Jawohl, schon wieder. Die letzte Realismus-Diskussionswelle ist vor kurzem durch das Forum gerollt. Ihre Nachwehen schwappen gerade durch die Community, wo die Leute mit Sarkasmus die Emotionen abzukühlen suchen.
Wir haben es mit einem Dauerbrenner zu tun. Hätte ich Ersparnisse, ich würde sie darauf setzen, dass die Realismusdebatte früher oder später - eher früher als später - erneut losgeht. Wie man das Thema dreht und wendet, ob man sich dem Realismus ausliefert oder sich rigoros und gänzlich von ihm absagt, es lässt uns nicht los. Auch differenzierte Betrachtungen, die niemandes Meinung ausschließen, vermögen nicht für Ruhe zu sorgen.
Wie schafft es ein Thema, in uns gewaltige Energien freizusetzen, obwohl uns dieses Thema bis zum Erbrechen leid ist, wir alles schon mal hatten und wir ahnen, dass ein neuerlicher Versuch auch nichts am status quo ändert? Nun, das Thema berührt etwas, das ein so zentraler Bestandteil unserer menschlicher Natur ist, dass noch so zahlreiche negative Erlebnisse nicht verhindern können, dass wir uns von neuem damit beschäftigen. Es ist wie mit dem anderen Geschlecht. Egal wie viel Ärgernis und Leid die Beschäftigung damit uns einbringt, die Faszination ist einfach durch nichts zu ruinieren. Bei Frauen ist immerhin direkt und intuitiv einleuchtend, warum sie mich als Mann faszinieren. Aber Realismus? Ein Randphänomen eines Nischenhobbys? Wir werden tatsächlich fündig, müssen dafür aber etwas ausholen.
Auf dem Weg der Menschwerdung hat die Evolution unser Gehirn mit einigen mächtigen Werkzeugen ausgestattet. Eines davon ist die Phantasie. Wir Menschen besitzen sie nicht exklusiv. Einige Vogelarten, Wale und Menschenaffen verfügen ebenfalls schon über die Fähigkeit zur Phantasie. Dieses mächtige und komplexe Werkzeug bleibt also nur sehr hochentwickelten Lebewesen vorbehalten. Worum genau handelt es sich dabei? Phantasie ist die Fähigkeit, sich etwas im Geiste vorzustellen, was real (noch) nicht passiert ist. Es ist nichts anderes als eine Simulation. Der Selektionsvorteil liegt klar auf der Hand. Man ist nicht mehr auf das Prozedere von Versuch und Irrtum angewiesen, sondern kann vorher die Situation mental durchspielen und abschätzen, ob das was man vorhat, Aussichten auf Erfolg hat.
Wenn ein Schimpanse im Käfig sitzt und außerhalb des Käfigs liegt eine Banane, und innerhalb ein Stab, so müsste der Schimpanse ohne Phantasie versuchen, die Banane mit dem Arm zu erreichen. Mit Phantasie kann er sich vorstellen, den Stab als Verlängerung des Armes einzusetzen und die Banane damit zu sich zu staken. Weiterhin kann er beim mentalen Ausprobieren schon abschätzen, ob die Länge des Stabes ausreichen kann, überhaupt an die Banane heranzukommen. Dabei könnte er feststellen, dass der Stab viel zu kurz für das Vorhaben ist, dann macht er sich die Mühe eines Versuchs gar nicht erst. Ähnliches passiert, wenn der Schimpanse Kisten übereinander stapelt, um an eine hoch hängende Banane ranzukommen. Er kommt nicht auf die Idee, die Kiste in die Luft zu stellen und auf sie zu klettern. In seiner Phantasie ist ihm offenbar bewusst, dass die Kiste nicht in der Luft hängen bleibt, wenn er sie loslässt. So einen dummen Versuch unternimmt er also gar nicht erst, sondern beginnt sofort mit dem Stapeln der Kisten.
Damit man in der Phantasie Probehandlungen simulieren kann, benötigt man ein physikalisch korrektes Abbild der Welt in seinem Kopf. Das Tier muss seine eigenen Bewegungen und deren Folgen mental simulieren, dazu müssen äußere Bedingungen simuliert werden, wie etwa die Schwerkraft oder die Materialbeschaffenheit von Objekten. Schon das phantasiefähige Tier braucht also einen Weltsimulator im Kopf! Er muss nicht weiss Gott wie weitreichend sein, aber realistisch muss er sein! Nur ein realistischer Simulator hätte sich überhaupt durchsetzen können. Würde er dämliche und realitätsferne Berechnungen von der Welt anstellen, dann würde das seinem Benutzer mehr Nachteile als Vorteile einbringen. Der evolutionäre Selektionsdruck hat darauf hingewirkt, die Phantasie so objektiv zu gestalten, dass die antizipierten Folgen des eigenen Handeln oft genug genau genug berechnet werden. Da bleibt genug Spielraum für Unschärfen und ein Deckeneffekt ist auch vorstellbar, aber die Sollrichtung ist klar vorgezeichnet: je realistischer die Simulation, desto größer dein Vorteil mit ihrer Anwendung.
Damit haben wir die Antwort auf die Frage, warum uns Realismus nicht loslässt. Es ist nicht irgendeine beliebige Randbedingung unserer evolutionären Entwicklung. Es ist der Selektionsfaktor unserer Phantasie! Die Evolution hat uns einige Millionen Jahre dazu erzogen, die Phantasie möglichst realistisch und objektiv arbeiten zu lassen. Diese sollte schließlich zukünftiges Handeln und die Umweltbedingungen zuverlässig genug simulieren, um eine valide Prognose für die Folgen des Handelns zu ermöglichen. Valide genug, um die eigene Existenz nicht zu gefährden und zusätzlich Übelebensvorteile gegenüber anderen zu haben.
Der Gravitationskern der Phantasie ist also ausgerechnet Realismus. Es ist so tief und unweigerlich in unserer Natur verankert, dass alle unsere Vorstellungsinhalte wie durch Schwerkraft zum Realismus hingezogen werden. Das ist natürlich nicht die ganze Wahrheit, aber doch ihr dickstes Stück. Der andere Teil der Wahrheit ist, dass wir neugierig sind und Lust auf Ungewohntes und Unbekanntes haben. Dieses Bedürfnis bemächtigt sich zu seiner Befriedigung natürlich auch der Phantasie. So bringen wir dort gezielt Dinge unter, die nicht realistisch sind.
Der Gebrauch der Phantasie ist konfliktgeladen. Der größte Konflikt liegt in der ursprünglichen Funktion selbst begründet. Evolutionär zweckdienliche Phantasie strebt nach Realismus, aber das Ziel ist in seiner Perfektion unerreichbar. Der Evolution genügt es, wenn wir dem Ziel nur nahe genug kommen. Zum Selektionsvorteil reicht es aus. Für unser psychisches Empfinden ist es aber belastend, dass unser Realismusgefühl sich nicht immer mit der Realität deckt und dass ferner die Realismusgefühle einzelner Menschen nicht ganz deckungsgleich sind. Wir geraten daher permanent in Streit darüber, was wahr ist und was nicht. Das ist nicht etwa ein Sonderphänomen des Rollenspiels, sondern durchzieht alle Lebensbereiche. Die Wissenschaft tut kaum etwas anderes, als sich mit diesem Problem zu befassen. Aber selbst die simple Beurteilung, ob im Fußballspiel der Spieler von den Beinen geholt wurde oder ob er sich selbst fallen ließ, ist oft genug selbst mit Zeitlupe unmöglich. Der eine empfindet es als realistisch, dass die knappe Berührung im vollen Lauf zum Stürzen reicht, der andere empfindet das ganz anders.
Es ist keineswegs so, dass unser Realismusgefühl allzu unscharf ist oder interindividuell allzu sehr voneinander abweicht. Wir verteilen bloß unsere Aufmerksamkeit ungerecht. All das, worüber wir uns einig sind, beachten wir nicht weiter. Wir halten es so sehr für eine Selbstverständlichkeit, dass uns nicht auffällt, wie groß dieser Batzen ist. Unsere Aufmerksamkeit schenken wir dagegen denjenigen Dingen, über die wir uns nicht einig sind. In Relation mögen es gar nicht so viele sein, aber sie kommen uns so dominant vor, weil wir den Scheinwerferkegel des bewussten Denkens primär darauf richten.
Ein weiteres Detail verdient der Erwähnung. Während sich die Phantasie der Tiere ausschließlich mit der Befriedigung aktuell drängender Bedürfnisse beschäftigt, befasst sich allein der Mensch auch mit zukünftigen Bedürfnislagen und den Möglichkeiten derer Befriedigung. Die damit einhergehende Komplexität zwingt uns dazu, ein Weltgerüst solcher Ausmaßen in unserer Phantasie unterzubringen, wie es keinem Tier auch nur im entferntesten abgenötigt wird. Während das Weltgerüst des Affen sich noch voll auf seiner individuellen Lebenserfahrung aufbauen kann, kommt der Mensch nicht drum herum, sein gigantisches und komplexes Weltgerüst in gemeinsamer Arbeit zu entwerfen und zu verfeinern. Einer Theorie zufolge soll eben diese Erfordernis den Selektionsdruck auf die Sprachentwicklung ausgeübt haben, aber das nur am Rande. Fakt ist, dass wir unser Weltgerüst mittels Sprache vermittelt bekommen, im Erwachsenenalter weiter daran basteln und es mittels Sprache an unsere Mitmenschen und Kinder weitergeben. Mit Hilfe der Überlieferung ist im Laufe von Jahrtausenden ein immer komplexeres Weltverständnis entstanden. Es ist dabei übrigens immer realistischer und objektiver geworden, was, wie wir schon gesehen haben, dem evolutionär intendierten Zweck entspricht.
Das ist das Dilemma des Realismus in allen Lebensbereichen. Es ist uns in die Wiege gelegt, den Realismus möglichst weit zu perfektionieren. Gleichzeitig wird es niemals genug davon geben können. Und egal wie groß die Schnittmenge der Einigkeit ist, wir lenken die Aufmerksamkeit bevorzugt auf den Bereich, wo Uneinigkeit herrscht, und mag dieser Bereich noch so klein sein.
Der Realismuszwang ist in uns. Wir sind verdammt, permanent neu auszuhandeln, was realistisch ist. Der Bau des Weltgerüsts wird niemals enden und er wird uns notgedrungen die Leiden von Realismusdebatten becheren.
Schön und gut, mag man jetzt einwenden. Aber wer sagt denn, dass wir auch im Rollenspiel auf Realismus setzen müssen? Unsere Phantasie sagt das. Wir haben nur die eine und sie wurde von der Evolution zum Realismus erzogen. Über Jahrmillionen. Wir spielen damit, aber sie wurde nicht für zweckfreies Spiel entwickelt, sondern um den Ernst des Lebens zu bestehen. Jedenfalls ist unser innerer Simulator auf Realismus und Objektivität programmiert. Die Abweichungen von der Realität sollen möglichst gering gehalten werden.
Bei genauer Betrachtung ist das im Rollenspiel auch der Fall. Die Vielfalt der Settings und Regelwerke kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Abweichungen vom Realismus sehr gering und häufig nur kosmetischer Natur sind. Wir erschaffen eine neue Rasse, indem wir ihre Ohren etwas länger und spitzer machen. Eine andere Rasse kennzeichnen wir dadurch, dass sie etwas kleiner und gedrungener ist, bei denen außerdem nicht nur Männer, sondern auch Frauen Bärte tragen. Im Grunde kombinieren wir nur bekannte Bausteine, wie beim Legospiel. Katze/Echse/Affe + Mensch = neues Fabelwesen. Blitz/Feuer/Gestalt + selber machen = Magie. Das Bedürfnis nach Ungewohntem verführt uns zu diesen Neukombinationen. Die Höhenflüge dieses Schaffens sind aber arg beschränkt. Der Sprit reicht für kleine Sprünge, aber nicht, um sich allzuweit vom Gravitationszentrum des Realismus zu entfernen. Etwas wahrlich Neues ist mir im Rollenspiel bisher nicht untergekommen. Ich habe von keinen neuen Emotionen gelesen, keine grundlegend neuen physikalischen Gesetze erlebt. Fliegende Schiffe im Fantasysetting überwinden immerhin die Schwerkraft, aber das ist auch nur die punktuelle Außerkraftsetzung eines bekannten Gesetzes. Und bei all dem Andersartigen unserer Settings und Regeln bleibt noch die Tatsache, dass dies der vom Scheinwerfer des Bewusstseins hell erleuchtete, aber kleine Teil ist, während die riesengroße Plattform, auf der das Andersartige ruht… ihr ahnt es schon.
Hier nun ist eine weitere Beobachtung interessant. Für Realismusdebatten sorgt nicht etwa das eindeutig Andersartige, was wir dem Setting eingehaucht haben. Diskutanten, die sich gegen Realismus positionieren, wenden gerne ein, dass Drachen doch auch unrealistisch seien und man deshalb grundsätzlich nicht mit Realismus argumentieren darf. Diesen Argumenten mangelt es an grundlegender Beobachtungsschärfe, denn noch nie hat die Beanstandung von Unrealismus sich auf Drachen bezogen. Es geht immer um Allerweltsdinge: ob man als Krieger gut jagen kann, ob man mit Pfeilen Kettenrüstungen durchschlagen kann, ob man mit schwerer Verletzung einen Tagesritt absolvieren kann. Ganz offensichtlich haben wir genug Kompetenz, um die absichtlich-künstlerisch-unrealistischen Elemente unserer Phantasie vom Realismusdetektor zu schützen. Was den Rest angeht, sind wir unserer Natur ausgeliefert.
In diesem Sinne wünsche ich uns noch viele aufregende Realismusdiskussionen und ein immer objektiver werdendes Weltgerüst.