Die meisten Themen werden hier ja reichlich vielseitig und ausgiebig erörtert. Ich möchte dennoch eine Facette zum "Erzählen & Spielen" betonen, die mir selbst sehr am Herzen liegt. Es geht mir darum, dass die Vielzahl und Wahlmöglichkeit verschiedenster Regelsysteme - und dabei
insbesondere der Mechanismen - für mich persönliche eine
enorme Bereicherung meiner gemeinsam erlebten Erzählungen darstellen.
Meine Erfahrungen decken sich da mit den Theorien von
G. H. Mead - auch wenn ich mich an der Radikalität seiner Ableitungen stoße.
Diese Stufe nennt Mead game. In dieser Wettkampfsituation muss das Kind das Verhalten aller anderen verinnerlicht haben und wissen, wie es selbst handeln soll. Es muss sich damit am sogenannten „verallgemeinerten Anderen“ orientieren. Deutlich macht Mead diese Phase am Beispiel des Baseballspiels. Ein Spieler könne nur dann handeln, wenn er die Regeln, Aufgaben und Handlungen aller Mitspieler und somit auch seine eigene Rolle kenne. Gleichzeitig müssen aber auch alle anderen Spieler dies mit seinem Verhalten tun können, damit das Baseballspiel überhaupt möglich ist. Der „verallgemeinerte Andere“ oder „generalisierte Andere“ stellt nicht nur das Regelsystem innerhalb eines Wettkampfes dar, sondern im Großen und Ganzen die gesamte Gesellschaft mit ihren Werten und Normen. Durch die Orientierung an eben diesem Anderen kommt es zu einer sozialen Strukturierung des Selbst.
Wie weit wir den Begriff "Wettkampf" fassen müssen, um aktuelle Rollenspiele darunter zu verorten, wäre wahrscheinlich Raum für einige weitere Diskussionen...
Will sagen: das mechanische System gibt mir einen Bezugsrahmen vor, der die besondere Funktion aller Mitspieler in Relation setzt. In diesem Rahmen kann ich meine Handlungen ganz eigen bewerten und ausrichten. Wobei Handlungen im Rollenspiel für mich zunächst Gesprächsbeiträge sind.
Ich verhalte mich ganz anders - und erlebe und erzähle damit auch andere Inhalte. Je nachdem ob ich eine Runde Freeform (meinetwegen Daidalos), King Arthur Pendragon, Fiasco, Itras By, Forsooth!, Apocalypse World, FAE, Kingdom of Nothing, Moldvay D&D, Improtheater oder was-weiß-ich spiele.
Wobei ich zugestehen muss, dass die Erfahrungen bei "klassischen" Systemen (Savage Worlds, DSA, GURPS, oWoD) sehr viel näher zusammen rücken.
Das Spannende ist: das gesamte Regelsystem greift in die Erzählung am Tisch ein und beeinflusst unser Verhalten. Damit steht mir eine viel größere Palette kreativer Erlebnisse zur Verfügung. Vincent Baker, Luke Crane uva. nennen dies die "Mind Control" des Spiel-Entwicklers. Deswegen möchte ich auch nicht nur das eine System
TM, sondern ich will sie alle - lang, breit und schmutzig! OK; manche passen einfach nicht. Aber das liegt nicht an ihnen, es liegt an mir
.
Auch improvisiertes Theater hat, meiner Erfahrung nach, ganz eigene Probleme mit dem Erzeugen von Erzählung. Grade wenn es sehr "offen" sein soll. Nicht umsonst gibt es im Theatersport nach Keith Johnstone Unmengen von Spielen, die teilweise sehr starke Mechaniken einbinden (weit abseits des überstrapazierten Ja-Sagens...
)
Alle diese Regeln brechen die Erwartungshaltung auf, zwingen mich in andere Denk-, Kreativ- und Verhaltensmuster; und bereichern so letztendlich mein Spiel und Ausdrucksspektrum. Ich würde sogar soweit gehen, dass sie in kleinen Schritten meine Persönlichkeit erweitern. (Wer weiß, was ich damit auslöse...)
Kreativität ist nach meinem Dafürhalten eben keine Fähigkeit, die dem menschlichen Geist a priori gegeben ist. Sie ist Ausdruck des menschlichen Vermögens Strukturen zu erkennen und zu schaffen - gepaart mit der Fähigkeit unbekannte Probleme zu lösen. Und eben diese Probleme, das Creative (oder Narrative) Constraint, entstehen u.a. maßgeblich aus dem verwendeten Rollenspielsystem.
Dazu gehört dann, sich voll und ganz auf das Spielsystem einzulassen. Die Regeln zu befolgen, um zu erleben wohin sie uns am Tisch bringen.