OveMein erster Impuls ist es von dem Strudel fort zu kommen. Ihm zu entfliehen. Es scheint nicht sinnvoll in einen Strudel zu springen, der alles um einen herum zu verschlingen scheint.
Ich ziehe Kristine an den leblosen, aber doch eben noch belebten Figuren, der ehemaligen Zuschauer vorbei und in Richtung des Foyers.
Die offene Tür zum Foyer lockt mit vermeintlicher Sicherheit. Doch ist dahinter wirklich Sicherheit? Hat sich diese "Realität" nicht auch ständig verändert? Gingen wir dort nicht erst eine Treppe hinab, bis wir dann doch eigentlich eine schier endlose Treppe hinaus gingen?
Alles ist irreführend. Es scheint als wäre es gerade das Ziel dieser Umgebung uns in die Irre zu führen.
Wir sind an der Tür angekommen, ich schaue mich noch einmal um. Ich sehe, wie sich die Holzdielen biegen, dabei aber kein Geräusch machen. Es ist ein ohrenbetäubend leises Tosen. Kein Geräusch ist zu hören, doch eigentlich müsste das Holz doch knirschen? Oder habe ich noch ein Knalltrauma von den Schüssen?
Dann höre ich Kristines Stimme. Ich schaue sie an, sehe wie sie spricht, doch kommt ihre Stimme nicht von ihr, sondern aus dem Raum. Durchbricht die dröhnende Stille.
Rezitiert sie aus de Bibel? Das ist untypisch für Kristine. Sie hat sich immer mal wieder mit der Bibel beschäftigen müssen - aber doch nur rein beruflich, rein wissenschaftlich, nicht aus Überzeugung oder gar aus Glaube heraus. Sie ist evangelisch getauft und auch konfimiert. Wie es in unserer Heimat verbreitet ist. Doch hat sie nie sonderlich geglaubt. So zumindest hat sie es mir gesagt. Und sie erzählte mir noch, dass sie nach dem Vorfall in Lodon noch viel weniger als einen biblischen Gott glaubt.
Aber natürlich kann das trotzdem ausreichend Wissen sein, um nun einen Psalm zu zitieren.
"Stine... wovon redest du?", frage ich noch bevor ich realisiere, dass es gar nicht genau sie ist, die das sagt. Der Raum spricht zu mir. Als ich uns durch die Tür ins Foyer treiben will stelle ich fest, dass die Tür verschwunden ist. Ein Riss in der Tapete ist zu erkennen, aber keine Tür, kein Tor, kein Ausgang.
Unmerklich drückt Kristine meine Hand und ihre Stimme wechselt in eine fremde Sprache.
Welche Sprache ist das? Griechisch?
Zitiert sie hier aus ihren Arbeiten zur Doktorarbeit? Aus ihrem Studium?
Nein.
Das glaube ich nicht. Ich verstehe ihre Worte nicht, doch habe ich das Gefühl, dass sie mir Sicherheit vermitteln möchte, dass sie sich entschuldigen möchte. Oder möchte sie sogar die Schuld auf sich laden?
"Kristine... ich verstehe dich nicht. Sprich doch bitte in einer Sprache, die ich auch verstehen kann."
Noch immer halte ich den Revolver in meiner Hand. Noch immer befinden sich einige Kugeln in der Trommel.
Ich muss nachsehen, was hier vor sich geht. Ich lasse Kristines Hand los und reiße mit der nun freien linken Hand an dem schmalen Spalt, der ehemals die Tür war. Einiges löst sich, doch dahinter ist ... nichts.
Schwärze.
Nein, keine Schwärze... weniger als das. Dort befindet sich die Abwesenheit von ALLEM. Kein Licht, keine Farbe, keine Zeit und erst recht keine Materie.
Einen kurzen Bruchteil eines Augenblicks habe ich das Gefühl mir würde alles aus dem Kopf entweichen. Oder etwas in meinen Kopf kriechen. Als wolle sich ein Stück meines Verstands verabschieden und in das nichts, das nicht einmal nichtige, nicht existierende, unbegreifliche Nichts gehen um es zu füllen. Doch es passiert nicht. Als würde ein Stück meines Geistes bereits fehlen, das Stück das hier entweichen wollte... sollte... müsste... könnte.
Ein Bild erscheint vor meinen Augen...
https://a2cmasques.files.wordpress.com/2013/07/sans-titre-3.jpgIch drehe mich abrupt um. Wende mich Kristine zu.
Doch Kristine ist fort... sie ist weg... nicht da.
Dort wo sie eben noch stand sitzt nun eine höchstens 30 cm große, liebliche, freundliche Holzpuppe. Ihr mädchenhaftes Gesicht wird von dunkelblonden Haaren gekrönt, die in Kristines modischem Haarschnitt ihren hölzernen Kopf umschmeicheln. Es ist die Art Holzpuppe, wie ich sie aus meiner Kindheit kenne. Die Puppe trägt das Kleid, das Kristine eben noch getragen hat und scheint mich mit ihrem klaren Augen freundlich und aufmunternd anzusehen.
"Nein!", stöhne ich.
Mir brechen die Beine unter dem Körper zusammen.
Kristine. Sie war also auch nur ein Trugbild? Gehalten durch meinen Willen? Durch meine Anwesenheit? Durch den Körperkontakt hier gehalten?
Ich sacke auf die Knie und schaue die Puppe an.
Ich will sie aufheben und mitnehmen. Aber ich kann nicht. Als ich sie greifen will, greife ich ins Leere. Die Puppe sitzt nun genau wie zuvor vor mir. Aber genau außer meiner Reichweite.
Ich brauche einen Moment ehe ich es noch mal versuche. Wir müssen doch beide hier raus... wir... und Clive. Er scheint doch der einzige hier gewesen zu sein, der normal war... so wie ich. Mit Zweifeln an dem was hier passierte. Der mich auch vorher noch beglietet hatte.
NEIN! Ich muss nicht Kristine hier mitnehmen, wenn dann wäre es Clive. Kristine ist genauso wenig real gewesen, wie es das Publikum hier war und ist.
Ihr kleiner spitzer, aufgemalter Puppenmund öffnet und schließtlich und erneut erschallt Kristines Stimme aus dem Raum: "Es wird dir kein Übel begegnen, und keine Plage wird zu deiner Hütte sich nahen.", wiederholt sie was sie bereits zuvor gesagt hat.
"Kris....", ich breche ab, als ich merke wie absurd es ist eine Puppe mit Kristines Namen anzusprechen. Dann fahre ich dennoch fort: "Was willst du mir damit sagen? Ist es vollbracht? Ist die Menschheit sicher? Ist die Welt sicher? Wo soll ich nun hin?!"
Ich warte weiter ab, während der Strudel sich weiter dreht, ohne dabei größer zu werden. Doch die Puppe antwortet mir nicht, sie schaut mich ohne zu blinzeln an. Doch ihr Mund bleibt dieses Mal starr.
Ich erhebe mich und versuche erneut die Puppe zu greifen. Doch es gelingt mir wieder nicht. In dem Moment in dem ich die Puppe eigentlich berühren müsste, gibt es ein kurzes Flakern, als wären meine Sinne kurz ausgeschlatet worden, als wäre ich kurz geblendet worden. Währenddessen greife ich ins Leere und als ich wieder sehen kann sitzt die Puppe wieder außerhalb meiner Reichweite. Ich versuche es erneut, diesmal schneller. Doch wieder gibt es diesen hellen Blitz vor meinen Sinnen und ich greife daneben.
Schweren Herzens stehe ich auf. Ich schaue mich nochmal um, doch die Fassade bröckelt weiter. Und ich weiß, dass ich nicht in Kontakt mit der Leere hinter der Fassade in Kontakt kommen möchte.
"CLIVE! Wo bist du?!", rufe ich noch einmal laut.
Ich gehe auf den Strudel zu. Den Revolver noch immer in der Hand, doch ohne Kristine an meiner Seite. Doch ich bin ihr dankbar für ihre Unterstützung, auch wenn sie nicht real war. Aber was ist hier schon real?
Ich erwarte eigentlich von den strudelnden Bodendielen mitgerissen zu werden. Doch nichts dergleichen passiert. Ich kann über die Bodendielen gehen, wie über einen dicken, weichen Teppich. Ich merke ein gewisses Pulsieren, eine Bewegung, doch reißt sie mich nicht fort.
"CLIVE?! Kristine?!", brülle ich in Richtung des hellen Lichts aus dem Strudel.
In dem Moment reißt es mich von den Füßen. Ich beginne über dem Strudel zu schweben, werde von dem Licht geblendet, doch kann ich trotzdem sehen. ich meine einen menschlichen Schemen auf der anderen Seite zu sehen. Einen Schemen, der näher kommt, seinen Arm ausstreckt und dessen Arm mir immer kommt. Ist es Gottes Hand, die mich greifen will?
Ich will den Revolver auf diese Hand richten, auf den Schemen und erneut feuern. Doch ist der Revolver verschwunden. Noch immer schwebe ich ohne etwas ausrichten zu können über dem Mittelpunkt des Strudels.
Eine riesige Hand... eine Hand, die fast so groß ist wie ich selbst, kommt aus dem Strudel, sie greift nach mir. Klammert sich an mir fest. Es ist fast ein flehentlicher, verzweifelter Griff. Ich habe das Gefühl ich müsste zerquetscht werden. Doch kann ich noch immer atmen.
Ich erwarte zu sterben oder hier herausgezogen zu werden. Doch es ist als könnte Gott nicht entscheiden, was er mit seiner Hand machen wil.
Weiter zudrücken? Mich zerquetschen wie eine lästige Fliege? Oder mich herausholen, wie einen ertrinkenden im Moor oder wie den letzten Bonbon, der sich hartnäckig in der Spitze der Naschwerktüte verklebt hat?
Es dauert eine schiere Ewigkeit, bis sich die Hand bewegt, mich erst weiter in den Saal hineindrückt, dann zieht mich diese riesige Pranke weiter ins Licht. Immer näher. Langsam, aber beständig. Fast unaufhaltsam werde ich weitergezogen.
Ich erinnere mich plötzlich an .... etwas. An das Licht. Das Licht das aus der Tür im Boden kam...
Ich versinke im Licht... gehalten von der Hand....
Alles .......
...... ist .......
........ weiß.....