Während ich einen Artikel über die statistischen
Eigenschaften von Würfelsystemen gelesen habe, kreisten die Gedanken ein wenig weiter. Und dabei sind mir Parallelen zur Psychologie eingefallen. Hier geht es also nicht mehr um Statistik, sondern um psychologische Konzepte.
Zuerst die Würfelsysteme. Was tun sie? Sie integrieren ein paar Dinge:
- Fähigkeit/Attribute = Personenmerkmale (stabil, aber mit der Zeit veränderbar)
- Schwierigkeitslevel = Bezugsnorm (sachliche, soziale oder individuelle)
- Boni/Mali = Situationseinflüsse (offensichtliche und quantifizierbare)
- Zufallselement = Situationseinflüsse (nicht offensichtliche und nicht quantifizierbare)
Soweit ich weiss, kommt kaum ein Würfelsystem um diese Faktoren herum. Und wenn es das versucht, z.B. indem keine Boni vorgesehen sind, neigen die Spieler dazu, das selbst einzuführen. Man kann einfach auf die Kletternfertigkeit würfeln und gut ist. Aber die Spieler wollen den Unterschied zwischen einer grob gehauenen Wand und einer glattpolierten Wand auch regeltechnisch abgebildet sehen, wenn ihnen der Unterschied bewusst ist. Oder sie suchen bewusst nach modifizierbaren Situationsvariablen, z.B. um die geringe Fertigkeit ihres Chars etwas zu unterfüttern ("aber der Berg ist doch nicht so steil, oder?"). Eigene Erfahrung: Auch wenn der SL solche Vorschläge über den Einfluss nicht vorgesehener situativer Variablen konsequent ablehnt, versuchen es die Spieler trotzdem immer wieder.
Das gleiche Set aus Faktoren prägt auch die Psychologie. Was gab es nicht für Grabenkämpfe über die Einflüsse von Personenmerkmalen oder Situationsvariablen. Bei der Bezugsnorm sind sich die Experten relativ einig, aber das Thema ist in sich schwer lösbar. Da es nicht möglich ist, die situationsübergreifend beste Bezugsnorm festzulegen, muss man je nach Kontext immer wieder neu entscheiden, nach welchen Kriterien man bewertet. Das Problem gibt es genauso im Rollenspiel.
Was soll dieser Beitrag? Nichts bestimmtes. Für mich eröffnet sich eine neue Perspektive, auf die Regeln zu schauen. Man sieht nicht nur die unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten, die realisiert werden, sondern die dahinterliegenden Funktionen. Da diese Funktionen in der ein oder anderen Form immer wieder verwurstet werden und auch die Psychologie nicht drumherum kommt, kann man annehmen, dass es sich um sehr wichtige und elementare Funktionen handelt. Hier meine ersten spontanen Ideen dazu:
Gewichtung von Person und Situation: Was hat größeren Einfluss? In der Wissenschaft meines Wissens nach nicht entschieden. Als Kompromiss kann man vielleicht eine 1:1 Gewichtung annehmen. Heißt also, dass Personenmerkmale und Situationsvariablen gleich stark das Verhalten bestimmen. Wie machen wir das bei unseren Rollenspielregeln? Wenn wir Fertigkeiten von 1-10 vergeben und Boni/Mali von 1-3, dann gewichten wir die Personenmerkmale klar stärker. Wenn das gewünscht ist, z.B. um Helden zu spielen, ist das eine gute Lösung. Wenn die Fertigkeit hoch ist, spielt die Situation nur noch eine geringe Rolle. Unser Held (Klettern 9) zuckt auch vor der glattpolierten Wand nicht zurück (-3, größtmöglicher Malus), weil er immer noch auf überdurchschnittlichem Niveau (9-3=6) unterwegs ist und 6 Punkte zu seinem Würfelwurf dazuaddiert.
Wir können mit dem Verhältnis von Person und Situation herumspielen und so ein anderes Spielgefühl herbeiführen. Vergeben wir doch Fertigkeiten von 1-5 und Boni/Mali ebenfalls von 1-5. Die Charaktere werden gleich viel bodenständiger. Ob sich unser Held traut, eine Wand zu beklettern, hängt viel mehr von der Beschaffenheit der Wand ab. Eine glattpolierte Wand als die schlimmste anzunehmende Situationsvariable gibt -5 auf Klettern. Selbst der beste Kletterer mit Fertigkeit 5 bekommt keinen Bonus auf seine Würfelprobe. Reine Glückssache, ob er es schafft!
Als zweites fallen mir Probleme mit der Bezugsnorm ein. Dazu gab es schon mal Diskussionen, wenn ich mich recht erinnere. Oft gibt es im Regelwerk eine Schwierigkeitsleiter, z.B. von 1-10, wobei 4 die "durchschnittliche Schwierigkeit" darstellt. Der Durchschnitt von was? Es gibt drei Möglichkeiten:
- Sachliche Bezugsnorm: Die Schwierigkeit definiert sich durch die Zielerreichung selbst. Das Ziel sei, aus 30 Metern Entfernung mit einer Armbrust ins Schwarze zu treffen. Man hat 10 Versuche. Je mehr Treffer man sich vornimmt, desto größer die Schwierigkeit. Im Rollenspiel selten angewandt, weil extrem aufgabenspezifisch. Statt Fertigkeitslisten hätte man Aufgabenlisten. Sowas wie "kann 7 von 10 Mahlzeiten schmackhaft zubereiten". Bei vergleichenden Proben ist die Grenze dieser Bezugsnorm endgültig erreicht. "Kann 7 von 10 Schlägen abwehren" funktioniert schon nicht mehr, weil unklar ist, wessen Schläge abgewehrt werden.
- Soziale Bezugsnorm: Die Schwierigkeit definiert sich über den Vergleich mit anderen Menschen. Wir legen die Schwierigkeit 4 als Durchschnitt fest. Die Hälfte der Menschen schafft eine entsprechende Aufgabe, die andere Hälfte nicht. Für nichtvergleichende Proben ist das ein schlechtes Bezugssystem. Was heißt denn das für die Aufgabe, mit 10 Bolzen aus 30 Metern auf eine Zielscheibe zu schießen? Bei vergleichenden Proben ist das aber ein sehr gutes Bezugssystem. Es gibt uns eine Aussage darüber, wer häufiger trifft. Wenn sich zwei Schützen messen, ermitteln wir, wer von ihnen den Wettkampf gewinnt. Wir erhalten jedoch keine Aussage darüber, wer wie häufig getroffen hat. Dazu müssen wir die soziale und die sachliche Bezugsnorm irgendwie nebeneinander stellen.
- Individuelle Bezugsnorm: Die Schwierigkeit definiert sichdurch die bisherigen Leistungen des Menschen. Was man schon mal gemacht hat, ist leicht. Was etwas darüber liegt, ist schwierig, aber schaffbar. Was weit über dem bisherigen Leistungsniveau liegt, ist sehr schwer oder unschaffbar. Wird im Rollenspiel kaum angewendet.
Muss jetzt aufhören. Feedback wie immer erwünscht.