Ich lebe auf einer von ein paar Hundert Inseln, welche die Kartographen die Nördliche Kette nennen. Wir nennen die Insel Dahaman, aber ich weiß nicht, ob dieser Name auch auf den offiziellen Karten der Liga-Inseln verwendet wird. Aber das spielt auch keine Rolle, sie ist mein Zuhause. Dahaman misst in ihrer größten Ausdehnung etwas weniger als eine und eine halbe Meile. Die größte bekannte Landmasse der Welt erstreckt sich über fast 22 Meilen. Dazwischen gibt es tausende Inseln jeder Größe. Und zwischen den Inseln liegt - das Zwielicht.
Das Zwielicht
Auf den meisten Inseln ist das Zwielicht von fast jeder Stelle aus sichtbar, auch wenn man bis zum Ufer gehen muss, um seine ganze Wirkung und seine faszinierenden Details zu erfassen. Selbst wenn ich keine Uferwacht habe, gehe ich gerne zu einem sicheren Aussichtspunkt und betrachte die glatte Wolkendecke, die das Zwielicht bildet. Manchmal glaube ich dann, den Dunst soweit durchdringen zu können, dass ich die schemenhaften Umrisse der seltsamen Tier- und Pflanzenwelt darin und darunter erkenne. Ruinen der Azam sind von hier aus nicht zu erkennen. Das Zwielicht um Dahaman ist rundherum bis zu einer Entfernung von etwa 100 Schritt ausgekundschaftet – es gibt dort keine. Wenn es regnet, sieht die Oberfläche des Zwielichts aus wie kochende Milch.
Es gibt so viele Geschichten, Thesen und Gerüchte um die Geheimnisse des Zwielichts, dass es unmöglich einen Menschen geben kann, der diese alle kennt. Einige Dinge aber sind bekannte Tatsachen.
Die Welt unterhalb der Wolkendecke, die wir als die obere Grenze des Zwielichts kennen, ist fremdartig. Tagsüber herrscht stetige Dämmerung unter einem weiß leuchtenden Himmel, der zum Greifen nah über dir hängt. Nachts ist es so dunkel, dass man für gewöhnlich die Hand vor Augen nicht sieht. Die Kreaturen, die das Zwielicht als ihren Lebensraum beanspruchen, sind immer eigenartig und häufig tödlich. Pflanzen wachsen nach rätselhaftem Plan. Orientierung ist außerordentlich schwer. Und dann sind da die Ruinen der Azam, jenes längst ausgestorbene Volk, dass dereinst die Welt des Zwielichts bewohnt haben muss. Ihr Vermächtnis bildet den größten Schatz für diejenigen, die es wagen, den Gefahren dieser anderen Welt in unserer unmittelbaren Nachbarschaft zu trotzen.
Es gibt noch andere Risiken – und Chancen - denen sich Schatzjäger aller Art stellen müssen. Das Zwielicht selbst hat eine eigenartige Wirkung auf die Menschen. Manche sagen, es liegt an der Luft da unten, andere meinen, es sei das eigentümliche Licht. Wie dem auch sei – es gibt Menschen, die sonderbare Kräfte entwickeln, wenn sie eine Weile dem Zwielicht ausgesetzt sind. Man nennt sie die Joamanis. Sie können in die Zukunft sehen oder die Gedanken anderer Menschen lesen, mit Hilfe ihres Geistes Dinge bewegen oder in Brand setzen, jemanden mit einem Blick in Furcht versetzen oder gar lähmen. Es ist unheimlich. Ich habe noch nie einen solchen Menschen gesehen.
Die großen Inselkräfte suchen fieberhaft nach neuen Joamanis, denn sie sind kostbare Werkzeuge. Es gibt jedoch einen Haken, denn das Zwielicht macht auch süchtig. Wer sich hinein begibt um zu ergründen, ob er die Veranlagung besitzt, läuft in Gefahr, nie wieder zurückzukehren. Er kann sich nicht mehr aus seinem Bann lösen, entwickelt den Wunsch, dort unten zu bleiben. Der Verstand verwirrt sich. Dazu kommt, dass diese speziellen Fähigkeiten nach einer Weile nachlassen. Das bedeutet, die Joamanis müssen regelmäßig in das Zwielicht zurückkehren um neue Kraft zu schöpfen. Wenn sie in den Diensten von größeren Inselkräften stehen, haben sie in der Regel eine Leibwache, die sie in dieser Zeit beschützt. Schatzsucher, Kundschafter und Tiefenjäger und jeder andere, der sich in das Zwielicht begibt, üssen ständig auf der Hut sein und sich selbst beobachten, um rechtzeitig wieder auf die Inseln zurückzukehren, bevor sie dem Ruf des Zwielichts verfallen.
Die Wahrsagerinnen des berühmten Orakels von Ameluan werden von den Priestern im Alter von spätestens 4 Jahren aus den Frauen der Inselbevölkerung ausgesucht und in den Krater hinuntergelassen, der sich in der Inselmitte befindet und der seltsamerweise eine Verbindung zum Zwielicht zu haben scheint. Sie werden von oben mit Nahrung versorgt und bleiben dort ihr ganzes Leben. Wenn jemand eine Deutung wünscht und er die erforderliche Gebühr bezahlen kann, so wird ein Käfig hinuntergelassen, eine Wahrsagerin hinaufgezogen, und in deren Gestammel kann der Klient hineinlesen was er möchte. Das ist nur eins von vielen Beispielen, auf welch seltsame Ideen die Menschen kommen, um die Geheimnisse des Zwielichts zu nutzen.
Es gibt Menschen, die freiwillig für immer in das Zwielicht gehen, als Tiefenjäger, Schatzsucher, Einsiedler, Kundschafter oder was auch immer. Sie können durchaus ein Vermögen machen, wenn sie mit Treibgut, wie wir die Beutestücke aus dem Azam-Ruinen nennen, neuen Karten sicherer Wege oder Trophäen seltener Kreaturen an den Ufern der Inseln erscheinen. Doch dieses Leben ist sehr gefährlich. Sehr selten sieht man alte Menschen aus dem Dunst die Ufer betreten. Noch seltener mit klarem Verstand.
Das Zwielicht birgt viele weitere Geheimnisse. Es heißt, wenn man weit genug hinausgeht und tief genug vordringt, dann erreicht man ein gewaltiges Gewässer, so groß, dass es eines Fahrzeuges bedarf, um es zu überqueren. In den Tiefen zwischen den öden Felszacken von Teschepur sollen enorme Schätze der Azam ruhen, aber das Gebiet soll auch von einer gewaltigen, vielarmigen Kreatur bewacht werden, die selbst Luftschiffe vom Himmel holen kann. Die blinden Mönche von Eshuin sagen, dass das Zwielicht in Wirklichkeit unsere eigentliche Welt ist und unsere Seelen dorthin zurückkehren, wenn wir sterben, zu den Geisterinseln von Kilet Baskani, um genau zu sein. Allerdings essen die Eshuin-Mönche auch rohe Wildquappen.
Die Luftschiffe
Wie ist es möglich, trotz der Gefahren des Zwielichts andere Inseln zu erreichen? Durch die Luft.
Am Himmel zwischen den Inseln der Zentralen Ausdehnung sind Tag und Nacht zu jeder Zeit Luftschiffe zu sehen. Ihre Außenhaut besteht zum großen Teil aus dem Gewebe der großen Schimmerpflanzen, die zu diesem Zweck angebaut werden. Sie verleiht den großen Luftschiffen auch den charakteristischen Glanz, den besonders die militärischen Konstrukteure mühsam zu unterdrücken versuchen. Ihren Auftrieb erhalten die Schiffe durch das Mossgas, das bei der Verbrennung des Mossamer-Basalts entsteht. Die dabei produzierte Hitze sorgt gleichzeitig für den Betrieb der Dampfmotoren, welche die Propeller antreiben.
Luftschiffe gibt es in allen Größen, von kleinen Kundschaftern, die nur ein oder zwei Leute transportieren, über Handelsschiffe mit großen Lasthebern bis hin zu den immensen Trägerschiffen der großen Inselkräfte. Die Piraten verwenden Luftschiffe jeder Bauart.
Jeder Luftschiffer tut gut daran zu beachten, dass sein Vorrat an Basalt nicht während der Reise zuneige geht. Wer sein Schiff nicht mehr steuern kann, ist den Winden des Himmels ausgesetzt, die ein Luftschiff schnell in Regionen treiben, von denen aus eine Rettung auch mit einem Gleiter nicht mehr möglich ist. Wenn das Mossgas dann nachlässt und das Schiff im Zwielicht niedergeht, ist das Schicksal der Besatzung meist besiegelt.
Gleiter sind kleine Konstruktionen aus Holzstangen und Schimmerweb oder speziellen Tierhäuten. Ein geschickter Gleiterpilot kann von einem Luftschiff oder auch von einem hohen Punkt einer Insel starten und auf dem Wind große Strecken zurücklegen, wobei er sein Fluggerät nur durch die Verlagerung seines Körpers steuert. Ein erfahrener Pilot kann zudem die Wirbel der Wolkendecke über dem Zwielicht lesen und gute Windströmungen erkennen. Piraten und Militär nutzen Gleiter, um vor dem eigentlichen Angriff oder Entermanöver Saboteure auf dem gegnerischen Schiff abzusetzen.