Ich möchte hier ein Modell vorstellen, das ich Ende letzten Jahres entwickelt und damals im FERA präsentiert hatte. Die hier vorgestellte Version ist eine Weiterentwicklung davon, ich habe die Kritikpunkte an der ersten Version berücksichtigt.
Bevor ich das Modell vorstelle, möchte ich eine wichtige Frage beantworten:
Wozu ist es gut?Rollenspiel ist ein hochkomplexer Prozess. Komplexe Prozesse sind anfällig für Fehler. Wenn wir den Prozess Rollenspiel nicht gut genug verstehen, dann nehmen wir nur die Folgen der Fehler wahr, die sich zum Beispiel in negativen Spielerlebnissen äußern, wir erkennen aber nicht die Ursache der Fehler und können deswegen keine Korrekturen vornehmen. Außerdem können wir keine gezielten Verbesserungen vornehmen, wenn wir an einem Prozess teilnehmen, den wir nicht verstehen. Wir können ihn zwar intuitiv ausführen und es klappt mal gut, mal weniger gut. Wir können aber das unentdeckte Potential von Rollenspiel höchstens zufällig entdecken, wenn wir keine ausreichende Kenntnis über das Funktionieren von Rollenspiel besitzen. Ein zusätzlicher Vorteil ist, dass sich auf einer gemeinsamen Basis sehr viel besser und effektiver über das Rollenspiel diskutieren lässt. Die Rollenspieltheorie stellt nichts anderes als diese Basis dar.
Der simple Grund, sich Rollenspieltheorien anzutun, besteht also darin, das Rollenspiel besser zu verstehen, um gezielt Fehlervermeidung, Verbesserungen und Innovationen zu ermöglichen und Missverständnisse in Diskussionen zu vermeiden. Das 3-Ebenen-Modell soll zum Verständnis von Rollenspiel beitragen.
Man muss sich das nicht antun. Aber es könnte hilfreich sein.
Das 3-Ebenen-ModellIch postuliere 3 Ebenen im Rollenspiel, die man deutlich voneinander unterscheiden kann und deren Unterscheidung nicht nur möglich, sondern auch sinnvoll sein soll: die Umwelt, die Spielrunde und die Spielwelt.
Die Umwelt kennzeichnet die äußeren Bedingungen einer Rollenspielrunde. Spielt man im Wohnzimmer? Im Wald? In einer Burg? Ist die Temperatur angenehm? Vielleicht stehen die Spieler im Wald im Regen? Dringt vielleicht Baulärm ins Wohnzimmer? Die Umweltbedingungen wirken sich in irgendeiner Weise auf die Spielsitzung aus. Sie können die Spieler stören, die Fantasie anregen, das Hineinversetzen in die Spielwelt erleichtern oder umgekehrt erschweren usw.
Die Ebene der Spielrunde kennzeichnet das, was unmittelbar zum Spielverlauf gehört. Die Sitzordnung, die Erzählrechte, die aufgelegte Musik, Kerzenschein, die Plauderei mit dem Tischnachbarn, die Pizzapause usw.
Die Ebene der Spielwelt beinhaltet nur die Spielwelt selbst und die dort ablaufenden Geschehnisse. Der Spieler ist z.B. nicht Teil der Spielwelt.* Er trägt zwar dazu bei, die Spielwelt zu gestalten, ist aber selbst nicht Teil davon. Der Charakter des Spielers hingegen ist Teil der Spielwelt. Ein Beispiel für eine Spielwelt ist Aventurien.
*Es kann Ausnahmen geben, die für das Verständnis des Modells aber nicht relevant sind und deswegen nicht thematisiert werden. Die drei Ebenen können sich verschieden stark überschneiden. LARP ist ein schönes Beispiel dafür. Hier werden Teile der Umwelt (Wald, Fluss, Befestigung) mit der Spielwelt gleichgesetzt. Der Spieler eines Barbars trägt echte Rüstung, die der Spielwelt zuzuordnen ist, die Adidas-Turnschuhe dagegen werden wohlwollend ausgeblendet und an ihre Stelle tritt die Vorstellung von zeitgemäßen Stiefeln. Der Spielercharakter trägt notgedrungen Teile der Spielerpersönlichkeit mit sich herum (->Schnittmenge von Spielrunde und Spielwelt). Aber trotz der teilweise recht wilden Überschneidungen stellt das Auseinanderhalten der drei Ebenen kein großes Problem dar, sobald man das Prinzip verstanden hat.
Es gibt gegenseitigen Einfluss zwischen den drei Ebenen:
- Die Umwelt beeinflusst die Spielrunde. Beispiel: Der Baulärm aus der Nebenstraße nervt die Spieler.
- Die Spielrunde beeinflusst die Umwelt. Beispiel: Die Spieler schreien so sehr, dass die Nachbarn von unten an die Decke klopfen.
- Die Spielrunde beeinflusst die Spielwelt. Beispiel: Ein Spieler entscheidet, dass sein Charakter die gerade gerettete Prinzessin an einen Sklavenhändler verkauft.
- Die Spielwelt beeinflusst die Spielrunde. Beispiel: Der Tod eines Charakters versetzt die Spieler in Trauerstimmung.
(Wer nicht genug Theorie haben kann oder gerne Knobelaufgaben löst, kann sich Gedanken darüber machen, ob und wie sich Umwelt und Spielwelt gegenseitig beeinflussen können und welche Rolle die Spielrunde dabei spielt. Im Augenblick ist das nicht wichtig.) Das sind ganz allgemein die möglichen Verbindungen zwischen den drei Ebenen. Jetzt geht es mehr ins Detail.
Regeln.Bei den Regeln führe ich eine Unterscheidung in 3 Arten ein. Intrinsische, extrinsische und nicht-informative Regeln.
Intrinsische und extrinsische Regeln wirken auf die Spielwelt ein. Nicht-informative Regeln wirken sich nicht auf die Spielwelt aus.
Intrinsische Regeln.Mit Hilfe dieser Regeln wird die Spielwelt beeinflusst. Die Besonderheit ist, dass diese Regeln aus den Gesetzmäßigkeiten der Spielwelt abgeleitet sind. Entsprechend entfalten sie ihren Einfluss von innen, aus der Spielwelt heraus.
Beispiel: Je stärker ein Charakter ist, desto mehr Schaden macht er mit einer Waffe. Das ist eine Gesetzmäßigkeit in der Spielwelt. Der Spieler kann nicht willkürlich festlegen, wie viel Schaden sein Charakter einem Feind zufügt, das ergibt sich aus der Spielwelt heraus.
Extrinsische Regeln.Mit Hilfe dieser Regeln kann man von außen Einfluss auf die Spielwelt nehmen. Die Gesetzmäßigkeiten der Spielwelt sind dafür egal.
Beispiel 1: Der Spielleiter hat das Recht, Dinge in der Spielwelt so zu verändern, dass der vorgeplante Abenteuerverlauf eingehalten wird, auch wenn die Charaktere durch ihre Aktionen den vorgedachten Weg zu verlassen drohen. Hat der Schurke, den die Spielercharaktere treffen sollen, am Ende des linken Tunnels gewartet, die Charaktere sind aber in den rechten Tunnel gegangen, so wird der Schurke kurzerhand in den rechten Tunnel versetzt. Es bedarf keiner Erklärung in der Spielwelt für diese Veränderung, der Spielleiter hat das von außen so angeordnet.
Beispiel 2: Für 50 Cent in die Gruppenkasse kann ein Spieler einen Bonuswürfel für eine beliebige Probe kaufen, sagen wir einen Schadenswurf. Wenn der Charakter damit zusätzlichen Schaden macht, liegt es nicht daran, dass irgendwelche logischen Gründe in der Spielwelt dafür verantwortlich sind (z.B. Stärke des Charakters). Dieser Einfluss kommt von außen und ist mit der Logik der Spielwelt nicht zu erklären.
Nicht-informative Regeln.Diese Regeln verändern nichts in der Spielwelt, liefern also keine neuen Informationen über die Spielwelt und schimpfen sich aus eben diesem Grunde nicht-informativ. Sie sind dazu da, das Verhalten der Mitspieler zu steuern.
Beispiel: Es werden während des Spiels keine Regeldiskussionen geführt. Die Entscheidung des Spielleiters wird akzeptiert und erst nach dem Spiel wird diskutiert, ob das eine gute oder schlechte Entscheidung war und wie in Zukunft in ähnlichen Situationen zu verfahren ist. Diese Regel hat keine Wirkung auf die Spielwelt. Sie regelt das Miteinander der Gruppe.
Explizite und implizite Regeln.Alle drei Regelformen können sowohl explizit als auch implizit vorliegen. Ich gehe davon aus, dass die Unterscheidung explizit-implizit geläufig ist und führe das deshalb nicht weiter aus.
Abbildungen der Gesetzmäßigkeiten der Spielwelt.Wie bereits beschrieben, sind intrinsische Regeln aus den Gesetzmäßigkeiten der Spielwelt abgeleitet, sie sind damit eine Abbildung dieser Gesetzmäßigkeiten. Die Abbildung kann mehr oder weniger exakt sein und das ist von großer Bedeutung.
Nehmen wir an, ich erstelle eine Skala für Fertigkeiten, von „kann gar nix“ bis „legendärer Großmeister“. Je nachdem, ob ich für diese Spanne einen w20, 2w10 oder 5w4 als Skalierung verwende, ergeben sich zum Teil sehr unterschiedliche Wahrscheinlichkeitsverteilungen. Das bedeutet, dass die darauf basierenden Regeln jeweils unterschiedliche Spielweltereignisse generieren werden. Die Spielwelt wird im Spielverlauf also unterschiedlich verändert, je nachdem, wie ich die Gesetzmäßigkeiten abbilde.
Genau an dieser Stelle verbirgt sich enormes Konfliktpotential. Wenn zum Beispiel der Autor eines Rollenspiels bestimmte Ereignisse in der Spielwelt bewirbt, die von den Spielern erlebt werden sollen (z.B. romantische Liebesszenen), die Regeln solche Ereignisse aber nicht simulieren/unterstützen können, dann gehen Anspruch und Wirklichkeit auseinander und mit großer Wahrscheinlichkeit wird es deswegen zu Unzufriedenheit bei den Spielern kommen. Beispiel: Der Autor spinnt in der Spielwelt ein enges politisches Beziehungsgeflecht und verspricht den Spielern, dass sie in diesem Beziehungsgeflecht spannende Intrigen erleben können. Der Autor liefert nur leider keine Regeln, wie Intrigen eingefädelt und durchgeführt werden können/sollen. Dieses Rollenspiel wird zu einer Enttäuschung der Spieler führen (außer, sie sind zufällig Experten auf dem Gebiet von Intrigen und wissen sich selbst zu helfen).
Oder ein anderes, einfacheres Beispiel: Der Autor verspricht realistische und gleichzeitig sehr einfache Regeln. Die Realität ist aber sehr komplex, wie will man sie einfach abbilden? Bei der Vereinfachung geht zwangsläufig viel Komplexität und damit auch viel Realismus verloren. Der Autor, der beides – Realismus und Einfachheit – verspricht, verspricht unmögliches.
Ich möchte damit allerdings keine Schelte an irgendwelchen Autoren betreiben. Bei der Abbildung von Gesetzmäßigkeiten handelt es sich um ein großes Problem und mir geht es im Augenblick nur darum, auf dieses Problem aufmerksam zu machen. Wenn die Ursache von Problemen bekannt ist, können Lösungen viel effizienter entwickelt werden, als wenn man im Dunkeln tappt und auf gut Glück Lösungsversuche startet.
Intrinsisch oder extrinsisch – was ist besser?Beide Regelformen simulieren Inhalte der Spielwelt. Und doch lohnt es sich, genau darüber nachzudenken, für welche Ziele man welche Regelform einsetzt.
Spieler, die Wert auf die „innere Logik“ der Spielwelt legen, sollten theoretisch mit intrinsischen Regeln besser beraten sein. Hierbei ergeben sich die Änderungen der Spielwelt aus der Spielwelt selbst heraus, die innere Logik bleibt damit gewahrt. Vorausgesetzt natürlich, dass die Regeln tatsächlich die innere Logik der Spielwelt reproduzieren und nicht daran vorbei arbeiten (in diesem Fall wäre das Problem eine mangelhafte Abbildung der Gesetzmäßigkeiten der Spielwelt durch Regeln).
Bei extrinsischen Regeln dagegen bekommen die Spieler ein Werkzeug, mit dem sie die innere Logik willkürlich verbiegen können. Auf der anderen Seite, wenn die Logik keine große Rolle spielt und andere Ziele im Vordergrund stehen, können extrinsische Regeln deutlich vorteilhafter sein. Sie sind einfacher zu gestalten und können den Spielern mehr Freiheiten bieten.
Sollen die Spieler eine bestehende Welt erleben (wie bei DSA) oder sollen sie im Spiel eine eigene Welt erschaffen? An diesen beiden Zielsetzungen, die völlig legitim an ein Rollenspiel geknüpft werden können, kann man sich sehr gut Gedanken darüber machen, wie stark der sinnvolle Einsatz verschiedener Regelarten von den Zielen abhängig sein kann.
Wenn man diese Gedanken weiterspinnt, kann man sich überlegen, ob sich alle Ziele, die an Rollenspiel gestellt werden, problemlos miteinander kombinieren lassen. Realismus und Einfachheit des Regelwerks scheinen mir zum Beispiel nicht miteinander kompatibel. Wenn man das erkennt und diesen doppelten Anspruch fallen lässt, erübrigen sich die Konflikte, die sich einstellen, wenn zwei Ziele verfolgt werden, die sich gegenseitig behindern. Aber ich schweife schon ab von der Modellpräsentation und deswegen soll jetzt erst einmal Schluss sein. Vielleicht kann dieses Abschweifen aber auch verdeutlichen, wie flüssig der Übergang von trockener Theorie zu praktischen Überlegungen sein kann.
Ich möchte mich bei den Feranern bedanken, die mit ihrer Kritik zur Weiterentwicklung des Modells beigetragen haben und hoffe auch hier auf konstruktive Kritik.
PS: Dem ein oder anderem könnten Parallelen zum Big Model auffallen. Sie sind zufälliger Natur, denn mit dem Big Model bin ich erst später in Kontakt gekommen. Die Parallelen sind aber interessant und vielleicht werde ich in einem gesonderten Beitrag darauf zurückkommen.