@Teylen:
Vielleicht habe ich mir das Unverständnis aufgrund des Hintertürbeispiels auch selbst zuzuschreiben. Ja-sagen heißt nicht, die Charaktere immer Erfolg haben zu lassen, sondern auf die Handlungen und den Gestaltungswillen der Spieler tendenziell positiv einzugehen. Wenn ein Spieler sagt: "Gibt es eine Hintertür?", dann meint er wahrscheinlich: "Ich fände es interessant, jetzt was mit Wächter ablenken, Rumschleichen und so zu spielen." Und wenn ein Spieler das signalisiert, sollte der SL sich vielleicht nicht darauf versteifen, dass die Charaktere in den Turm kommen, indem sie sich als Würdenträger verkleiden, die eine Audienz beim Statthalter im Turmgeschoss beantragen, auch, wenn er sich das so überlegt hat.
Der Spieler meint mit "Gibt es eine Hintertür?" jedenfalls sicher nicht, "Ich will eine unbewachte Hintertür, die offen steht und von der ein ganz direkt in das Schlafgemach des bösen Statthalters führt, wo der gerade vor sich hin schnarcht."
Versuch doch mal, die oben erzählte Szene weiterzudenken:
Spieler: "Gut, der Wächter ist also Wasser kaufen und abgelenkt, ich schleiche mich jetzt zur Tür und öffne sie."
SL: "Die Tür ist mit einem dicken Vorhängeschloss verschlossen."
Spieler: "Mist, aber das kriege ich auf. Ich brauche nur Zeit. Aragolf, kannst du den Wächter irgendwie beschäftigen."
SL: "Der Wächter hat gerade den Krug abgesetzt und macht jetzt mal einen Wahrnehmungswurf, ob ihm auffällt, dass jemand an der Tür rumfummelt."
Spieler 2: "Oje, ich renne auf den Wasserhändler zu und stoße wie versehentlich den Wagen um!"
SL: "Na schön, der Wahrnehmungswurf wird trotzdem fällig. Ja, der Wächter bemerkt, dass da irgendwer an seiner Tür rumsteht, im selben Moment prallt Aragolf gegen den Wagen."
Spieler 2: "Hilfe! Mörder! Rettet mich!"
SL: "Hm, mach mal einen Wurf auf schauspielen, ob du das so überzeugend rüberbringst, dass du den Wächter erfolgreich von seiner Pflicht ablenkst ..."
Spieler 2: "Missglückt."
SL: "Tja, der Wächter lässt sich nicht beirren und dreht sich zur Tür um. 'He, du, was machst du da!', brüllt er wütend."
Spieler 1: "Ähm, ich tu so, als steh ich da nur zufällig rum ..."
Spieler 2: "Okay, jetzt ziehen wir das durch - es hat sich doch sicher eine kleine Zuschauermenge um uns gebildet, oder?"
SL: "Ja, hier herrscht Gedränge auf den Straßen, um euch ist ein dichter Ring von Schaulustigen."
Spieler 2: "Gut, ich springe dem Wächter von hinten gegen die Beine und bringe ihn zu Fall, und am besten noch ein paar andere mit, sodass es eine große Massenkarambolage gibt!"
SL: (nach etwas gewürfel): "Ja, großer Menschenhaufen, du und der Wächter mittendrin. Derweil kann Spieler 1 seinen Schlösser-öffnen-Wurf machen."
Spieler 1: "Gelungen!"
SL: "Gut, das Schloss schnappt auf. Inzwischen ruft der Wächter nach Verstärkung, die auch prompt angerannt kommt und den Menschenhaufen auseinandertreibt."
Spieler 1: "Ich schlüpfe schnell durch die Tür, bevor mich einer von denen sieht."
SL: "Gut, das gelingt dir. Derweil sieht sich Aragolf einem halben Dutzend Wächter gegenüber, die wohl gerne wüssten, was seine Vorstellung sollte."
Hier haben sich alle positiven und negativen Konsequenzen direkt aus den Aktionen der Spieler ergeben - und es ist gleichzeitig eine Bedrohungssituation mit echten Konsequenzen entstanden: der Charakter von Spieler 1 ist allein im Turm, Aragolf ist wahrscheinlich erst mal festgenommen.
Hätte der SL dauernd "Nein" gesagt (Nein, der Wächter ist nicht durstig, nein, es gibt keinen Wasserhändler, nein, da sind keine Schaulustigen, Nein, du kannst das Schloss nicht öffnen, das dauert zu lange), dann hätten die Spieler den Versuch, über die Hintertür einzudringen, notgedrungen abgebrochen und es mit einem anderen Weg probiert. Dann stünden sie nach ein bisschen Rumprobieren genau an dem gleichen Punkt wie zuvor und die Ereignisse an der Hintertür hätten die Geschichte im Rückblick nur ausgebremst.
Und noch mal zur Verdeutlichung: Stell dir einen Entscheidungsbaum vor. Ein "Ja" führt einen neuen Faktor in die Situation ein, eröffnet neue Entscheidungsmöglichkeiten (wenn es eine Hintertür gibt, dann ist das ein Element mehr, mit dem sich etwas anfangen lässt). Das "ja" hat also weitere Verzweigungen, entlang derer die Geschichte sich fortentwickeln kann. Ein "Nein" führt keinen neuen Faktor in die Situation ein, alles ist wie vorher, nur, dass eine Möglichkeit, die Situation um ein Element zu erweitern, nun verschlossen ist. Da ist keine Hintertür, also kann man auch nichts mit ihr machen.
Das hat erst mal gar nichts mit Erfolg oder Misserfolg zu tun. es geht einfach nur darum, die bei vielen SL verbreitete Tendenz, das nicht Vorausgeplante abzuschmettern, durch die Tendenz zu ersetzen, das nicht Vorausgeplante zuzulassen, solange es keine Setting-Immanenten Gründe gibt, die dagegen sprechen. Und diese Technik ist ein Werkzeug um 1. Das Setting zu bereichern und 2. dafür zu sorgen, dass die Handlungen der Charaktere nicht in sackgassen führen, sondern in irgendeiner Art und Weise die Ereignisse vorantreiben.