Mensch, ich weiß gar nicht, was die ganzen Gruppen da immer haben mit ihren leidenden Charakteren. Sie könnten ja proaktive, heldenhafte Figuren schreiben, aber nein, die greifen lieber auf Waschlappen zurück, die ständig und überall scheitern müssen. Wahrscheinlich ergötzen sie sich noch daran, dass sie da Persönlichkeiten vor sich haben, die an Panik, Paranoia, Herzschmerz oder Weltschmerz zugrunde gehen. Misery Porn eben. Die schlimmste Form ist ja dieses ganze Romantik-Geseier...
Okay, das war das Schlimmste, was ich seit langem im Rollenspielzusammenhang gelesen habe!
Zugegeben, ich habe es gerade selbst geschrieben, aber nur, damit etwas da ist, wo ich mit meiner Argumentation ansetzen kann. Denn der Begriff des Misery Porn ist, gerade im Zusammenhang mit Blechpirats "Rollenspielkarneval der Liebe", ein sehr perfider Begriff, der einer ganzen Gruppe von Rollenspielern einen Spielstil unterstellt, der auf keinen Fall dem entspricht, was diese Gruppe als Spaßquelle beim Rollenspiel identifizieren würde.
Nehmen wir das kurz einmal auseinander: Misery ist englisch für Not, Kummer, Elend. Und Porn ist... nun ja... Pornographie. Also eine Leidens- oder Elends-Pornographie.
Ich will hier niemanden diskriminieren (es ist mir also durchaus bewusst, dass es Leute gibt, die Pornographie aus ästhetischen oder gar künstlerischen Gesichtspunkten heraus konsumieren)... aber Porno-Konsum findet primär zur sexuellen Triebbefriedigung statt. Darauf ist ein Großteil der Pornographie auch ausgelegt.
Analog würde Misery Porn ein wahrscheinlich psychologisch gedachtes Bedürfnis nach Elend befriedigen. Und zwar nach dem Elend und Leid anderer Leute. Aufs Rollenspiel übertragen würde also eine Gruppe, die Misery Porn am Spieltisch hat, bestimmte Charaktere im Spiel in Situationen bringen wo sie leiden und leiden und leiden und leiden. In der Diskussion um Romantik im Rollenspiel wurden vor allem die Spielercharaktere in dieser leidenden Rolle gesehen. Eben leiden durch Herzschmerz, verflossene Liebe oder Liebe, die nicht sein kann/nicht sein darf. Der Zweck, die Charaktere in solche Situationen zu bringen, ist also der, sein Bedürfnis nach Leid zu befriedigen... ganz anders als beim Abenteuer-Rollenspiel, wo Action und Heroik eben das Bedürfnis nach Abenteuer befriedigen.
Diese Analogie ist auf so vielen Ebenen einfach falsch! Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll!?! Ich würde sogar sagen: Misery Porn ist in diesem Zusammenhang ein Kampfbegriff.
Warum?
Naja, also erstmal will ich nicht ausschließen, dass es Spieler gibt, die sich am Leid ihrer Charaktere ergötzen - und das sage ich ohne irgendwen zu verurteilen oder seinen Spielstil in Misskredit zu bringen. Es gibt eben Spieler, denen es allein darum geht, dass ihre Charaktere leiden... und leiden und... ihr kennt den Rest! Tatsächlich ist es nach meinem Verständnis aber so, dass, wenn es einem Spieler nur um das Vorhandensein des Leidens und des Kummers am Spieltisch ginge, er wohl kaum wollen würde, dass die Charaktere jemals in einen Zustand kommen, in dem sie nicht mehr leiden.
Und hier liegt der Knackpunkt!
Die meisten Rollenspieler - behaupte ich jetzt mal ganz en challant - die emotionale Dramen, Tränen, romantische Verwicklungen, etc. am Spieltisch haben wollen, wollen auch dass diese Dinge im Verlauf des Spiels aufgelöst und überwunden werden. Ich persönlich halte Rollenspiel ohne Drama, ohne Romantik und ohne emotional belastende Situationen für mich selbst nur bedingt für reizvoll. Mir würde eine wesentliche Spaßquelle fehlen.
Diese Spaßquelle ist aber nicht das Leid an sich selbst: Ich will nicht, dass meine Charaktere auf Teufel komm raus emotional gefoltert werden. Ich will, dass sie dieses Leid überwinden. Dass sie dafür kämpfen, dass es ihnen wieder besser geht. Dass sie sich proaktiv an der Welt abarbeiten. Dass sie an diesen Hindernissen wachsen. Kurz: Dass sie Helden sind!
Nochmal zurück zum Beispiel Beziehungskisten: Zwischenmenschliche Beziehungen, gerade die, die romantischer oder sexueller Natur sind, sind die Triebfedern für einige der besten Geschichten der Menschheit gewesen. Sie sind Motoren der Handlung. Sie sind Steine des Anstoßes. Probleme. Hindernisse. Trigger.
Misery ist also nur der Ausgangspunkt, an dem ein Charakter sich befindet - natürlich hat ein Charakter im Laufe einer Kampagne viele solche Ausgangspunkte. Sie ist der Inciting Incident, der Catalyst wie Blake Snyder oder der Call to Adventure wie Christopher Vogler sagen würde. Und da haben wir auch einen interessanten Punkt: Auf die Misery folgt das Adventure. Abenteuerrollenspiel ist also mitnichten die Alternative zu "Emo-Rollenspiel". Vielmehr sind es häufig Abenteuer, die durchlaufen werden, damit ein Charakter die Quelle seines Leids überwindet. Denn seien wir ehrlich: Abenteuer-Rollenspiel ohne ein Hindernis oder Problem, wahlloses Dreschen auf Monster... würde man sich auf das selbst sprachliche Niveau herablassen müsste man da erneut das "Pornographie"-Bild ins Spiel bringen.
Will ich hier in der Deutlichkeit aber nicht tun. Ist nämlich nicht das, was ein Rollenspieler meint, wenn er Abenteuerrollenspiel sagt.
Wer keine Beziehungen oder romantischen Verwicklungen in seiner Runde bespielen will, der muss das nicht tun. Aber er sollte auch nicht annehmen, dass es den Leuten, die ihre Charaktere in emotionale Dramen stürzen, um irgendeine Form von Triebbefriedigung geht. Meistens geht es ihnen nämlich nur um glaubwürdige Charaktere und gute Geschichten. Denn für sie hängen diese unweigerlich mit zwischenmenschlichen Beziehungskisten zusammen. Wie auch für viele Leute außerhalb des Rollenspiels. Das zeigt der Erfolg von Romantic Comedies und Dramen in Kino und TV. Emotionaler Impact an sich selbst ist eine Spaßquelle.
Und ich persönlich würde nur ungern längerfristig in einer Runde spielen wollen, die Romantik und Beziehungen, auch unter den Spielercharakteren, nicht thematisiert. Wer das nicht will, den würde ich aber auch nicht zwingen. Am Ende geht es mir darum, dass jeder seinen Spaß hat.
Und das, ohne dass ich ihm gleichzeitig einen schlüpfrigen Browserverlauf vorwerfen würde.