Abend.
Irgendwie habe ich in letzter Zeit das Gefühl, dass ich anders als die meißten anderen Rollenspieler (oder zumindest anders als der im I-Net lautwerdende Teil derselben) an neue Systeme herangehe. Lange Zeit konnte ich dieses Gefühl an keinen konkreten Punkten festmachen, aber kürzlich (im Zuge des Nachdenkens über ein paar Diskussionen mit Bezug auf D&D4 und V:tM) konnte ich mich dem Problem zumindest annähern.
Die Sache sieht so aus: wenn ich ein Rollenspielgrundregelwerk aufschlage und durchlese und mir schlägt dann eine Menge Fluff entgegen, dann ist das (trotz einiger LAUTER Nörgler) erstmal kein Grund für mich das Buch wegzulegen. Ich lese den "Scheiß" sogar recht gerne und bekomme dadurch ein besseres Gefühl für die Spielwelt, als durch seitenweise trockene Abhandlungen wie diese denn nun beschaffen ist (am Besten noch über Statblocks oder Zufallstabellen *kotz*). Das jedoch ist ein persönliches ästhetisches Empfinden und soll daher nicht Gegenstand dieser Diskussion sein.
Worum es mir geht ist vielmehr ein bestimmtes Extrem des Fluff-Fetischismus, der über das hinaus geht und diesen mit grundlegenden
Spielinhalten zu verbinden versucht.
z.B. wenn der Fluff eines bestimmten dt. Endzeit-Rollenspiels deprimierte Charaktere beschreibt, die in einer trostlosen Zukunft melancholisch verenden.
Sofort setzt sich dann offenbar die Auffasung durch, in diesem Setting könnte man nur Depri-Spiel machen und auf keinen Fall Spaß haben.
Sagen die Regeln das? Nö. Sagt das Setting das? Nope.
Einzig die "Momentaufnahmen" durch den Fluff, das Verhalten von für die SC vollkommen irrelevanten noch-nicht-einmal-NSCs verführt zu dieser Ansicht.
Das ist etwas, was ich nicht verstehen kann. Ich persönlich schenke diesen "Vignetten" aus der Spielwelt nicht mehr Gewicht als einem Spieler, welcher mir auf einer Con von seinem Charakter erzählt. Es interessiert mich schon, schafft es doch neue Perspektiven, aber ich betrachte es nicht als Anleitung "so spiele ich dieses Spiel
richtig(TM)".
Ein anderes (verwandtes) Thema wäre die Forderung, dass etwas nur im Fluff zu proklamieren, ohne es mit crunch zu unterfüttern die größte Sünde für einen Rollenspieldesigner sei. Ein beliebtes Beispiel dafür ist V:tM, welches keine Regeln für die inneren Konflikte der Charaktere bietet. Eine Zeit lang habe ich sogar selbst dies als "Mangel" angesehen und versucht es zu beheben.
Ein "Augenöffner" in dieser Hinsicht war (teilweise) Solomon Kane: nach einer Weile des Spielens dachte ich "Wird dieses Spiel Howards' Geschichten eigentlich gerecht? Die Charaktere werden zwar 'Wanderers' genannt, aber es gibt nicht im Spiel, welches die Idee des 'rechtschaffenen Kriegers gegen das Böse' adequat umsetzt. Einige scheinen dies sogar zu behindern (ein SC mit dem Noble-Edge, der lieber eine Armee aufbaut, und diese gegen die Insel der Kultisten führt, statt sich persönlich dorthin zu begeben und den Kultistenführer im Zweikampf zu besiegen erschien mir doch sehr un-Solomon Kane mäßig). Allerdings dachte ich dann "Würde ich wirklich in einer Kampagne spielen wollen, wo alle SC zwingend einsame Wanderer sind, die landlos und unzusammenhängend gegen das Böse streiten, ohne jemals etwas auf größerer Skala zu erreichen?"- eher nicht.
Der Fluff (bzw. Howards' Geschichten) ist zwar stimmungsbildend, aber nicht maßgeblich dafür, wie das Spiel tatsächlich gespielt wird. Was passiert (core-Story), das ist entscheidend.
- In Solomon Kane spielt man einen (überdurchschnittlichen) Bewohner einer Welt, welche unserer Erde im 16./17. Jahrhundert gleicht.
Bei Vampire:tM spielt man einen Vampir, welcher mit den vampirischen und menschlichen Bewohnern seiner Stadt interagiert.
Bei WGP spielt man einen Superhelden, der sich zwischen zwei Extremen entscheiden muss.
DASS sind die core-stories dieser Spiele.
UNTERSTÜTZT (nicht erzwungen) werden diese durch Stimmungen, welche SL und Spieler dazu anregen, sich in gewisser Weise mit dem Setting zu beschäftigen:
- Bei Solomon Kane animieren Howards Geschichten die Spieler dazu ihre Charaktere zu Helden aufzubauen (statt stinknormale Ackerbauern zu spielen) und den SL dazu, die Charaktere mit ungewöhnlichen, übernatürlichen und vor allem ABENTEUERLICHEN Situationen zu konfrontieren.
Bei Vampire animiert der "Stil" des GRW (besonders die alten Editionen, mit Hagens wortgewaltigen Erklärungen und Bradstreets lebendigen Bildern) die Spieler dazu sich eigene Ziele für ihre Charaktere zu setzen (statt sich vom SL die nächste "Mission" vorsetzen zu lassen) und den SL dazu, den NSCs der Stadt komplexe Motivationen, moralische Grauzonen und vor allem: reichlich Geheimnisse welche die Spieler entdecken können, zu geben.
Bei WGP wählen die Spieler (animiert durch ihre Liebe zu Superheldencomics) Assets, zu denen sie eine emotionale Bindung aufbauen können und die ihnen folglich etwas bedeuten (statt zu sagen "Ich tappe meine kleine Schwester, um eine zusätzliche Karte zu bekommen") und der SL versucht seinerseits Situationen zu schaffen, bei denen den Spieler der Ausgang der Situation ebenso wichtig ist, wie die Integrität ihrer Assets.
Das sind drei Beispiele dafür, wie Stimmung und Fluff zum Spiel
beitragen können, ohne dass man sie regeltechnisch unterfüttert werden müssten. Wichtig ist hier das "können"- wenn diese Elemente ignoriert werden (weil SL und Spieler den Fluff anders interpretieren), dann hat man immer noch ein vollständiges Spiel, welches dann eben in eine etwas andere Richtung driftet, z.B.:
- Bei Vampire:tM animiert der "Stil" des Grundregelwerkes die Spieler dazu, ihrem Charakter politische Ambitionen und den Wunsch sich in der Gesellschaft zu behaupten mit auf dem Weg zu geben und den SL dazu, ein komplexes Machtgerüst für die Stadt zu entwerfen und die Spieler in Intrigen zu verwickeln (imo war diese Aufassung bei revised- als Hagen nicht mehr am Ruder saß- stilbildend).
oder meinetwegen auch
- Bei Vampire:tM animieren Bilder von Vampiren, welche im Trenchcoat und mit zwei Uzis über Autos springen, die Spieler dazu, sich eben solche Charaktere zu erschaffen und den SL dazu, den Spielern Äktschnnnn am laufenden Band zu bescheren.
usw. Keine diese Auffasungen ist grundsätzlich der anderen vorzuztiehen, solange die Gruppe in der Lage ist, daraus ein interessantes Spiel zu machen, statt nur eine begrenzte Zahl von Fluff-Klischees "nachzuspielen" (gibt es das wirklich, oder ist das nur eine Erfindung der Degenesis-basher?)
War das einigermaßen verständlich?
Könnt ihr nachvollziehen, worauf ich hinauswill?
Waren eure Erfahrungen ähnlich?
Für Fragen stehe ich im Zweifelsfall zur Verfügung. Ich danke erstmal für die Aufmerksamkeit.