So, ich hatte es ja schon angedroht – mein Fazit zu der Diskussion, die ich zum Thema „...und damit reicht es dann!“ losgetreten habe. Da es mir nicht um eine objektive Bewertung der dahinterstehenden Mechanismen ging, sondern nur darum herauszufinden, was
mich eigentlich daran stört, handelt es sich auch um ein
ganz persönliches Resümee, völlig subjektiv und ohne Anspruch darauf, dass mir jemand zustimmen (oder widersprechen) muss.
Meine Ausgangsbeobachtung war ja, dass wir immer häufiger Spielmechanismen antreffen, die es uns erlauben, den eigentlichen Ausgang eines Würfelergebnisses „zu verbessern“ und somit einen Erfolg zu erzielen, den man ursprünglich nicht erzielt hatte. Ich hatte dabei das diffuse Gefühl, dass ich diese Mechanismen eigentlich nicht mag, und habe mich gefragt, warum. Im Laufe der Diskussion haben sich dabei für mich die folgenden Gründe herauskristallisiert.
1. SpielweltkontrolleWie hier im Thread bereits anklang, sind gerade Instrumente wie Gummipunkte ein Werkzeug, mit der der Spieler die Spielwelt über das hinaus kontrolliert, was sein Charakter eigentlich beeinflussen kann. Als bekennender Old-School-Spielleiter ist das für mich etwas, was ich nicht mag. Ich bin ein großer Freund der klassischen Aufgabenteilung aus den 80ern: Der Spieler handelt durch seine Figur, der Spielleiter handelt für die Spielwelt, die Regeln erklären, wie mit Konfliktsituationen umzugehen ist, und die Würfel sorgen für Ungewissheit durch Randomisierung. Durch die Einführung insbesondere von Gummipunkten wird diese Aufgabenteilung ausgehebelt. Dem Charakter ist eigentlich eine Aktion misslungen, und der Spieler sagt einfach: Das gefällt mir nicht, ich habe sie doch geschafft. Und das wiederum gefällt mir nicht, denn es widerspricht meiner altmodischen Sicht auf das, was dem Spieler erlaubt sein sollte und was nicht. Ich wünsche mir, dass der Spieler VOR dem Wurf alles in die Wagschale wirft, was zu seinen Gunsten spricht, aber dann spricht der Würfel.
2. Entwertung von ErfolgenEine andere Frage ist, was so ein Mechanismus eigentlich aus Erfolgen und Misserfolgen macht.
Man kann natürlich lang und breit diskutieren, ob es erstrebenswert ist, auch in der Freizeit mal damit zu leben, dass etwas nicht funktioniert, aber meine persönliche Präferenz ist: Ja, unbedingt. Natürlich rege ich mich auch in dem Moment auf, in dem mein Charakter durch Pech eine Aktion verbockt, die sooo cool gewesen wäre, wenn sie gelungen wäre. Aber würde ich diese kleinen und großen Misserfolge deswegen abschaffen wollen? Nein, auf gar keinen Fall! Und warum? Bin ich etwa ein Masochist? Nein, aber die reale Möglichkeit von Misserfolgen gibt den
Erfolgen erst die richtige Würze. Und ich stehe auf den Rausch des Erfolgserlebnisses – aber nur, wenn es wirklich verdient und nicht nur durch Metagaming erkauft war.
Auf einer etwas abstrakteren Ebene (und Vorsicht, jetzt mache ich mich bei einigen Lesern unbeliebt) glaube ich hier die Fortsetzung eines Trends zu erkennen, der schon mit dem Ersetzen von Würfel- durch Kaufsysteme bei der Charaktererschaffung eingesetzt hat, mit der Abschaffung unterschiedlicher EP für einzelne Charaktere seine Fortsetzung fand, es in Form der Frage „Muss der Spielleiter den Tod meines Charakters verhindern?“ bis in die Gruppenverträge geschafft hat und (wie hier auch schon jemand schrieb) mit OSR sogar schon eine Gegenbewegung inspiriert hat. Die Mehrheit der Spieler (und das war tatsächlich immer schon so) spielt nicht wirklich, um sich herauszufordern, sondern um sich kontrollierte Erfolgserlebnisse verabreichen zu lassen. Was von vielen wirklich gewollt ist, ist die Illusion einer Herausforderung mit weitgehender Erfolgsgarantie, was womöglich auch die ungebrochene Popularität von Railroading-Geschichten erklärt. Ich sehe da tatsächlich eine Parallele zu gewissen gesellschaftlichen Trends der letzten Jahrzehnte, aber darüber könnte ich so viel schreiben (und so viele Leute von Pokemon-Go-Spielern bis Bayern-München-Fans anpissen ), dass ich es an dieser Stelle lieber nicht vertiefe. Aber ein bisschen fühle ich mich beim nachträglichen Korrigieren von schlechten Würfelergebnissen schon wie beim Mensch-Ärger-Dich-Nicht mit einem Fünfjährigen: „Nein, Leon-Matthis, du musst jetzt nicht weinen. Du darfst jetzt nochmal würfeln, und der Papa schmeißt dich auch nicht raus...“3. Häufigkeit der WurfkorrekturIch habe ja selbst angesprochen, dass wir Gummipunkte selbst schon zu einer Zeit „erfunden“ haben, als sie noch längst nicht üblich waren. Allerdings geschah das, um ein – wie wir fanden – Versagen des Regelwerks auszugleichen. Diese Glückspunkte, wie wir sie damals nannten, wurden nur extrem selten vergeben und dienten als reine Lifesaver. Und da liegt ein wichtiger Unterschied zu den Mechanismen, die ich angesprochen habe und die ich mittlerweile in so gut wie allen neueren Regelwerken antreffe: Da müssen die Gummipunkte eben nicht (wie hier irgendwo behauptet wurde) sauer verdient werden, sondern werden meist mit der ganz großen Schaufel automatisch vergeben und können dazu genutzt werden, eine breite Palette von Effekten auszulösen. Es wird also nicht (wie bei uns damals) ein Würfelwurf pro Sitzung korrigiert, sondern nicht selten eine zweistellige Zahl. Für mich stellt sich dann irgendwann die Frage, wozu man überhaupt noch würfelt, wenn das Ergebnis dermaßen häufig nachkorrigiert wird. Es stellt sich allerdings die Frage, ob es hier darum geht, den Spielern besonders viele Erfolgserlebnisse zuzuschanzen (Splittermond), oder ob die Gummipunkte wie bei uns damals in Wirklichkeit dazu dienen, einen Konstruktionsfehler des Regelwerks auszugleichen (Savage Worlds).
4. RessourcenmanagementStörend finde ich auch, dass gerade das Management von Ressourcen oft zu einer Art „Spiel im Spiel“ wird. Es geht dabei darum, seine Ressourcen richtig einzuteilen, an den richtigen Stellen einzusetzen oder auch durch geeignete Aktionen zur richtigen Zeit wieder aufzufüllen. Ich gebe zu, dass ich noch nie Freude an diesem Teil des Spiels hatte, auch als er „nur“ aus der Verwaltung von Gesundheitspunkten, Magiepunkten und Ausrüstung bestand. Schon früh hat es mich gestört, wenn sich das Spiel um Einkaufsbummel, Heiltrankvorräte und die strategisch geschickte Platzierung von Ruhepausen mitten im Dungeon drehte. Aber das konnte ich mir IG wenigstens noch irgendwie vorstellen, weil es letztlich etwas war, was die
Charaktere taten. Die Mechanismen, von denen ich hier gesprochen habe, sind dagegen reine Metaressourcen ohne direkten Bezug zur Geschichte, und damit tue ich mich schwer.
5. Betonung der Metaebene im SpielDer letzte Punkt, der mich an dieser Art von Ergebniskorrektur stört, ist das mechanistische Abdriften in die Metaebene. Ich kenne eigentlich kein System und keine Runde, bei der solche Vorgänge nicht ganz hart im Jargon eines Computer- oder Brettspiels beschrieben würden. „Ich werfe einen Splitterpunkt, um seinen Erfolgsgrad zu verhindern, dann kann er sein Manöver vergessen und der Schaden wird wegen Streiftreffer reduziert. Dann noch Schadensreduktion 3 und ‚Leib aus Licht‘ sowie ein weiterer Splitterpunkt, den Rest soake ich halt.“ Toll. Ich selbst bin ja auf der Skala zwischen Regelspieler und Rollenspieler ganz, ganz stark auf der Rollenspielerseite. Meine Liebe gilt der Geschichte und der Interaktion zwischen den Charakteren; Regeln sind für mich notwendige, aber wenig geliebtes Beiwerk. Die von mir angesprochenen Spielmechanismen bewegen sich aber fast komplett auf der Metaebene und – was es für mich erst schlimm macht – werden von den meisten Spielern auch so ausgespielt. Chruschtschow hat eine der Ursachen in seinem Fate-Beispiel ganz gut beschrieben: beim ersten Einsatz gibt sich der eine oder andere noch Mühe, ein wenig erzählerisches Beiwerk dazuzupacken, aber irgendwann wiederholt sich alles und wird auf die nackten Zahlen und Regelwerkbegriffe reduziert, was ich unschön finde. Gerade aus dem Korrigieren von Würfelergebnissen (also üblicherweise knappen Misserfolgen, die in knappe Erfolge umgewandelt werden) könnte man da aber meiner Meinung nach etwas mehr machen und sich wenigstens eine Begründung aus den Fingern saugen, warum die Aktion jetzt doch noch geklappt hat, obwohl sie eigentlich schon gescheitert schien. Auch das tut aber kaum jemand.
Ich befürchte ja ein wenig, dass sich die Diskussion jetzt wiederholt, dass bereits genannte Argumente erneut vorgebracht und Spezialfälle bis zum bitteren Ende durchdiskutiert werden. Daher sicherheitshalber schon mal vorweg: Ja, ich weiß, dass ich zum Old-School-Spiel tendiere und dass mein Unwohlsein vor allem daraus resultiert. Ja, ich weiß, dass das alles mit Präferenzen zu tun hat und nicht "richtig" oder "falsch" ist. Nein, ich möchte niemanden angreifen, dessen Spielvorlieben von meinen abweichen, ein Gegenangriff ist also völlig unnötig. Und nein, es ist ganz erklärt nicht meine Absicht, jeden der obigen Punkte jetzt wieder auszudiskutieren, bis der Arzt kommt. Ich habe eine Frage gestellt und für mich eine Antwort gefunden, sonst nichts.
Im Grunde hatte ich vor, den Thread an dieser Stelle zu schließen. Aber ich wollte natürlich niemanden den Mund verbieten. Trotzdem schlage ich folgendes Vorgehen vor:
- Wer einzelne Punkte (oder die Relevanz des Gesagten für bestimmte Systeme) diskutieren möchte, macht einen eigenen Thread mit möglichst aussagekräftigem Titel auf und verlinkt ihn hier.
- Nur, wer etwas zum Fazit in seiner Gesamtheit schreiben möchte, tut das hier.
Auf diese Weise gelingt es hoffentlich, hier im Thread weiter on-topic zu bleiben und auch bald zu einem Abschluss zu kommen. Spin-Offs können dann andere Threads bereichern. Allen, die bis hierhin mitgewirkt haben, danke ich jedenfalls herzlich – mir hat dieser erfreulich konstruktive Thread einige Punkte klarer gemacht.