"Du solltest dir wirklich mal die Haare richtig machen lassen. Wie das wieder aussieht. Hast du die selbst geschnitten? So bekommst du nie einen Mann ab. Erinnerst du dich, als du noch hier gearbeitet hast, der nette Juniordoktorant aus der Cybernetikabteilung? Der hat dir immer schöne Augen gemacht, und ausserdem... Sylv, hörst du mir überhaupt zu?"
"Mhhh... was?" Sylva Lawako nimmt den Löffel aus dem Mund und stellt die Reste des Puddings auf den Labortisch. "Sorry, ich hatte diesen Artikel über molekulare Verschmelzung noch nicht gelesen." Nur widerwillig versucht sie, sich auf die Worte ihrer Freundin zu konzentrieren.
"Ich habe nur grade deine Haare bemängelt." Angie baut sich vor der Halbjapenerin auf und versucht, möglichts tadelnd zu gucken, aber das geht an Sylva, die so gut wie nie Körpersprache versteht, natürlich komplett vorbei. "Du hast sie selbst geschnitten, oder?"
"Klar. Ist billiger, und wen interessierts schon wie ich aussehe." Sylva greift nach dem Fruchtteller mit den Banapeln - so ein missglückter Kreuzungsversuch zwischen Apfel und Banane, der definitiv nicht ihre Idee gewesen war - und greift nach dem nächsten Wissenschaftsbulletin auf dem Tisch.
"Wen es interessiert wie du aussiehst? Du meine Güte! Ich dachte, du wolltest dich wieder nach einem dir angemessenen regulären Job umsehen. Da muss man doch wenigstens am Anfang auf sein Aussehen achten." Angie, eine etwas dickliche Blondine, plumpst auf den Stuhl neben Lawako und greift nach einer Schere. "Lass mich das wenigstens hinten und vorne etwas grade schneiden."
Ergeben zuckt ihr Opfer mit den Schultern. "Tu dir keinen Zwang an, aber sobald ich mein Geld habe, bin ich weg." Geld ist schließlich der einzige Grund, warum sie sich das Dauergelaber ihrer Freundin heute antut. Sylva mag Angie ja wirklich gerne, aber hin und wieder ist die Labortechnikerin einfach unerträglich redselig. Meistens, wenn es wieder mit einem Mann nicht geklappt hat.
Wärend sie noch kaut und Angie schneidet, kommt ein langer dürrer Buchhalter ins Labor, der sich offensichtlich hier nicht wohlfühlt. Die Halbjapanerin schreibt das der Laboratmosphäre zu und nicht ihrer Person. Dass hier immer noch Schauergeschichten über sie im Umlauf sind, weiß sie nicht und würde sie auch nicht interessieren. "Ihr, äh, Gehalt, Doktor, ist wie erwünscht auf das Konto ihrer Tante überwiesen worden. Darf ich fragen, warum dies auf diese Weise..."
"Nein. Warum sollte ich jedem dahergelaufenen Bürokraten was über meine Familie erzählen?" Ein kurzer Blick auf die Uhr, und Lawako erhebt sich, Angie, die noch nicht ganz mit ihrem Versuch, den Haarschnitt zu verbessern, fertig ist, völlig vergessend. "Das nächste Mal pünktlich, ich hab ja schließlich auch Verpflichtungen." Dem entschwindenden Buchhalter nachblickend fragt sie sich wieder einmal, warum sie es nicht schafft, ihrer Familie einfach zu sagen, dass sie nicht mehr hier arbeitet und deshalb nicht unbedingt regelmässig zum Unterhalt des etwas überteuerten Familiensitzes beitragen kann. Oder will. Oder es einfach nicht mehr tun wird. Aber das Familienkonto hat ja auch seine Vorteile. Vor allem, wenn man es durchaus auch selbst nutzen kann.
Erst jetzt merkt sie, dass Angie ihr eine blaue Schleife ins Haar steckt und sie abschätzend betrachtet. "Ich muss los, Angie, ich habe einen Termin."
"Schon gut, aber du musst diese Woche unbedingt mit mir essen gehen. Da ist dieses neue Elfenrestaurant über das ich so viel gelesen habe. Du hast sicher schon davon gehört..." Unter weiteren Erklärungen begleitet Angie ihre Freundin zur Hintertür. Inoffizielle Mitarbeiter sieht man hier nicht gern zur Vordertür rein und raus gehen. Als die Tür hinter ihr zufällt, atmet Lawako erleichtert aus und geht zielstrebig zum Ausgang des Hofs, der natürlich gesichert und bewacht ist. Sie wird allerdings auf dem Weg raus nicht kontrolliert, ihr Dodge Scoot wird ihr wieder ausgehändigt und sie schiebt das praktische Fahrgerät den Rest der Zuliefereinfaht runter. Die lästige blaue Schleife zieht sie sich dabei achtlos aus dem Haar und wirft sie weg.
"Hey Sanny."
Ein paar Meter hinter den Abfallcontainern der Konzernkantine für das Wachpersonal hat er auf sie gewartet. Wie immer. "Hey, Anthrax. Wie sieht's aus?"
"Sie waren sehr zufrieden mit deiner Arbeit und haben dir eigentlich zu wenig bezahlt. Du solltest sie wirklich drauf aufmerksam machen, dass du über den Wert deiner Forschung bescheid weißt." Der hochgewachsene junge Mann mit den Sommersprossen fuchtelt aufgeregt in der Luft rum. "Du bist eine der wenigen, die sie nicht abmurksen werden, nur weil du was sagst."
"Beruhige dich." Sanny sucht mit ihrem Cyberarm - ein Ersatz für einen linken Arm, den Mutter Natur bei ihrer "Herstellung" einfach vergessen hatte - in den Taschen ihrer zu weiten Hose nach einem Feuerzeug, als Anthrax wie üblich keines findet und an der kalten Kippe saugt. "Ich bekomme weit mehr, als jeder denkt. Und ich habe überhaupt kein Interesse dran, mich unbeliebt zu machen. Danke für die Info. Jetzt hau ab bevor dich jemand vermisst. "
Anthrax winkt ihr zu und verschwindet mit der ID eines Küchenburschen wieder in der Kantinenküche. Erst jetzt merkt Sanny dass er ihr Feuerzeug mitgenommen hat. Mal wieder. Mit einem Seufzen schwingt sich die Kleine zierliche Frau auf den Scoot und gibt vorsichtig Gas. Die beste Fahrerin ist sie sicher nicht, und sie hat den Scoot auch noch nicht lange. Früher wurde sie vom Konzern abgeholt und nach hause gebracht. Aber mit dem Bus fahren ist so gar nicht ihr Ding. Viel zu viele nervende Fremde die einen anrempeln und anbetteln. Ausserdem ist es nicht grade von Vorteil, einen Johnson oder Informanten mit dem Bus oder Taxi zu besuchen. Sie würde das Fahren schon noch richtig lernen.
Angie würde vor Schreck umfallen, sollte sie erfahren, dass aus der braven Sanny, die Angies Meinung nach so völlig unschuldig am Tod zweier Wissenschaftler gewesen war, ein Runner geworden war. Noch Anfänger, ja, sicher, aber sie hatte sich wenigstens schon etwas etabliert. Hoffentlich ergab sich bald wieder was aus ihren - zugegeben noch mickrigen - Kontakten. Die grade erfolgte Bezahlung war die letzte Geldquelle, die sie noch zu kassieren gehabt hatte. Miete und andere lästige Dauerkosten sind zwar für eine Weile bezahlt, aber wenn sie hin und wieder im eigenen Interesse forschen will, braucht sie auch Geld.
Als Sanny an ihrem Wohnblock ankommt und hinauf in den dritten Stock fährt, entschließt sie sich, heute den ganzen Tag einfach nur Trivid zu schauen. Seit zwei Tagen hat sie keine kompletten Nachrichten mehr mitbekommen, und das will sie nun alles nachholen. Man weiß schließlich nie, was man wissen muss, wenn man einen Run macht. Zu mindest einmal hat sich das schon sehr bezahlt gemacht.
Dass sie dann wegen akuten Schlafmangels nach ein paar Minuten wegpennt, ist einfach nur Pech...