Ich versuche mich mal an einer Antwort. Was ich hier niederschreibe, ist meine persönliche Perspektive.
Die kann sich verändern und ggf. arbeite ich diesen Beitrag die nächsten Stunden auch noch mal um...
Aaaaaalso...
Kurz:Ich finde Midgard herrlich unaufgeregt. Das Regelwerk ist äußerst solide und die Hintergrundswelt sagt mir sehr zu.
Lang:Ich bin schon ziemlich lange auf der Suche nach einem Fantasy-Regelwerk, dass mir zusagt und mit dem ich auch lange (sprich: Kampagnen) spielen kann.
Es sollte nicht zu komplex sein, nicht zu simpel, nicht so grobkörnig in der Auflösung aber eben auch nicht so frickelig, dass die Spielenden zu Buchhaltern werden.
Und die Spielwelt sollte mir zu sagen und intuitiv genug sein.
Midgard passt da wie Faust aufs Auge.
Ich hatte mir schon M4 angeguckt, das aber viel zu kompliziert angelegt und sich für mich aus so las, was wäre es mit der "Besserspielerattitüde" aus den 90ern geschrieben worden.
Das (beides) hatte mich schon bei DSA abgeschreckt, wobei bei DSA noch hinzukommt, dass mich der von mir empfundene "Konformierungsdrang" (DSA-Sprech zu verwenden, im Kampagnen und Hintergrundswelt Kanon zu bleiben und zu schwelgen) nicht nur abtörnt, sondern schlicht verjagt.
Dazu kommt: Ich hasse (!!!) Splat-Books.
Ein monatlich erscheinendes weiteres Quellenbuch, dass mir meine mühsam angeeigneten Regeln durch Zusatzoptionen durcheinanderwirbelt und die Rüstungsspirale erneut ergänzt, ist für mich totales K.O. Kriterium.
Andere mögen sich daran aufgeilen, mich nervt es völlig ab.
Ich mag Quellenbücher, aber eben als Quellen, die ich nutzen oder weglassen kann, meistens in Form von Quelltexten, nicht von Crunchy Bits und zusätzlichen Professionen.
"Hallo Spielleiter, kann ich den Nuklearbastard aus dem neusten Quirkbook spielen? Der kann nur einmal pro Stunde eine taktische Atombombe zünden und überstehen, ist also völlig harmlos..."Nee, geh mir weg mit D&D und Pathfinder und wie sie alle heissen...
Bei Midgard ist es herrlich unaufgeregt.
Du kaufst ein Regelwerk (Kodex und Arkanum) und damit spielst Du. Und wenn Du wirklich Lust auf magischen Scheiß hast, dann kaufst Du noch das Mysterium.
Es ist aber kein Muß (das Mysterium) und es stecken auch keine bösen Überraschungen drin oder Zeug, das Deine Spieler völlig aufgeilt.
Also: 2 Bücher kaufen und spielen. Und das jahrelang!
Genau das will ich haben!
Die Regeln sind solide - anders kann ich es nicht sagen.
Es gibt Stufen, aber die sind eher begleitend, als bestimmend. (Sprich: Du bekommst EPs und steigst Deine Werte und der Gradanstieg ist ein Nebeneffekt und steuert einige wenige Werte)
Es gibt ein simples Würfelsystem: W20 plus gegen Schwierigkeit (meist gegen 20). Das kann sich sogar eine Spielerin von mir merken, die sich sonst nie eine Regel merken konnte.
Und: Es ist kein Unterwürfeln, man muss also keine Kunstgriffe nutzen, wenn es mit den Spielwerten in irgendwelche kritischen Bereiche geht.
Wenn Du eine Fertigkeit neu erlernst (gegen Ausgabe von EP und Geld), dann erwirbst Du sie nicht von +0 auf +1 und beginnst einen mühsamen Anstieg, sondern Du kaufst Sie und hast sie dann auf +12 oder +8 oder so, also besitzt Du in dem was Du kannst gleich eine gesunde Anfangskompetenz. Und danach kannst Du sie weiter verbessern.
Die Regeln sind auch in soweit solide, dass man nicht am Anfang die völlige Niete zieht und am Ende den universumszertörenden Übermax. Das Ganze bleibt im überschaubaren Rahmen. Und das gilt auch für Zauberer .
Was ich besonders gelungen finde, das ist der Kampf. Die ewige Streiterei um "welchen Sinn macht eine aktive Parade" ist bei Midgard sehr elegant gelöst.
Der Angreifende würfelt zunächst einmal gegen die 20. Misslungen ist "keine Gelegenheit auf einen Angriff (vorhanden oder genutzt)".
Ist der Angriff gelungen, würfelt der Verteidiger seinen Abwehrwurf (also Parade). Mißlingt das nimmt der Angegriffene Schaden (abzüglich Rüstung etc. etc. pp.).
Der Schaden ist schon so, dass man ungeschützt nach wenigen Treffern (2-4) kampfunfähig ist und kritische Treffer können das auch abkürzen.
Aber unabhängig vom Abwehrwurf, verliert der Angegriffene Ausdauer, wenn der Angriffswurf erfolgreich war. Sinkt Ausdauer auf 0, dann sinken die Kampfeswerte erheblich, weil der Kämpfende erschöpft ist.
Das ist insofern sehr clever geregelt, als dass ein erfahrener Kämpfer nicht nur die besseren Werte hat - er hat auch mehr Ausdauer.
Er wird also nicht nur eher seinen Gegner besiegen, sondern auch noch länger im Kampf aushalten. Trotzdem wird er einer zahlenmäßig überlegenen Truppe nicht ewig standhalten.
Nimmt man dann noch den Punkt zur Kenntnis, dass das Wirken von Zaubersprüchen ebenfalls (statt irgendwelchen Astralpunkten) auf die Ausdauer geht,
und damit die eierlegende Wollmilchsau (
"erstmal zauber ich und geht das nicht mehr, ziehe ich das Schwert") auf simple Weise ad absurdum geregelt wurde,
dann halte ich das ganze System für das beste, das mir persönlich bekannt ist.
Zumal diese Regelung hier bereits viel komplizierter klingt, als sie im Spiel von der Hand geht.
Was anderes: Midgard ist natürlich kein hochbrisanter Indyscheiß, der hier sonst immer im Forum gehyped wird.
Aber gerade das macht es sexy, finde ich. Den Indyscheiß, für den Tanelorn immer Raum hat, brauche ich nämlich kaum noch.
Denn die meisten guten Techniken, die da das Spiel bereichern kann ich mitlerweile auch so und in jedem klassischen Rollenspiel umsetzen.
Und schaut man sich Midgard an, dann bin ich mir sicher: Das wirds auch noch in 20 Jahren geben.
Den heißesten Scheiß von morgen wird übermorgen aber keine Sau mehr kennen und spielen.
Und ich brauche diesen ganzen System ADS nicht mehr. Ich will endlich mal ein System nehmen und spielen und spielen und spielen, bis ich in Rente gehe.
Ich stehe den Hypes hier seit dem Hype um das Uni-System ohnehin erst einmal vorsichtig bis skeptisch gegenüber.
Und ich brauch dieses ganze euphorisch Kram kaufen, um ihn zu bejubeln, zu lesen, auf dem Boden der Tatsachen aufschlagen und den Kram zu verscherbeln, nicht!
Bei Midgard ist sehr schnell ersichtlich, worauf man sich einläßt. Es macht keine Versprechen die es nicht halten kann.
Man geht an Midgard nicht super-euphorisch heran, weil es recht bodenständig daherkommt. Aber man wird eben auch nicht enttäuscht.
Und das ist mir 100x lieber als jede hochgejubelter Kram, der dann nach kurzer Zeit wieder Schnee von gestern ist, während die Meute der nächsten Sandale, die von Brians Füßen fiel, folgt...
Was mir dann noch sehr gefällt ist, dass die meisten Begrifflichkeiten so benannt sind, wie es mir intuitiv in den Sinn kommen würde.
Es gibt Eigenschaften und Fertigkeiten und die heissen auch so und nicht Attribute und Talente oder sonstirgendwie.
Es gibt Lebenspunkte und Ausdauer und Geschicklichkeit heißt eben genau so.
Auch bei der Benennung der Fertigkeiten muß ich nicht viel oder lange überlegen (es gibt glaube ich eine Sache bisher, wo wir mal nachlesen mussten).
Der Spielleiter heißt Spielleiter und nicht Meister und die Texte sind nicht so schwurbelig geschrieben, dass man den Eindruck bekommt, da würde ein Mittelaltermarkt-Hansel einem was verkaufen wollen.
Das ist sehr sehr angenehm!
Die Spielwelt...Ich habe mit vielen Settings inzwischen ein Problem. Im Fantasy-Sektor rutschen mir die meisten Settings immer mehr in die "Neuzeit", also in die Rennaisance.
Wenn ich irgendwelche Rüschenhemden bewehrten Großstadt-Helden spielen möchte, dann nehme ich mir ein Mantel & Degen Setting.
Und das gleiche gilt für mich eigentlich auch für Kanallien in Plattenpanzer und Vollrüstung, die mindestens dem 100 Jährigen Krieg entsprechen oder später.
Ich hab es lieber etwas "älter". Kettenhemden ja, Schuppenpanzer auch - aber das reicht dann auch.
Und das gleiche gilt auch für "Staatsgebilde" und anderes.
Ich hab lieber Wikinger und später Keltenkram und so. Und lose Staatsgebinde mit kleinen Königreichen und Fürstentümern statt riesigen Nationen.
Und lieber ein Fantasy wie die Robin Hood TV Serie aus den 80ern anstatt ein Xenia und Herkules Fantasy. Schmutziger, nicht so quietschbunt, erdiger.
Wer die Blades Romane von Joe Abercrombie kennt, und daraus die Nordmänner extrahiert, der weiß, was ich ungefähr möchte.
Ich brauche es nicht, jeden Bauernhof zu kennen, mich interessieren dafür eher robe Strukturen. Ich kaufe ohnehin keine Abenteuer, sondern stricke meine selbst.
Und schon gar nicht will ich ein Setting- und Corestory-Korsett haben, dass mich einengt und meine konsruktive Ader einschneidet.
Dafür lieber Größe und Weite. Viel Platz zum austoben...
Midgard ist da ideal. Es hat auch Quietschbuntes aber das ist dann eben Indien oder der Orient.
Und das liegt auch eine Weltreise entfernt. Dahin verirrt man sich nicht mal eben und wenn, dann ist es ein berechtigter Kulturschock.
Mir fallen inzwischen immer wieder Fantasykomponenten auf, die man fast 1:1 so in Midgard machen kann.
Song of Ice and Fire - dreckiger Krieg um die Krone zwischen verfehdeten Adelshäusern: Alba (wenn man den ganzen Inzestschwachsinn und dergl. wegläßt, der mich eh nur genervt hat).
Vikings - Waeland aber 1:1
Joe Abercrombie - Blade itself (und die anderen 5 folgenden Romane)...
Midgard als Welt ist gewaltig groß. Ich brauche nur ein fünftel dessen, was man machen könnte.
Deswegen kann ich mir nicht vorstellen, wieso es jemand langweilig werden könnte...
Ich glaube inzwischen, dass es mir nicht alleine so geht.
Viele haben keinen Bock mehr auf "Meister, 3W20 und Korsett" und auch keine Lust mehr auf "Crunchy-Bit Orgie und Rüstungsspirale".
Viele stehen genau zwischen dem Taktikspiel D&D (und Derivate) und dem Abenteuerhörbuch-Erzählspiel DSA mit seinem "ich kenne jeden Vorgarten" Aventurien.
Und ich glaube, deswegen bekommt Midgard mehr Aufmerksamkeit.
Und ich glaube: zurecht!
So, nachdem ich so viel positives geschrieben habe eines noch:
Was definitiv derzeit bei Midgard fehlt, das ist eine Weltenbeschreibung! Das ist leider ein erschreckender Mangel.
Die Quellenbücher, die es gibt, beschreiben nicht das typische (europäisch, mittelalterliche) Midgard, sondern andere Kulturkreise.
Die interessanten Quellenbücher (Alba, Waeland) sind lange lange ausverkauft.
Und einen umfassendes Werk über die gesamte Spielwelt existert überhaupt nicht.
Es liest sich viel in Forum, dass da etwas in Vorbereitung ist.
Ich hoffe, denn es ist lange lange überfällig!!! Und für sehr viele interessierte ein K.O. Kriterium.
Was noch fehlt, ist das Bestiarium. Ich habe das aus Midgard 4, aber das bedarf einer Überarbeitung.