Text, diesmal von Shamus Young (den ich ansonsten für sein
DM of the Rings sehr hoch schätze), in dem dieser sich (ungewollt) als kaum lebensfähige Couchamöbe outet:
„I wore a few clothing items twice to save space, and only carried a couple of books and a laptop for entertainment. Nevertheless, the strap of this bag bit into my shoulder as I walked, and the weight threatened to pull me off balance. A full-out run was nearly impossible, and a light jog caused the weight to bounce all over the place, slam me in the leg, and generally make the simple task of walking a bit more tricky than it normally is.“
Daraus schließt er dann in einem wahren Wire Fu-Leap of Faith, dass die Traglastregeln von D&D „pure comedy“ seien.
Sorry, aber man sollte vielleicht die physische Fitness von professionellen Nerds, die von einer Reisetasche für einen Kurztrip bereits überfordert sind, nicht unbedingt als Benchmark für das Gros der Bevölkerung nehmen. Erst recht nicht für die Einwohner einer pseudomittelalterlichen Welt, die es im Gegensatz zum amerikanischen Otaku des frühen 21. Jahrhunderts gewohnt sein dürften, weitere Strecken als von der Couch zum Kühlschrank zu Fuß zu gehen und schwerere Lasten zu schleppen als ein Big Mac Menü.
Er zieht einen weiteren Vergleich mit modernen Soldaten – das kommt der Sache schon näher, aber man merkt auch, dass der gute Mann nie beim Barras war. Wir kommen hier in den „Ich weiss nicht wo ich anfangen soll, zu erklären...“ Bereich.
Es stimmt zwar, dass moderne Infanteristen über 70 Pfund Ausrüstung tragen müssen, und es stimmt auch, dass sie darüber „not too happy“ sind. Aber deswegen bewegen sie sich immer noch nicht mit nur 3,5km/h! UND Alexander geht weiterhin 1. von Berufssoldaten aus, die 2. als höchstes Attribut Stärke haben, und zwar 3. auf einem Wert von 13. Dazu kann ich nur sagen: absurd, einfach hochgradig absurd.
Als es in Deutschland noch die Wehrpflicht gab, mussten auch da schon alle Soldaten schon während der Grundausbildung mit voller Ausrüstung (35-40kg) über längere Strecken 6km/h schaffen, oder anders gesagt, 30 Kilometer in 5 Stunden. Und es haben auch so gut wie alle geschafft (e bissl Schwund is immer). Auch ich habe es geschafft, und mich kann man auch nicht als „professional weightlifter“ bezeichnen. Was sagt uns das jetzt? Dass 1 Monat Grundausbildung aus jedem „Commoner“ einen Elite-NSC mit Str 15 macht? Oder vielleicht doch eher, dass die Traglastregeln doch nicht so super-realistisch sind? Ooooder gar, Gott behüte, dass Stärkewerte von 13-15 oder mehr im D&D-Maßstab bei jungen gesunden Männern nicht so superselten sind, wie Alexander behauptet!?
Immerhin, in einem hat Alexander wenigstens annähernd recht, wohingegen sich Young rundheraus lächerlich macht: Stichwort „Gewicht eines Schwertes“. Young ist hier der Auffassung, ein Schwert müsse viel mehr wiegen als 4 Pfund. Alexander meint, 4 Pfund kommen ziemlich gut hin. In Wahrheit waren die Dinger noch leichter – wir reden hier von Einhandschwertern, die in der Realität nur selten mehr als 1kg wogen – aber ich rechne die 4 Pfund inzwischen komplett mit Wehrgehänge und dann passt das schon. Hier haben wir einen Fall von "unter den Blinden"...
Als nächstes redet der Herr Alexander über Fertigkeiten, und argumentiert, dass die jeweils fachbesten Menschen vielleicht so etwa Stufe 5 sein könnten, und Stufe 4 bereits olympisches Niveau darstellt. Warum er nun ausgerechnet Springen als positives Beispiel dafür heranzieht, wie _realistisch_ das System sei, lässt den Grad seiner komplett weltfremden geistigen Verwirrung einigermaßen erahnen. Vielleicht hat er ja auch noch nie einen Weitsprungwettbewerb im TV angesehen, geschweige denn selber an einem teilgenommen. Ich muss wohl niemandem erklären, dass ein olympischer Athlet mit seinen drei Sprungversuchen _nicht_ mit der gleichen Wahrscheinlichkeit mal 4 Meter weit hüpft und mal 10 Meter weit fliegt.
Weiter unten im Text scheint er das auch selber in einem Anflug geistiger Klarheit selber zu erkennen, aber versagt leider bei der Transferleistung, was das über den "Realismus" der Regeln logischerweise aussagt.
Dann wird der Artikel aber erst nochmal richtig absurd, denn ab jetzt ergeht er sich der Länge und Breite in einem Abschnitt mit dem Titel
"Analyzing Aragorn", dass der Erbe Isildurs (als einer der mächtigsten Sterblichen Mittelerdes) im D&D-System gerade mal 5. Stufe wäre. Und wieder: I call Bullshit.
Zunächst mal ist D&D 3E das vermutlich allerschlechtest geeignete System auf der großen weiten Welt, um Mittelerde-Charaktere darin abzubilden. Unter anderem weil es zwingend von reichlich magischen Items ausgeht, und sich z.B. die Rüstklasse quasi _nur_ durch magische Ausrüstung verbessern lässt, während exakt diese Gegenstände in Mittelerde so gut wie gar nicht vorkommen.
Wie dem auch sei: wer den LOTR gelesen hat, weiß, dass nicht nur Aragorn, Legolas und Gimli enorme Badasses sind. Auch die Ritter von Gondor werden als extrem fähige Krieger beschrieben; ich finde gerade die Stelle nicht, aber ich meine es sei die Rede davon, dass "jeder Ritter mehr als fünfzig normale Männer wert" sei, oder sowas in der Art.
Belegt ist auf jeden Fall, dass die Gefährten in der Schlacht von Helms Klamm jeder dutzende von Feinden erschlagen; allen voran Gimli mit 42 Kills, und dabei wurde er selbst ebensowenig verletzt wie die anderen Gefährten.
Sehen wir uns nun an, welche Chancen fünftstufige weltliche D&D-Charaktere in so einer Situation hätten. Dabei handwedeln wir mal die Ausrüstung und nehmen an, dass die Gefährten auf ungefähr AC20 kommen (tatsächlich ist das ohne magische Ausrüstung und ohne Schild in 3E schon schwierig). Auf Stufe 5 haben Kriegerklassen so ungefähr 50 Hitpoints, außerdem sagen wir mal +10 Angriff.
Sind wir außerdem bei den Orks mal sehr konservativ und rechnen sie als Level 1 Krieger mit Str 15 und ohne besondere Ausrüstung ab, also schlappe +3 auf den Angriffswurf und machen 1W8+2 Schaden (6,5). Gerüstet sind sie mit Kettenpanzern und Schilden, also sagen wir mal bei Dex 12 -> AC 18. Nota Bene: im Roman werden die Orks deutlich bedrohlicher beschrieben.
Nehmen wir außerdem an, dass das Schaden/HP-Verhältnis ausreicht für zuverlässige One-Hits seitens der Gefährten.
Das heisst also: Trefferchance von Aragorn & Co vs Orks = 65%; Trefferchance Orks vs Aragorn & Co = 20%. Allerdings sind die Verteidiger von Helms Klamm in krasser Unterzahl, sodass man nicht von braven Duellsituationen ausgehen kann. Sind wir auch hier wieder mal gnädig und gehen von durchschnittlich 2 Gegnern gleichzeitig aus.
Hier schlägt nun die Action Economy zu: Held trifft zu 65% und macht somit in 3 Runden 2 Gegner weg (vllt etwas mehr wenn er Cleave hat). Zwei Gegner machen pro Runde kumuliert 0,36 Mal 6,5 = 2,4 Schaden pro Runde (wobei wir uns die Hitpoints mal abstrakt vorstellen, also solang man 1HP hat ist man auch nicht verwundet).
Das hieße also, dass bereits nach 2 Minuten der HP-Vorrat der Helden aufgebraucht wäre, selbst mit all diesen Konzessionen (z.B. keine 5:1-Überzahlen, kein Flanking etc). Nach dem 12. getöteten Ork würden die Hitpoints ausgehen und das wär's dann gewesen. Man könnte jetzt noch z.B. Combat Expertise mit einbeziehen, aber dann müsste man auch wieder über die anderen Zugeständnisse, die wir bereits an die Helden gemacht haben (z.B. auch den Gratis-Rüstklassebonus), überdenken.
Kurz und gut, es ist sonnenklar: so geht es nicht. Das geht vorn und hinten nicht auf. Man kann die Helden des Ringkriegs nicht als 5.stufige 3E-Charaktere darstellen. Übrigens auch nicht als Stufe 10 oder 20. 3E ist zur Abbildung der Leistungen von Mittelerde-Charakteren ganz und gar ungeeignet, egal mit welchem Levelcap.
Quod erad demonstrandum: der ganze Artikel von J.A. ist ein riesenhaufen stinkender verquirlter Ochsenscheisse. Eigentlich ist so eine Ausdrucksweise nicht mein Duktus, aber wenn man jahrein, jahraus immer und immer wieder über diesen grässlichen Rotz stolpert, geht es einem irgendwann wider die Natur.