Nach 41 Seiten schreibt er noch was? Echt jetzt? Zumal er die 41 Seiten gar nicht alle gelesen, sondern entnervt aufgegeben hat? Ja! Macht er! Weil er´s kann! Und weil es der Dramaturgie dient
. (Und weil er Ferien hat).
Also. Wenn ich als Spielleiter mir im Vorfeld was überlege, dann ist das kein Railroading und entwertet genau gar nichts. Die Spieler überlegen sich ja schließlich auch was, nämlich mindestens ihre Charaktere. Wenn sich niemand vor dem Spiel (und sei es auch nur drei Minuten oder 10 Sekunden) was überlegen würde, käme gar kein Spiel zustand. Und das gilt auch für die Spielleitung.
Wenn ich der Runde im Verlauf des Spiels eine Figur, eine Situation oder eine Probemstellung präsentiere, die ich mir vorher überlegt und nicht erst spontan entwickelt habe, dann ist das kein Railroading und entwertet genau gar nichts. Ich mache damit lediglich meinen Job als Spielleitung: ich versorge die Spieler mit Anlässen, spielerisch tätig zu werden. Dass ich meinen Mitspielern zeige, was in meinem Kopf vorgeht, ist eine Grundvoraussetzung des Rollenspiels. Tue ich das nicht, ereignet sich nämlich auch nichts außer dem, was in den Köpfen der Mitspieler ohnehin schon vor sich geht.
Und das ist ein interessanter Punkt, finde ich, auch nach 41 Seiten, wenn auch kein genialer oder besonders bemerkenswerter -- eigentlich. Das, was in meinem Kopf ohnehin schon vor sich geht, ist nämlich nicht das Maximum an Freiheit und Selbstbestimmtheit.
Die Freiheit, mich zu entscheiden, und etwas selbst zu bestimmen, gibt es ja überhaupt nur da, wo ich mit etwas konfrontiert werde, was mir eben nicht schon völlig zu eigen ist. Bisschen hochgestochen gesagt: Nur in der Begegnung mit dem Fremden und Unbekannten kann ich ich sein, weil ich mich in dem, was eh schon da ist, gar nicht entscheiden muss und kann.
Ergo: damit Rollenspiel stattfindet, muss mir jemand etwas präsentieren, was nicht einzig und allein aus mir kommt. Und damit geht immer eine gewisse Beschränkung meiner Wahlfreiheit einher, denn schließlich limitiert der Input eines anderen ja zwangsläufig, was ich (innerhalb des von allen akzeptierten Genres, des Settings, der durch die Regeln umrissenen Plausibilitäten) antworten kann.
So weit, so banal. Und das bestreit auch das indiegste Spiel nicht. Die allerhärtesten Story Now!-Games (My Life with Master, Primetime Adventures ...) bestreiten das nicht. Sie regeln nur sehr viel klarer als andere Spiele
1. wann diese Ideen
2. durch wen
3. unter welchen Umständen
4. mit welchen Folgen
einzubringen sind.
Aber selbst im erzähltantigsten Storytellerspiel mit Räucherstäbchen und allem Klimbim gibt es einen Unterschied zwischen "Vorbereitete Tatsachen zu dramaturgischen passenden Zeitpunkten präsentieren (weil mir diese Rolle explizit oder implizit durch die Regeln und die Akzeptanz der anderen zugeschrieben wird)" und "Railroading". "Da ist ein Drache": kein Railroading. "Der Drache hat 50 HP": kein Railroading. "Nach drei Runden Kampf gegen den Drachen tauchen zwei Paladine auf und helfen euch": kein Railroding. "Wenn es für euch schlecht aussieht, tauchen zwei bis vier Paladine auf, je nach dem, wie viel Hilfe ihr braucht": kein Railroading.
Railroading: "Da ist ein Drache und ihr müsst ihn bekämpfen, auch wenn euch tausend im Rahmen der Spielwelt und der Regeln plausible und erlaubte Auswege einfallen".
"Die Comtessa ist die Verräterin, nicht der König": kein Railroading. "Ihr habt die Comtessa als Verräterin enttarnt, aber das darf erst Donnerstag rauskommen, und heute ist erst Dienstag, Pech gehabt": Railroading.
Es geht nicht darum, dass ich als SL nichts einbringen oder dass ich das nicht vorbereiten darf. Es geht darum, ob die Konsequenzen, die ich dem Handeln der Spielerfiguren zubillige, sich im Rahmen der durch Genre, Setting und Regeln kodifizierten Plausibilität bewegen dürfen oder nur im Rahmen eines von mir festgelegten Plots.
Im ersteren Fall darf ich ohne Bedenken zum Beispiel sagen: "Okay, dieser Weg, um den Drachenkampf herumzukommen ist total schlau und schlüssig.Aber der große und alte Drache Kaxibus, der lässt sich nicht so leicht hinters Licht führen, der hat nämlich schon die Kriege des 4. Zeitalters mitgemacht." Liegt im Setting und im Genre begründet.
Die Spieler könnten dann sagen: "Ja, okay, aber willst du da nicht wenigstens mal würfeln?" Sie könnten also verlangen, dass auch noch die Plausibilität gemäß der in Regeln gefassten Plausibilität geprüft wird (wie wahrscheinlich ist es in dieser fiktiven Welt, dass unter Maßgabe bestimmter Fähigkeiten und Umstände etwas passiert?).
Die Frage ist dann aber immer noch nicht: Railroading ja oder nein, sondern: ab wann empfinden alle Mitspielenden ein Ereignis als gewissermaßen "objektiv plausibel", welche Ebenen -- Setting, Regeln, Genre -- muss man da abdecken?
So viel dazu.
Zur Ausgangsfrage, ob Dramaturgie überbewertet sei: Hallo? Natürlich nicht. Dramaturgie ist ein unverzichtbares Element jedes Rollenspiels. Ohne Dramaturgie kein Rollenspiel. Warum? Dramaturgie im hier verwendeten Sinne bedeutet doch wohl so viel wie: "Handlunsgverlauf entlang einer ansteigenden Spannungskurve". Wenn wir oben gesagt haben, Rollenspiel setze zwingend voraus, dass ich mit etwas Fremdem konfrontiert werde, dann geht es auch nicht ohne Dramaturgie. Die Konfrontation mit etwas Fremdem führt dazu, dass ich im weitesten Sinne mit meiner Figur in einen Konflikt gerate und mich im weitesten Sinne konfliktlösend äußern muss, ergo: Dramaturgie. Wo also keine wie auch immer geartete Dramaturgie, dort auch kein Rollenspiel.
Die Ausgangsfrage ist also sinnlos, da wundert´s auch nicht, dass 41 Seiten dabei rumkommen.
Was man sich sinnvoll fragen kann, ist:
Welche Art von Dramaturgie ist von einer gegebenen Spielgruppe angestrebt? Und: wie kommt diese am besten (also am effizientesten und verlässlichsten) zustande?
Und da würde man sehen: Railroading, aufgeklärtes Erzähltantentum und Story Now! sind unterschiedliche Werkzeugkästen zur Erzeugung einer je bestimmten Dramaturgie, von denen keine per se besser oder schlechter sein muss. Man kann halt das jeweilig Angestrebte besser oder schlechter umsetzen.
(Jetzt sagt er ja doch, Railroading hat eine Dramaturgie. Widerspruch! Na ja, ich gehe mal davon aus, dass es in Wahrheit gar keine 100% gerailroadeten Runden gibt. Selbst wenn die Dramaturgue nur darain besteht, welchen Satz mein Magier bei der großen Enthüllung der SL sagt: ohne mein Zutun wär´s dramaturgisch doch nicht GENAU SO gelaufen. Rollenspiel wirklich ohne auch nur die geringste Einflussmöglichkeit ist eben keins - und wird von den Mitspielern auch nicht so erlebt.)
Vielleicht alles nichts Neues, aber danke, dass ich hier im Thread im Verlauf meiner Rede meine Gedanken verfertigen durfte
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