Ihr tut so, als sei so ein "Exploit" immer eindeutig. Aber oft sind sich Spieler doch uneinig. Und da geht es nicht nur um RAW-Dinge, sondern auch gerade dann, wenn man die Regeln weiter denkt.
Ich gebe mal drei Beispiele.
1) Klassische "Regellücke". In DSA4 habe ich bemerkt, dass ich RAW meinen Rabenschnabel (Reiterhammer) mit einem Parierdolch kombinieren kann. Eine sicherlich ungewöhnliche Kombination und ich finde, man kann darüber nachdenken, ob die Autoren sich nicht dabei etwas gedacht haben, den Parierdolch für alle Einhandwaffen zu erlauben. (Einschränkungen gibt es ja dann bei den Manövern - mit dem Hammer kann man nun mal nicht dieselben Manöver ausführen wie mit einem Degen.) Als ich damit in die Runde ankam - einfach froh, meinen extrem kampfschwachen Charakter mit einfachen Mitteln wenigstens ein bisschen überlebensfähiger zu machen - sind die Spieler da sofort voll drauf eingestiegen: Was soll das denn, das geht doch nicht, "das ist doch klar", langer Rede kurzer Sinn, das wurde dann verboten, weil RAW (angeblich!) nicht RAI war bzw. die RAW-Regel für die anderen Spieler unglaubwürdig war (trägt man einen Hammer, führt ein Parierdolch in der linken Hand nicht zur Verbesserung der Parade) oder das Bild auch einfach zu komisch. Übrigens hat da nicht der SL einfach entschieden (obwohl die gR galt, der SL hatte Recht usw.) sondern die anderen Spieler (!) haben mir erstmal (emotional aufgeladen) erzählt, was für einen Unsinn ich da mache. (Ich möchte fast sagen: den Spielern war wichtiger, dass ich die Kombination nicht führe, als mir wichtig war, sie zu führen - ich fand nur ihre Argumente nicht gut und habe darum diskutiert.) Es wurde übrigens am Ende auch keine Regel umformuliert, theoretisch hätte der nächste ankommen mit einer Keule und Parierdolch. Das Verbot erstreckte sich einfach in dem Moment auf das, was ich gemacht hatte. Es war natürlich den Beteiligten eindeutig, dass man den Parierdolch wohl zumindest mit Hiebwaffen nicht kombinieren kann.
2) Wir spielten mit einem Zauber "Flammenhand". Damit bekommt man Feuer an der Hand und macht Feuerschaden bei Angriffen. Irgendwann habe ich das mal gezaubert, um in irgendwas heißes zu greifen und da etwas rauszuholen, weil für mich relativ klar war, dass der Zauber ja wohl vor Feuer schützt, sonst würde ja die Hand verbrennen. Es entbrannte dann eine Diskussion: Für mich war das ein findiger, aber angemessener Einsatz des Zaubers. Für andere Spieler war das schlicht unmöglich, weil da RAW nicht stand, dass der Zauber vor dem Feuer schützt, da steht nur, dass man eine Flammenhand macht und den Feuerschaden anrichtet. Ich weiß die Mehrheitsverhältnisse nicht mehr. Das war wirklich mal eine Diskussion, die mehr als zwei Sätze brauchte. Ich habe da keine Regellücke ausgenutzt, sondern ja aus der Beschreibung des Zaubers eine Konsequenz gezogen. Ich wäre z.B. auch davon ausgegangen, dass man mit dem Zauber auch Dinge in Brand stecken kann, obwohl das da nicht steht. Wie geht man damit nun um? Ist es wirklich so eindeutig und allen einleuchtend, was die richtige Vorgehensweise ist? Seit dieser Diskussion ist mir übrigens klar geworden, wie wichtig es für Spieler wie mich ist, dass Zauberbeschreibungen auch erklären,
wie der Zauber funktioniert - dann kann man solche Konsequenzen besser extrapolieren. Speziell für Midgard-Spieler: RAW konnte man den Zauber "Funkenflug" super als Verteidigungszauber einsetzen (in M4, k.A. wie es in M5 ist). Als ich den gelesen habe, war ich sogar überzeugt davon, dass das so gedacht ist, weil der Nutzen mir so einsichtig ist. "Gedacht" war es aber eher als eine Art Debuff für Gegner und darum sagen viele: Da RAI ja klar ist, dass es ein Debuff für Gegner ist, darf man den nicht auf sich selbst als Verteidigungszauber zaubern, obwohl das laut Regeltext eigentlich erlaubt wäre. Da frage ich mich immer, kann ja sein, dass es so intendiert ist, aber das muss ja nicht heißen, dass man einen anderen findigen Einsatz gleich verbietet - habt ihr noch nie einen Gegenstand zweckentfremdet?
3) Beyond the Wall ist ein OSR-Ableger, basiert also auf D&D. Dort steht, dass wenn man auf null Hit Points kommt, man medizinische Hilfe benötige, sonst verblute man: Man verliert jede Runde einen weiteren Hit Point, bis man stabilisiert wird. Bei -10 Hit Points ist man tot. Wir haben realisiert, dass an keiner Stelle der Regeln steht, dass man bei 0 HP auch kampfunfähig wird und haben daraus (RAW) geschlossen, dass man ganz heroisch weiter auf den Beinen bleiben kann bis man tot umkippt. Von den Autoren gedacht (habe es schriftlich) war aber, dass man tatsächlich kampfunfähig wird. Nun kann man darüber streiten, wie klar und eindeutig hier RAI gegenüber RAW ist. Und das ist der Punkt.
Man kann darüber diskutieren! Es ist eben nicht eindeutig.
Ich habe einen B.A. in evangelischer Theologie. Was meint ihr, wie toll es wäre, wenn man die Bibel einfach RAW nehmen könnte. Natürlich meinen alle, die die Bibel interpretieren, dass ihre Interpretation die einzig richtige ist, weil "...". Aber dann würden ja nicht andere Konfessionen oder Gruppierungen zu ganz anderen Schlüssen kommen. Dabei spielen auch Prämissen eine Rolle. Texte sind leider nicht selbst-erklärend. Jedes Lesen ist ein aktiver Akt des Verstehens der auch geprägt ist durch Erwartungen, Vorkenntnisse und Absichten. Über manche Perikope in der Bibel könnte man vermutlich ganze Regal mit theologischer Literatur füllen, die nur sagen will, wie man diese Stelle richtig zu interpretieren hat.
Wenn RAI so wichtig für uns ist, müsste die Rollenspieltheorie langsam eine eigene Hermeneutik entwickeln. Statt der Forge lesen wir dann auf einmal Gadamer oder Foucault.
Nun haben wir es aber ja mit einem Spiel zu tun, das in einem sehr eingeschränkten Raum stattfindet und haben keinen heiligen Text vor uns, der unser ganzes Leben anleiten und bestimmen soll und über unser Seelenheil entscheidet. Die Konsequenzen einer Regeldiskussion um RAW oder RAI tragen einen manchmal nicht mal eine Minute weiter, dann ist es schon wieder vergessen. Daher möchte ich neben RAW und RAI einen weiteren Begriff stellen:
Read as was wollen wir eigentlich. Warum ist es so wichtig, zu einer vermeintlich richtigen Interpretation zu gelangen - wenn es einen Widerspruch gibt, klar, kann dahinter ein Missverstehen der Regeln stehen. Dann klärt man, was da RAW steht und wenn das
unklar ist (z.B. Kauderwelsch) kann man noch überlegen, was die eigentlich gemeint haben. Aber zentrall sollte die Frage im Raum stehen: Wie wollen ihr - unabhängig von dem, was da tatsächlich steht oder gemeint ist - jetzt weiterspielen? Finden wir gut, wenn der Spieler dies kann oder dem Spieler jenes passiert oder der NSC jetzt das macht? Gefällt es uns, wenn die Regeln so funktionieren oder so?
Auch wenn man herausforderungsorientiert und regeltreu spielen, sollte man sich bei der Regel - und das meiner Meinung nach
gemeinsam überlegen - wollen wir denn nach
diesen Regeln wie wir sie handhaben herausforderungstreu und regeltreu spielen? In 99,999999999% der Fälle akzeptiert man die Regeln, wie sie im Buch stehen und allen gleich verstanden werden. Wenn einem etwas nicht gefällt, wird das aber ja angesprochen auch wenn der Text RAW/RAI völlig eindeutig ist (also z.B. mathematisch nachvollziehbar, wie z.B. Berechnungsformeln für Spielwerte). Uns gefallen zum Beispiel 5 Rettungswürfe nicht, wo man 3 Rettungswürfe uns besser nachvollziehbar systematisieren könnte. Das wissen wir im Vorfeld, wenn wir die Regeln lesen und können drüber sprechen (keine Not, dass ein SL uns die Entscheidung abnimmt, wir entscheiden das gemeinsam, sind ja alle mündige Mitspieler). Und sonst wird es vielleicht manchmal im Spiel passieren, dass es eine Unklarheit gibt oder wir merken, dass unser Verständnis anders ist als das der Autoren (z.B. kampfunfähig bei Beyond the Wall) und dann spielen wir so weiter,
wie es uns gefällt und nicht so, wie es RAW oder RAI ist.
Und das ist es auch, was bei der Pam-Krabbé-Rochade mal klar gesagt werden muss: Die Entscheidung der Regel-Änderung war keine Bewertung von RAI, auch wenn vielleicht so argumentiert wurde. Wer weiß schon, ob die nicht vor 3000 Jahren öfter zum Einsatz kam?
Es war eine Entscheidung, wie man das Spiel haben möchte. Irgendwie habe ich so eine Diskussion schon mal gelesen...nur hiess es da "Clever use of game mechanics" vs. "Exploit".
Und Ja, da hat ein "SL" dann entschieden, ob es "as intended" war, ansonsten war es ein Exploit.
Genau darum geht es in meinem Beitrag
. Wobei so ein SL eine gute Kontrollinstanz wäre - ob eine Regel RAI ist wird dann dadurch definiert, ob der SL die Anwendung erlaubt. Damit würde man eingestehen, dass RAI ein relativer Begriff ist, der immer nur für die eigene Runde gilt. Das Problem mit RAI (und auch den Argumenten vieler Spieler in solchen Diskussionen) ist es aber, allgemeingültigen Anspruch zu erheben und aus der Allgemeingültigkeit einen Geltungsanspruch für die eigene Runde abzuleiten. Aber Regeln sind ja keine Gesetze, an die sich die Gesamtheit von Spielrunden halten muss - es gibt ja keine Rollenspielpolizei, die über den richtigen Einsatz wacht. Darum halte ich RAI als allgemeingültige Kategorie für zumindest fragwürdig. RAI ist super, wenn man das
Verständnis einer Regel klären möchte ("ich verstehe diese Regel nicht, was meinen die da?"), aber eben nicht, wenn man die Gültigkeit einer Regel für die eigene Runde diskutiert. Darum ist der SL, der per Autorität entscheidet, gar nicht mal so dumm - nur wird da das richtige Verständnis an die Gültigkeit gekoppelt, es wird also den Eindruck erweckt, dass beides identisch ist. Dabei ist eine Aussage "wir machen das jetzt so" ja gerade eine Entkopplung von Verständnis und Gültigkeit. "Wir machen das jetzt so" beinhaltet ja gedacht die Ergänzung "(egal was in den Regeln steht oder gemeint ist)", das wird nur nicht mehr ausgesprochen.
Es besteht nur keine Notwendigkeit, dass die Entscheidung allein beim SL liegt, man kann auch alle Mitspieler gemeinsam entscheiden lassen
. Die angebliche Notwendigkeit, dass es der SL sein MUSS (siehe Threadtitel) besteht einfach nicht.