Zum Geleit
Die ethische bzw. moralische Dimension des Rollenspielens ist in letzter Zeit manchmal in Forendiskussionen aufgekommen, allerdings meist mit der Intention, das, was die anderen machen, als verwerflich zu brandmarken. Meine Meinung über die Initiatoren einer solchen Rhetorik breite ich hier mal nicht aus. Aber das Thema scheint ja doch nicht ganz so einfach zu sein, und da ich dazu einen dezidierten Standpunkt habe, möchte ich diesen hier einmal positiv niederlegen, soweit es mein Westentaschenlatein erlaubt.
Erzählspiel
Erzählspiel sei für die Belange dieses Versuchs eine Form des P&P-Rollenspiels, bei dem die Beteiligten Wert darauf legen und darauf hin arbeiten, durch das gemeinsame Spiel ein fiktives Geschehen zu erzeugen, das von den Beteiligten während des Spiels als eine „gute Geschichte“ empfunden wird. Oft werden wahlweise z.B. besonders emotionale Momente, moralisch ambivalente Situationen, Spannungsbögen im Sinne gängiger dramaturgischer Handlungsmodelle, spektakuläre (Action-)Szenen, Genre-Emulation, Humor oder eine dichte Atmosphäre als Merkmale einer „guten Geschichte“ identifiziert, wesentlich bleibt dabei das subjektive Empfinden der Beteiligten.
Ethisch-moralische Dimension
Obwohl P&P-Rollenspiel im Allgemeinen und Erzählspiel im Speziellen „nur ein Spiel“ ist, hat das Handeln der Beteiligten eine moralische Dimension. Diese moralische Dimension ergibt sich daraus, dass das Handeln Auswirkungen auf andere Menschen, nämlich die Teilnehmer des Spiels, hat, und nur daraus. Das Spiel oder die Spielwelt an sich haben keinen moralisch anzuerkennenden Wert abgesehen von dem, den die Spielenden ihnen für sich persönlich beimessen. Insbesondere haben sie keine über den unmittelbaren Spielzweck hinaus gehende Bedeutung, die zu einer moralischen Verpflichtung der Beteiligten gegen sich selbst bzw. der Allgemeinheit oder einer höheren Instanz gegenüber führen würde. Erzählspiel ist nicht Kunst, sondern Zerstreuung. Es unterscheidet sich insoweit nicht von anderen Gesellschaftsspielen.
Rechte im Rollenspiel
Welche Rechte hat ein Spieler? Rechte natürlich nicht im juristischen, sondern im ethisch-moralischen Sinne. Zunächst einmal hat jeder Spieler die Rechte, die jeder Mensch jederzeit gegenüber anderen Menschen hat, also z.B. das Recht, nicht in seiner Gesundheit oder Würde verletzt zu werden (die sind sogar juristisch). Ich gehe weiter davon aus, dass die Beteiligten einer Rollenspielrunde das Recht haben, bei ihren Mitspielern Gehör zu finden und von ihren Mitspielern nicht getäuscht, genötigt oder schikaniert zu werden. Schließlich gehe ich davon aus, dass ein Recht auf Gleichbehandlung besteht, d.h. wesentlich Gleiches darf nicht ohne sachlichen Grund ungleich und wesentlich Ungleiches nicht ohne sachlichen Grund gleich behandelt werden.
Ausgehend von der Grundannahme, dass die Spielwelt insoweit relevant ist, als die Spielenden ihr Bedeutung beimessen, entwickelt sich ein Anspruch des Spielers darauf, dass die Bedeutung, die er der Spielwelt beimisst, von den übrigen Mitspielern nicht willkürlich missachtet wird. Er kann ferner erwarten, dass die übrigen Beteiligten sich an die zuvor – explizit oder stillschweigend – vereinbarten Regeln halten und ihm eine gleichberechtigte Teilnahme am Spiel ermöglichen. Beiträge eines Spielers zum Spiel dürfen nicht negiert oder entwertet werden.
Anwendung auf das Erzählspiel
Aufeinander aufbauende kreative Beiträge
Die für die Spieler relevanten Aspekte der Spielwelt sind im Erzählspiel mit der Frage verknüpft, was in den Augen der Gruppe eine „gute Geschichte“ ausmacht. In einer funktionierenden Runde besteht ein gemeinsames Verständnis dahingehend, dass das Motiv, eine „gute Geschichte“ zu erleben, entscheidungsrelevant ist. Innere Schlüssigkeit, insbesondere die Vermeidung von Widersprüchen zu bereits etablierten Fakten, wird in der Regel als Merkmal einer „guten Geschichte“ angesehen, darüber hinaus ist jedoch allen Beteiligten bewusst, dass die Spielwelt der „Geschichte“ dient und sich entsprechend verhält. Sowohl vom SL als auch von den Spielern wird erwartet, dass sie die Spielwelt bzw. ihre Charaktere in diesem Sinne gestalten und lenken. Die Entscheidung muss dabei nicht immer die absehbare sein, kann im Gegenteil gerne überraschen, ist aber in jedem Fall als kreativer Beitrag des jeweiligen Spielers zur „Geschichte“ zu begreifen.
Ein Spannungsfeld ergibt sich dabei im Verhältnis zu der Forderung, Beiträge der anderen Mitspieler nicht zu negieren oder zu entwerten. Anders als bei einer auf Weltsimulation gerichteten Spielphilosophie, kann und soll diesem Anspruch nicht durch strikte und neutrale Wahrung innerweltlicher Kausalität Rechnung getragen werden. Vielmehr ist das Spiel als kreativer Prozess zu begreifen, bei dem die entstehende „Geschichte“ die Summe der Beiträge aller Beteiligten ist.
Daher ist es die Pflicht der Beteiligten, mit ihrem Spiel die Beiträge ihrer Mitspieler aufzugreifen und zu verarbeiten, und ihnen so Relevanz für die „Geschichte“ zu verleihen. Ein Beitrag wird nicht etwa dann entwertet, wenn eine unwahrscheinliche oder extreme Reaktion darauf erfolgt. Sondern er wird dann entwertet, wenn der weitere Handlungsverlauf an ihm vorbei entwickelt wird, ohne ihm Beachtung zu schenken. Umgekehrt wird ein Beitrag nicht dadurch validiert, dass strikt kausal bzw. stochastisch Konsequenzen adjudiziert werden. Sondern er wird vielmehr dadurch validiert, dass er in die Erzählung eingewoben, dass ihm Relevanz im Hinblick auf die „Geschichte“ zugestanden wird.
Wenn alle sich nach diesem Prinzip verhalten, folgt daraus gleichzeitig, dass die Einzelbeiträge sich im Einklang mit der gemeinsamen Erwartungshaltung befinden. Das Aufgreifen und Einbinden eines unangemessenen Beitrages kann nicht erwartet werden, weil dadurch alle vorangegangenen Beiträge entwertet würden. Wohl aber kann eine Bereitschaft erwartet werden, sich auf die Ideen und den Geschmack der anderen einzulassen, ihnen gegenüber aufgeschlossen zu sein, sie im Zweifel wohlwollend auszulegen und sogar die Erwartungshaltung anzupassen bzw. zu erweitern, wenn das möglich ist. Mit einer klaren und eindeutigen Formel hierfür kann ich leider nicht dienen, eine solche widerstrebt dem Wesen des Erzählspiels als dynamischer kooperativer kreativer Prozess.
Beachtung und Missachtung der Regelmechanik
Dann wäre da noch der Punkt mit den Regeln, genauer: der Regelmechanik. Oftmals wird im Erzählspiel der simulierende Ansatz einer klassischen Regelmechanik mehr als Rahmen bzw. Richtlinie denn als unantastbar angesehen. Solche Regeln sind dennoch nicht wertlos, sondern können im Gegenteil sehr wertvoll sein, um die Vorstellung von der Spielwelt, den Charakteren und dem, was so möglich und unmöglich ist, zu formen. Diese Homogenisierung der individuellen Vorstellungsräume ist oft sogar zwingend notwendig für ein erfolgreiches Spiel. Man muss allerdings begreifen, dass die Funktion entsprechend simulierender Regeln sich für das Erzählspiel in dieser Homogenisierung erschöpft, der Weltsimulation an sich aber kein eigener und originärer Wert beigemessen wird.
Daher ist es nach dem Selbstverständnis der erzählspielerischen Ansatzes geradezu verpflichtend, von Zeit zu Zeit das eigene Urteil hinsichtlich der Frage, was „gut“ für die „Geschichte“ sei, an die Stelle der (simulierenden) Regeln zu setzen. Üblicherweise wird dabei nichts passieren, was nicht auch im Rahmen der Regeln denkbar gewesen wäre, aber ggf. wird das Zufallselement ausgeklammert oder von eingeräumtem SL-Ermessen sehr zielorientiert Gebrauch gemacht.
In anderen Situationen wiederum mag man das Zufallselement willkommen heißen, um die Geschichte unberechenbarer und dadurch interessanter zu machen. Dies aber ist die bewusste Entscheidung der Gruppe, die diese Entscheidung auch an den SL delegieren kann. Wesentlich ist dabei, dass nicht willkürlich entschieden wird und das erläuterte Prinzip des kreativen aufeinander Aufbauens nicht missachtet wird. Ich persönlich bevorzuge daher absolute Transparenz hinsichtlich der Anwendung oder Nichtanwendung der Regeln. Andere legen darauf weniger Wert, was in Ordnung ist, solange der SL sich anständig verhält und sich nicht von sachfremden Erwägungen leiten lässt, der SL also im von ihm wohlverstandenen Interesse der Spieler handelt.
Dabei bleibt unbenommen, dass man auch in einer Erzählspielrunde Spaß an der Anwendung der Regelmechanik haben kann. Darin ist kein Widerspruch zu sehen, Spaßquellen sind nicht ausschließlich, und oft ist es gerade die Kumulation ganz unterschiedlicher Spaßquellen, die den Reiz des Rollenspiels ausmacht. Das ist dann auch nicht etwa irrelevant: ein Spieler, der z.B. aufgrund geschickter Regelanwendung einen besonders kompetenten Charakter entwickelt hat, wird sich darauf durchaus etwas einbilden, und dies wird auch von den Mitspielern anerkannt werden. Diese Leistung des Spielers würde entwertet, wenn im Rahmen der „Geschichte“ die Kompetenz des Charakters überhaupt nicht zur Geltung käme. Kommt sie aber grundsätzlich zur Geltung, indem sie z.B. von NSCs und SCs anerkannt wird und oft genug gefragt ist, dann spielt sie auch eine Rolle in der „Geschichte“. Und hat der Charakter dann wiederum in einer bestimmten Situation einfach Pech, sind die Umstände einfach gegen ihn, so dass seine Kompetenz gezielt ausgehebelt wird, wodurch seine „Geschichte“ eine interessante Wendung erfährt – dann entwertet das gar nichts, der Spieler wird damit kein Problem haben, da er weiß, dass es nie seine Aufgabe war, dieses spezielle Ereignis zu verhindern. Meiner Einschätzung nach ist es vor allem diese letzte Differenzierung, die der typische Erzählspiel-Basher nicht versteht.
Objektiver und subjektiver Verstoß oder die Schuldfrage
Am Rande sei noch erwähnt, dass besonders aufgrund der möglicherweise diffusen bzw. dynamischen Erwartungen und Wechselwirkungen beim Erzählspiel nicht jeder überhaupt erkennt, was die anderen wollen oder erwarten. Die Frage der Schuld bzw. Vorwerfbarkeit einer „Rechtsverletzung“ im Sinne der dargestellten Rechte ist daher in vielen Fällen negativ zu beantworten. Ich würde behaupten, dass eine solche Rechtsverletzung in der Regel auf Unkenntnis bzw. Fehleinschätzung beruht, und nur in Ausnahmefällen auf Vorsatz. Andererseits kann auch eine Fehleinschätzung u.U. vorwerfbar sein, wenn sie fahrlässig ist, man sie also hätte vermeiden können, wenn man besser aufgepasst hätte.
Fazit
Das Geben und Nehmen in einer funktionierenden Erzählspielrunde erfordert Kreativität und Empathie. Ein Urteil über die ethisch-moralische Angemessenheit des Verhaltens der Beteiligten lässt sich nur dann treffen, wenn man versteht, was eine gegebene Runde von einer „guten Geschichte“ erwartet. Das setzt zunächst voraus, dass es eine solche gemeinsame Erwartung überhaupt gibt. Soweit es sie nicht gibt, muss das Verhalten der Gruppe darauf gerichtet sein, sich einer solchen gemeinsamen Erwartung anzunähern. 100 % Übereinstimmung gibt es natürlich nie, und die Erwartungshaltung kann sich auch erweitern oder transformieren. Respekt vor den Vorstellungen und Wünschen der anderen gehört in jedem Fall dazu.