Ich gebe diesem dritten der vier "Purist"-Abenteuer von Graham Walmsley
2 Punkte, obschon ich als Spieler womöglich auch Spaß daran hätte und die hier gezeigte Begeisterung mancher gut verstehen kann.
In meinen Augen aber haben bereits der Abenteuerhintergrund und so auch der Handlungsrahmen gravierende Mängel. Nachdem mir solche Mängel bereits in den ersten beiden Abenteuern der Reihe aufgefallen waren, gewinne ich den Eindruck, dass sich der allgemeine improvisatorische Ansatz Grahams (siehe
The Watchers in the Sky unten) hier selbst ein Bein stellt. Ich unterstelle mal: Graham ist ein Improvisateur, der sich von spontanen Einfällen leiten lässt, die - wie bei jeder gut improvisierten Sache - einem ersten kritischen Blick auch standhalten. Er ist ein sehr schneller Schreiber, der seine Ideen und Schlüsse schnell beisammen hat und darauf sein Haus bauen kann. Jedoch nicht so wichtig sind ihm Ideen und die Ausarbeitung derselben, die auch auf einen zweiten Blick hin logisch erscheinen. Und er weiß ganz richtig: Das tut dem Spaß vieler Spieler keinen Abbruch. Oft kommen Spieler über ein Basisverständnis eines Abenteuers nicht hinaus bzw legen den Erlebnisfokus deshalb oder dennoch auf die einzelnen - spannenden oder dynamischen - Handlungsmomente und unterlassen eine kritische Bezugnahme auf vorherige oder folgende Abenteuerdetails.
Ich betone das so, weil das Abenteuer hier ja hervorragende Bewertungen hat, und weil ich diese Auffassungen und damit verbundenen Erlebnisse nicht in Abrede stellen will. Mehr noch, erstens sehe ich das Potential zu großer Spielfreude durchaus, zweitens kann mir vorstellen, dass ich ebensolche Spielfreude entwickeln könnte, Dazu müsste mein persönliches Spielerlebnis aber die ganzen Ungereimtheiten umschiffen, und dazu benötige ich einen agilen SL, muntere Mitspieler und schließlich die fast völlig in Spielerhand liegenden Finalszenen (die wirklich ein klares Plus sind). Ja, tatsächlich, manchmal bemerkt man eben einfach nicht, was für einen Schrott man gerade spielt. Oder die hier und da auftretende Ahnung wird vom spaßigen Spiel aus dem Fokus gedrängt.
Doch als Spielleiter muss ich klar sagen: Ich möchte
Dance in the Blood nicht leiten, weil ich mich ob der mangelhaften Ausarbeitung des Hintergrunds einfach nicht wohlfühle. Derlei Unrundes mag ich nicht präsentieren und nicht gegen meine Überzeugung vor den Spielern rechtfertigen. Hinzukommt, dass das Abenteuer viele mögliche und mE naheliegende Fragen der Spieler nicht behandelt und entsprechend auch keine Antworten bietet. Als Spielleiter muss ich also entweder selbst wieder Vorarbeit leisten und Lücken füllen - wobei ein solcher Versuch oft erst recht die Ungereimtheiten offenbart - oder aber an solchen Punkten improvisieren. Und das ist nicht die Art Improvisation, die ich als Spielleiter in einem Kaufabenteuer leisten will.
Hier aber zunächst einmal Links auf die beiden von mir schon besprochenen Teile:
1.
The Dying of St. Margaret's - 1 Punkt
2.
The Watchers in the Sky - 2 Punkte
In
The Watchers in the Sky hatte ich ja auch einen Kontext zum Verständnis der Reihe hergestellt.
So, und ab hier wird munter gespoilert.
Auch diesmal gibt es vorgefertigte Charaktere, die man diesmal auch wirklich nehmen sollte, weil sie aufgrund der Abenteueridee allesamt auf bestimmte Weise miteinander verbunden sein müssen. Da ist es furchtbar sinnlos, einen eigenen Charakter in den Ring zu werfen.
Wurden im ersten Teil der "Purist"-Reihe gezielt
Drives angespielt und im zweiten Teil
Sources of Stability, so geht es jetzt im dritten Teil um speziell den
"Purist"-Drive: In the Blood. Diesmal sollen aber nicht Eckpfeiler des Systems nähergebracht werden, sondern Graham hat schlicht und ergreifend eine wahrlich lovecraftsche Idee ("Doomed by birth! Die SC sind's selbst!") ausgearbeitet, in die er alle SC verwickeln wollte. Ja, tatsächlich, diesmal sind die SC die Garstlinge, ganz würmerliche Gezüchte Shub-Nigguraths, und der Clou an der Sache ist, dass sie dies erst im Laufe der Handlung enthüllen. Schade und bezeichnend ist, dass erst das vierte Purist-Abenteuer,
The Rending Box, den Shubbi-Hintergrund enthüllen wird.
Es ist das Jahr 1935. Das komplette Abenteuer findet rund um das real existierende See-Idyll
Derwent Water (Lake District) statt. Die SC werden diverse Orte in unmittelbarer Nähe aufsuchen, darunter auch einen Flecken namens
Manesty, der vom Mythos bislang echt gebeutelt worden ist: Es tentakeln sich Humawurmoide aus dem Untergrund an die Oberfläche, und zwar alle 119 Jahre - "wenn ihre Macht am größten ist", was laut
The Rending Box bei jedem Herzschlag Shub-Nigguraths der Fall ist - um aus einem starken Territorialverhalten heraus jedes zivilisatorische Element zu vernichten, das sie innerhalb eines sehr kleinen Radius am südwestlichen Ufer des Derwent Water vorfinden: Sie zerbeißen hierzu einfach Mann, Micky Maus und Mauern, eben alles, was menschengemacht ist. Eine 100%-Katastrophe für die Siedlung Manesty, die eben genau im Wurmterritorium liegt. Solche Annihilation haben die garstigen Kreaturen schon x-fach vorgenommen, die nächste steht fürs aktuelle Jahr im Wurmkalender.
Die Menschen der Region nehmen die Vergangenheit irgendwie hin, ja, verdrängen die schlimmen und nicht natürlich erklärbaren 100%-Katastrophen. Neue Hinzugezogene (die anderen sind ja tot) bauen vor Ort einfach alles wieder auf; britische Akademiker scheren sich nicht um Sonderbares und stellen keine Untersuchungen an. Das finde ich angesichts des Eindrucks, den solche Vernichtungen doch hinterlassen müssten, nur sehr bedingt nachvollziehbar. Das Abenteuer liefert zwei Überlieferungen als Clues, die aber wohl alle in Vergessenheit geraten sein müssen. Meines Erachtens müsste ein Ort wie Manesty, der bezeugt schon mehrfach von Ursache Unbekannt dem Erdboden gleichgemacht worden ist, Stoff für Legendenbildung sein und von wissenschaftlichem Interesse. Aber das Abenteuer behandelt solche Details einfach nicht.
Diese Würmlein Shub-Nigguraths sind Mischwesen, nämlich zur Hälfte Mensch und zur anderen Hälfte weniger hübsch: komplett Mensch von Zeugung (? - das nehme ich bloß an) bis zu einem individuell festgelegten Zeitpunkt X, an dem die körperliche Verwandlung einsetzt, die unter anderem dafür sorgt, dass man ohne einen Blutkreislauf agiert. Dann kann und muss ein Ritual durchgeführt werden, und von da an ist man gar nicht mehr menschlich. Mischwesen also, die als Noch-Menschen mit Nur-Menschen Familien gründen, um weitere Anhehörige ihrer Art zu zeugen. Die neuen Noch-Menschen sind biologisch gesehen Menschen, halten sich auch für Menschen und sind in keinster Weise durch ihren besonderen Hintergrund in ihrem Willen und ihrer Freizügigkeit eingeschränkt. Bis dann der Ruf der Natur / des Mythoshintergrunds sie zu ihrem individuellen Zeitpunkt X ereilt und zurück zum Stammterritorium reisen lässt, um sich in der Nähe davon (!), also außerhalb des Territoriums, an einem Ritualplatz durch Entleibtwerden zu verwandeln und unter die Scholle abzuwandern. Oder um zu sterben, falls das Ritual nicht rechtzeitig vollzogen wird.
In der Einleitung steht, dass
jetzt, 1935, 119 Jahre nach der letzten Auslöschung von Manesty, die Zeit der Verwandlung und Heimkehr ins Erdreich für die Investigatoren gekommen sei, um erneut vom Land Besitz zu ergreifen. Das erklärt, weshalb es bei allen gleichzeitig in der Instinktkiste rappelt, sodass es zum Aufeinandertreffen und somit zum Einsetzen der Abenteuerhandlung kommt. Dieser Logik steht aber klar entgegen, dass
Vater Jack bereits vor sechs Jahren seine Verwandlung vollzogen hat. (Dazu unten mehr.) Und in der Endszene und im Epilog wiederum bleibt die Durchführung des Rituals dann doch auf
Bruder Geoffrey beschränkt - obwohl laut Kasten "Next in Line" einer der Investigatoren bereits kurz vor der Ritualnacht ebenfalls Geoffreys Symptome zeigt (kein Herzschlag mehr, und wenn man an der menschlichen Hülle zuppelt, dann tritt die Monsterhaut zu Tage) - und es wird davon ausgegangen, dass die Investigatoren die Region fürs Erste wieder verlassen, um in voller Kenntnis der schrecklichen Wahrheit über sich und alles frei entscheiden zu können, wie sie damit umgehen, und ob sie "one day", wenn der Ruf sie erneut ereilt, tatsächlich zum Ritualplatz zurückkehren, um entweder "Opfer" oder Opfernde(r) zu sein.
Tja nun, was jetzt? Die Angaben in der Einleitung stehen mit Ausnahme des Kastens den im weiteren Verlauf gemachten Angaben entgegen. Daraus schließe ich mal, dass Graham erst eine flotte Idee hatte ("Alle verwandeln sich und dann fliegt die Kuh in Manesty!"), dann aber einen Schwenk zu mehr Tiefgang machte ("Ha! Nur Geoffrey verwandelt sich, alle anderen erhalten eine finstere Perspektive - was machen sie?!") und in der Eile des Abgabetermins dann die notwendig gewordene Anpassung der Einleitung vergessen hat und den Kasten stehen ließ, weil der so schön dramatisch ist. Und vom Lektorat reden wir mal gar nicht.
Ich habe aber noch mehr!
Mutter Victoria kommt auf nicht erörterte Weise hinter das Geheimnis der Wurm-Mensch-Rasse. Als Reaktion gibt sie alle ihre Kinder/Investigatoren möglichst weit von Manesty entfernt zur Adoption frei, statt diese "Monster" zB zu töten. Das ist verständlich, schließlich liebt sie ihre Kinder. Weshalb sie sich dann das Leben nimmt, statt irgendwie gegen Vater Jack vorzugehen, bleibt völlig unbehandelt und somit ein Rätsel für den Spielleiter. Und dann Jacks Rolle: Er weiß zu dem Zeitpunkt ja nicht, was er und seine Kinder sind. (!) Also kann er nicht strategisch vorgegangen sein und Victoria einfach mal tun gelassen haben im Wissen, dass die Kinder beizeiten ohnehin via Monsterinstinkt zurückkehren würden. Wenn also das nicht der Fall ist,
wieso hat er die Adoptionen zugelassen? Angesichts der damals geringen Stellung der Frau hätte er mW alle Befugnis gehabt, diese zu verhindern. Der Nebel des nie erwähnten Ehekriegs liegt über allem.
Auch bezüglich des Verschwindens des Vaters gibt es zwei Ungereimhteiten:
Das Ritual, um die Verwandlung in ein Monster zu überleben und nach Wurmistan abzutauchen, benötigt ja laut Abenteuer mindestens drei Personen:
1 Ritual"opfer"
1 Messerbenutzer (der ggf auch die Grube ausheben und den Geschlitzten einbuddeln kann)
1 Tänzer - wobei das schon sehr merkwürdig aussieht, wenn nur eine Person "dancing in the blood" macht.
Also muss Vater Jack Helfer gehabt haben. Er ist aber ganz allein ins Moor gewandert. Natürlich KANN es sein, dass er Hilfe hatte, aber dann ist DAS eine wichtige Spur, die das Abenteuer gefälligst anzubieten hat: Es musste weitere Noch-Menschen geben, mindestens einen, und der hat Spuren hinterlassen. Andernfalls ist das ToC-Abenteuer schlampig gemacht. Weil es Regeln aufstellt (Ritual), diese aber wie ein böhmisches Dorf nur Fassade für die Spieler sein lässt.
Jack zieht sich nach
Maiden House zurück und hinterlässt dort auch fein den Ritualdolch. Allerdings kann das Ritual nur in
Castlerigg Circle auf der anderen Seite des Sees durchgeführt werden. Das deutet eigtl wieder darauf hin, dass Jack Hilfe gehabt hat - jemanden, der ihn, der sich eigens nach Maiden House zurückgezogen hat, dann abgeholt und zum Ritualplatz gebracht hat, um nach dem Ritual den Dolch wieder nach Maiden House zu bringen. Dann aber sind solche Geschehnisse wiederum relevante Spuren für die Investigatoren, die schlampiger Weise unter den Tisch fallen gelassen wurde. Wahrscheinlich aber: Dem Autor war das alles egal. Er will eine in vier Stunden spielbare Kiste und weiß, dass das das alles gut funktionieren kann. Wenn ihr damit leben könnt, dann ist das gut. Aber ich spüre einen solchen Mangel an Kohärenz, dass ich das alles einmal auseinandernehmen, ändern, ergänzen und wieder zusammensetzen möchte.
Der
"unglaublich alte" Ritualdolch aus dem fremdartigen Material, von dem es mindestens zwei gibt (ein zweiter tauchte ja mal auf einer Auktion auf) ist auch so eine Sache. Der ist ja in erster Linie ein Stimmungsding, so "alt" und "fremdartig". Das deutet auf eine Verwendung schon in (quasi-)vormenschlichen Zeiten hin. Das deutet aber auch auf ein Entstehen in jenen Zeiten hin. Ja, und wer hat diese Dolche dann geschmiedet? Die Monstren waren es nicht, da sie offensichtlich stark auf ihre menschliche Form angewiesen sind. Sie können also in ihrer aktuellen Form erst existieren, seit es Kulturschaffende gibt. Und wenn wir diesen Gedanken nun noch weiterspinnen, dann stoßen wir auf ein klassisches Henne-Ei-Problem. - Natürlich wird derlei wieder nicht erörtert, und die Dolche sind nur ein weiteres aufgesetztes Element. Mir ist das zu dürftig.
Mir ist etwas ganz Interessantes aufgefallen: Die Macht der Worte!
Wenn man sich im Netz mal Meinungen über dieses Abenteuer durchliest, dann stößt man immer wieder auf die Bemerkung, dass es im Mittelteil ja eine "Sandbox" habe. Gelegentlich wird dann relativiert, dass es sich ja nicht um eine Sandbox im engeren Sinne handele, "aber immerhin!" Nun kenne ich ja fast alle ToC-Abenteuer, darunter auch bspw
Not So Quiet, das ich hier nenne, weil es auch ein früh erschienener 30-Seiter ist und weil es einen offenen Aufbau hat, in dem die existierenden Parteien auf die frei agierenden Investigatoren reagieren. Das wird in den Meinungen im Netz aber nicht von jedermann eigens hervorgehoben. Dabei ist das gesamte
Not So Quiet sehr viele eher eine "Sandbox" als der Mittelteil von
Dance in the Blood. Aber hier hat Autor Graham ein Etikett verwendet und (gefühlt) jeder beißt an. Dabei ist es schlicht und ergreifend so, dass die Spieler in Manesty mehrere Core-Clue-Quellen nebeneinander vorfinden, und Graham hat nicht den Fehler begangen, diese Situation unnötig zu linearisieren. (Dafür aber gibt er Anweisung, den weiterführenden Maiden-House-Core-Clue so lange wie möglich zurückzuhalten.) Unterm Strich aber ist es wirklich reines Info-Sammeln vor einer Decay-Fassade, die Aktionen der Spieler haben keine Auswirkungen, durch sie gerät in der Umwelt nichts in Bewegung. Ich möchte das abschließend noch verallgemeinern:
Eigtl alles im Abenteuer wirkt wie Fassade, die zwar ausdrucksstark gestaltet, aber eben doch schnell und leer hingestellt ist. Ohne Tiefe.