Zunächst sorry für den langen Post. Tochter ist im Bett und
wie angekündigt habe ich mir Mühe gegeben und einen für mich neuen Punkt zusammengeschrieben. Vielleicht findet Ihr das ja ebenso erhellend und spannend wie ich. Würde mich freuen.
Ein seit Jahren immer wieder beliebtes Thema in Rollenspielforen sind Eingriffe von Spielleitern in die Handlungsoptionen von Spielern anhand der berühmt-berüchtigten "goldenen Regel" (auf die Schnelle definiert als Metaregel, welche es dem SL nach Bedarf erlaubt, die anderen Regeln zu brechen; bitte darüber ebenso wie über die anderen Begrifflichkeiten keine Definitionskriege starten; danke!). Um diese goldene Regel herum hat sich erstens ein ganzes Arsenal an "Fachbegriffen" gebildet, die mehr oder weniger sinnvoll erscheinen: Railroading, Trailblazing, Illusionismus, Partizipationismus, Storytelling, Würfeldrehen, Roads To Rome und vieles mehr. You name it. Ganze Essays wurden verfasst über den Umstand der vorgeblichen Unvermeidbarkeit von Story-Hoheit beim Spielleiter und Charakter-Hoheit bei den Spielern, etwa "
The Impossible Thing Before Breakfast". Mit den ganzen Begrifflichkeiten kann ich wenig anfangen und finde sie eher verwirrend als hilfreich. Die Vielzahl verdeutlicht aber die Wichtigkeit des Problems.
Was mich dabei fasziniert, ist das Meinungsspektrum in Bezug auf die goldene Regel. Die gravierend unterschiedlichen Haltungen sind meiner Ansicht nach noch nie richtig beschrieben und erklärt worden. Das ist merkwürdig, weil sich daraus massive Auswirkungen auf die Praxis am Spieltisch ebenso wie für das theoretische Verständnis von Rollenspielen ergeben. Mich treibt insbesondere die Frage um:
Warum gelangen aufgeklärte Rollenspieler zu so drastisch unterschiedlichen Bewertungen der Nützlichkeit und Angemessenheit der goldenen Regel im Rollenspiel?Ich finde, dass das ein ganz entscheidender Punkt ist, und versuche den zu beantworten.
In einer Umfrage hier im Forum antworten beispielsweise knapp 40% der Spielleiter, beim Spiel an den Würfeln zu drehen. Der Rest verneint das.
Hier. Die Diskrepanzen in der sich ergebenden Diskussion erscheinen unüberbrückbar. Zudem reden wir hier nicht über irgendwelche DSA-Highlords mit übersteigertem Machtmotiv und auch nicht über irgendwelche Vollhonks, die zu lange im eigenen Saft geschmort haben. Nein, die knapp 40% aus dem Tanelorn dürften mehrheitlich das sein, was ich unter aufgeklärten, erfahrenen, reflektierten Menschen verstehe. Zumindest nehme ich einen Großteil der Leute, die sich im Thread entsprechend äußern, so wahr (Luxferre, Rhyaltar, Blizzard etc.). Die Argumente sind vollständig ausgetauscht, eine Einigung ist nicht in Sicht. Die Mehrheit im Tanelorn lehnt Würfeldrehen kategorisch ab. Warum ist das so?
Parallel scheint es für mich zwei "Lager" derjenigen zu geben, die die goldene Regel konsequent ablehnen. Dabei handelt es einerseits um die Leute, denen diese Metaregel aus der Perspektive der Regelverletzung gegen den Strich geht. Hintergrund ist da vornehmlich die Verletzung der Weltensimulation bzw. die unzulässige Manipulation von Herausforderungen. Da geht es sehr viel um Transparenz, klare Regeln und Mitwirkung am Spieltisch, in Summe also die sogenannte Verfahrensfairness. Die Anwendung der goldenen Regel führt zu Verletzungen gleich aller drei Prinzipien von Verfahrensfairness. Dazu gab es schon mal einen längeren Thread hier im Forum. Es gibt Gründe, weshalb die begeisterten Simulationisten die guten Sandboxes und co. die Dinger so mögen und genau so handhaben. Mehr
hier. Ich kann nachvollziehen, weshalb man das super finden kann, auch wenn es nicht so mein paar Schuhe ist. Ich kann auch nachvollziehen, weshalb man die goldene Regel vor diesem Hintergrund als Verletzung grundlegendster Prinzipien empfindet bzw. fast sogar empfinden muss.
Parallel scheint es eine wachsende Gruppe von Personen zu geben, welche Rollenspiel gerne stärker aus einer Metaperspektive betreiben. Das Erstarken von FATE und Storygames ist für mich damit eng verbunden, Begriffe wie Player Empowerment sowie eine Demokratisierung des Spieltisches sind zentrale Elemente der Ansätze. Auch aus dieser Warte muss die goldene Regel natürlich vollkommen absurd wirken, denn sie läuft selbstredend dem Player Empowerment ebenso wie der Demokratisierung des Spieltisches komplett entgegen.
Nun bleibt jedoch die dritte Gruppe, bestehend aus aufgeklärten, reflektierten, erfahrenen Rollenspielern, die die goldene Regel dennoch schätzen. Warum nur? Man könnte einerseits mit den Nachteilen beispielsweise von Player Empowerment argumentieren, welche einige Leute dann halt doch nolens volens wieder zur goldenen Regel greifen lassen. Sowas wurde
hier im Forum schon mal diskutiert, ist aber leider nur unzureichend reflektiert und in der Folge abgeschmettert worden. Schade, aber nicht zu ändern.
Vielversprechender an dem Punkt, wo wir heute stehen, erscheint mir eine andere Perspektive. Und nun kommen wir zu J.R.R. Tolkien und seinem Essay namens "On Fairy-Stories". Ich hatte mir den Text damals reingezogen, weil ich mir ein paar Kniffe und Tricks zum Settingdesign vom Meister erhofft hatte. Da meine Lektüre schon einige Jahre zurückliegt und das Essay ebenso langen wie zutreffenden Eintrag bei Wikipedia hat, verweise ich fauler Weise für eine intensivere Orientierung darauf
Hier.
Wichtig für das Verständnis des zentralen Punktes ist die sogenannte "Suspension of Disbelief". Im Deutschen wird das Phänomen auch "Willentliche Aussetzung von Ungläubigkeit" genannt. Der deutsche Begriff war mir aber nicht geläufig und deshalb bleibe ich beim Denglischen in diesem Fall. Kern dieser Suspension of Disbelief ist der Wille des Lesers/Zuschauers/Rollenspielers, "sich auf eine Illusion einzulassen, um dafür gut unterhalten zu werden." Mehr
hier. Einerseits muss ich in Diskussionen über goldene Regel in all ihren Varianten immer wieder an die Suspension of Disbelief denken.
FATE und Storygames (bitte auch hier keine Definitionskriege darüber, was FATE und Storygames sind etc.; danke!) gefallen mir nie so richtig gut. Der zwangsläufige Wechsel auf die Metaebene und das ganze Metaspiel sind für mich inkompatibel mit echtem Empfinden und wirklichem Mitfiebern. Ich kenne viele Leute, denen es ebenso geht. Das ist ein Grund, weshalb ich mit FATE & co. trotz vielfacher Versuche niemals so richtig warm damit geworden bin. Es ist mir außerdem intellektuell vollkommen klar, warum viele andere Leute eine solche Freude an diesen Spielen empfinden. Alles in Ordnung. Meine Sache ist das jedoch nicht, insbesondere weil meine Suspension of Disbelief zu schnell bricht. Hätte ich die Wahl zwischen Storygames und Rollenspiel mit goldener Regel, würde meine Wahl direkt und ohne Nachdenken auf die goldene Regel fallen. Scheiß auf Metaspiel, ich will drinbleiben im "richtigen" Spiel. Soll der SL bitte was machen, dass es weitergeht und ich bin happy damit. Das muss für Storygamer eine ziemliche Horrorvorstellung sein. Alle gut, jedem Tierchen sein Pläsierchen. Damit verstehe ich nun aber schon einmal das Zustandekommen der unterschiedlichen Wahrnehmungen der "Nützlichkeit" der goldenen Regel zwischen den Storygamern und mir.
Ein bisschen anders verhält es sich mit den Verletzungen der Verfahrensfairness durch die goldene Regel. Laut Tolkien ist für die Akzeptanz eines "secondary beliefs" (ergo etwa einer Fantaswelt) eigentlich gar keine "Suspension of Disbelief" notwendig. Damit eine Fantasywelt oder ein Märchen oder eine Fiktion akzeptiert wird, muss nach Tolkien eine interne Konsistenz und ein klares Regelgerüst bestehen. Erst wenn die Konsistenz durchbrochen wird, muss in einem Willensakt eine Suspension of Disbelief auf Kosten von Immersion wiederhergestellt werden. Ich fand das damals schon merkwürdig, denn es entspricht nicht meinen Erfahrungen. Wer bin ich aber, dass ich Tolkien im Bereich der Weltenschöpfung in Frage stellen würde? Mittlerweile glaube ich aber inspiriert durch die vielen Diskussionen in Rollenspielforen, dass das letztlich einfach eine Frage der persönlichen Präferenzen ist. Schließlich würden Tolkien an Rollenspielen mit absoluter Sicherheit die Simulationsgranaten ansprechen. Ich versteige mich darauf: Tolkien würde Traveller lieben. Natürlich müssen Simulationsfans aus den genannten Gründen aber zwangsläufig sehr kritisch gegenüber der goldenen Regel eingestellt sein. Entscheidend daran: Mir selbst geht es umgekehrt. Die Simulation von Welten im Rollenspiel über Zufallstabellen oder andere Hilfsmittel mag der kreativen Simulation förderlich sein, aber sie kostet Zeit. Man kann diese Zeit minimieren, aber das funktioniert nur bis zu einem gewissen Grad. Schneller ist in jedem Fall der Gedanke des SL. So ähnlich verhält es sich mit herausforderungsorientiertem Spiel. Das Nachschlagen von Verwundungen, berittenem Kampf, Giftschaden, kritischen Treffern oder Sonderfähigkeiten ist fester Bestandteil des Spiels, kostet aber Zeit. Mir ist in solchen Fällen zumeist lieber, wenn der SL handwedelt. Wenn er dabei an den Würfeln drehen muss, nehme ich das gerne in Kauf.
Vereinfacht gesagt: Lieber ein flüssiges Spiel mit goldener Regel als korrektes Vorgehen mit den entsprechenden Verzögerungen. Ich bin ungeduldig, schnell und emotional. Das hilft in vielen Situationen, wirkt sich aber mindestens ebenso häufig hinderlich aus. Es führt insbesondere dazu, dass ich die goldene Regel in einer fitten Runde einer Metaspiellastigkeit vorziehe.
Mit dem skizzierten Gedankengang kann ich nun viele hitzige Onlinediskussionen und das bisweilen existierende, gegenseitige Unverständnis besser nachvollziehen. Vielleicht geht es Euch ja ebenso.
Ansonsten: bitte diszipliniert Euch bei Beiträgen und formuliert insbesondere Kritik respektvoll. Die Kombination aus Ungeduld, Geschwindigkeit und Emotionalität ist in Rollenspielforen ein echter Stimmungstöter. Ich würde den Thread ungerne meinetwegen entgleisten sehen ;-)
EDIT: Typos, Link repariert und sprachliches Glätten.
EDIT EDIT: Eines hatte ich noch vergessen: teilweise lässt sich die Beliebtheit der Oldschool-Bewegung (OSR) sicherlich auch durch den obigen Gedankengang erklären. Wenn ich Simulation, Regeltreue und Herausforderungen haben möchte ohne gewaltige Zeitverluste, dann muss man Komplexität reduzieren. Das Credo "Rulings, not rules" überträgt sehr viel Verantwortung an den Spieler und bittet um schnelle, elegante Anwendung des gesunden Menschenverstandes bei ad hoc auftretenden Regelfragen ("rulings") im Gegensatz zu den rules heavy Simulationssystemen. OSR begleitet das reduktionistische Moment aber nicht nur regelseitig, sondern auch durch das Design. Die radikale Entschlackung der Regeln durch Rückbesinnung auf "die alten Tage" geht einher mit liebevoll-fanzineartigem Design, einer betonten Abkehr von als zu glatt empfundenen Systemen der Großverlage sowie der Rennaissance von klassisch-inkohärenten Abenteuern (gibt da natürlich auch Ausnahmen und lässt sich nicht komlpett pauschal über einen Kamm scheren, logo). Die Vereinfachung, Entschlackung und Rückbesinnung ist im abstrakten Sinne dieses Threads aber nichts anderes als Zeitgewinn und dient nicht zuletzt auch der Verhinderung der ungeliebten Dramaturgien.
Und genau an diesem Punkt schlägt Tolkiens Idee eines secondary beliefs bei mir dann wiederum in Richtung der goldenen Regel aus. Wenn ich mir das Gros an Material für OSR anschaue, dann kann ich das Ausmaß an freudvollem Trash nur mit großer Mühe schlucken. Tolkien hätte dazu vermutlich angemerkt, dass durch das Ausmaß an Inkonsistenz willentlich die Suspension of Disbelief angeworfen werden muss und das wiederum auf Kosten der Faszination geht (oder besser: die Leute aus dem Flow reißt). Das nur als schnelle Ergänzung. Passte hier ebenfalls gut rein. Seit Jahren frage ich mich, was mich an dem OSR-Zeugs so stört. Ich tue mich damit enorm schwer, obwohl ich das eigentlich sehr gerne spielen wollen würde. Ich finde viele OSR-Spiele wie auch deren Autoren und Umgebung total sympathisch. Ich möchte das wirklich mögen. Klappt aber nicht und zum ersten mal verstehe ich, weshalb das so sein könnte. Klar: das Design finde ich abstoßend und die Illus erinnern mich oft an das Gekrackel von Schulkindern. Aber es ist dann doch eher diese reduktionistische Komponente und der Gonzo-Faktor, der mich die Flucht ergreifen lässt. Dank der Überlegungen von Herrn Tolkien wirds mir nun erklärlich ;-)