Willkommen zu
Stating the obvious mit Fredi. Da bin ich durch einen etwas älteren Podcast von
Theory From The Closet, den ich gerade erst gehört habe, drauf gekommen. Und los geht's.
ReincorporationDinge existieren im gemeinsamen Vorstellungsraum nicht einfach. Sie müssen von jemandem in den gemeinsamen Vorstellungsraum hineingebracht werden.
Wenn also ein Charakter ein besonders guter Schütze ist, hat dies wenig bis kein Gewicht in der gemeinsamen Vorstellung, so lange diese Eigenschaft nur auf dem Charakterbogen (oder im Kopf des einen Spielers) existiert. Wenn er einmal gut schießt, wird dies in die gemeinsame Vorstellung übernommen, ist aber in der Geschichte sicher eher randständig. Wenn der Charakter jetzt in jedem Kampf den Meisterschützen macht und durch seinen Umgang mit der Waffe die Konflikte maßgeblich beeinflußt werden, dann wird die Eigenschaft "guter Schütze" immer wieder angesprochen und in der gemeinsamen Vorstellung verfestigt.
Dasselbe gilt für Eigenschaften genauso wie für wichtige Beziehungen (Familie, Liebesbeziehungen, etc.) oder Einstellungen und Werte ("Für mein Land tue ich alles", "Ich bin Pazifist") eines Charakters. Wenn man von der gemeinsamen Vorstellung her denkt, existieren sie vorab nicht, sondern gewinnen erst durch die wiederholte Erwähnung an "Realität".
Dieses wiederholte Einbringen eines Fakts in die gemeinsame Vorstellung kann dabei direkt passieren (Der Charakter schießt super) oder auch indirekt (Man sieht die Auswirkungen seines Handelns, in Dialogen wird die Fähigkeit des Charakters aufgegriffen, etc.). Dieses "konsolidieren" von Fakten in der gemeinsamen Vorstellung ist Reincorporation.
TiltWas ist jetzt Tilt? Tilt ist, wenn sich die vorher schön verfestigte "Realität" der gemeinsamen Vorstellung ziemlich plötzlich verändert. Also ein "Kippen" der bisherigen Faktenlage zu einer neuen "Realität" der in der gemeinsamen Vorstellung. Der Charakter kann (aus welchen Gründen auch immer) nicht mehr so gut schießen, seine Familie ist im nicht mehr so wichtig,er tut nicht mehr alles für sein Land. Der Tilt ist im besten Fall ein besonders spannender Moment im Rollenspiel, in dem alle Spieler gebannt auf den Ausgang bzw. Fortlauf der Geschichte warten.
Wichtig ist hier, dass der Tilt einen Teil seines Impacts durch die vorherige Reincorporation bezieht. Wenn ich nichts über einen Charakter weiß und er sich gegen seine Familie entscheidet, ist das nicht besonders spannend. Wenn die Familie vorher einmal in der Geschichte vorkam, ist es vielleicht verwunderlich. Wenn er vorher fast alles für die Familie getan hat und sie plötzlich im Stich lässt, ist es der Knaller (TM)! Dann sind plötzlich alle interessiert daran, wie und warum es dazu kommen konnte und wie es weitergeht. Je "realer" ein Fakt also in der gemeinsamen Vorstellung verankert ist, als je zentraler und "echter" die Spieler ihn also wahrnehmen, desto eher kann der Tilt sein "Knaller-Potential" entwickeln. Und "Knaller" klingt nicht umsonst so wie "Bang". Und das bringt uns zu...
NAR und TiltNarrativismus als kreative Agenda zielt im Spiel sehr stark auf diese "Tilt-Momente" hin, in denen die Chance besteht, dass sich ein Charakter (mehr oder weniger radikal) ändern kann (oder es eben auch nicht tut). Diese Schlüsselmomente sind es, in denen wir etwas über den Charakter lernen und ihn nachher besser kennen. Und da der Tilt zum Teil von der Reincorporation lebt, lebt auch NAR sehr stark von der vorangegangenen Realiät und Plausibilität des Charakters vor dem Tilt. Hatten wir auch schon vor 5 Jahren mal:
[Forge] Nar, Plausibilität und Konsistenz SIM und ReincorporationJetzt wage ich mich nochmal auf eher unbekanntes Gelände: Simulationismus. Ich muss zugeben, dass ich mich da nicht so wirklich auskenne und das deswegen alles sehr spekulativ ist. Ist nur so eine Idee. Kann aber auch alles Blödsinn sein.
Ich denke, dass, genauso wie NAR auf die Tilt-Momente hin"spielt", SIM im Kern von den Reincorporation-Momenten lebt. Man "konsolidiert" die gemeinsame fiktive Realität, sei es an den Charakteren, dem Setting oder dem Genre. Das heißt nicht, dass keine Tilt-Momente vorkommen können. Aber auf sie wird nicht aktiv zielgerichtet hingearbeitet. Energie und Arbeit wird in das Herstellen der Reincorporation gesteckt: "Sticks" der Charaktere, Eigenheiten des Settings, Tropes des Genres.
Kurz: NAR konsolidiert nur, um zu kippen. SIM konsolidiert um seiner Selbst willen, kippt nur, wenn es passt, konsolidiert aber dann gleich wieder. (naja, so mittelkurz
)
Reincorporation, NAR und RealitätsempfindenJetzt nur noch kurz zu einem klassischen Problem, das viele Leute mit Pervy-Indie-NAR-Spielen haben und das ich früher immer schlecht nachvollziehen konnte.
Da NAR auf den Tilt hinsteuert, und dort möglichst viel Zeit verbringen will, wird oft möglichst wenig Reincorporation zu machen, bevor es zum Tilt kommt. Es heißt "Konflikt, Konflikt, Konflikt!" mit möglichst wenig Pause zum konsolidieren dazwischen. Die Kritik ist hier, dass sich das oft "gehetzt" anfühlt und auch oft der (emotionle) Bezug der Spieler zu den Konflikten nicht besonders stark sei. Die Kritiker wünschen sich hier mehr Zeit zum Aufbau vor dem Tilt und auch mehr Zeit zum konsolidieren zwischen den Konflikten (Tilts).
Was mir in der letzten Zeit immer klarer geworden ist, ist, dass sich Leute darin unterscheiden, wieviel Reincorporation sie brauchen, bevor etwas in der gemeinsamen Vorstellung als "real" und emotional bedeutsam erlebt wird und der Tilt somit den gewünschten Impact erreichen kann. Ich kann schon einen Bezug zu einer Beziehung in der gemeinsamen Vorstellung aufbauen, wenn diese nur in der "Aufbauphase" (R-Map-Bau, also quasi Vorabspiel) vorgekommen ist. Andere sehen eine Beziehung in mehreren Szenen im Spiel und sie fühlt sich immer noch flach und unecht an. Und das kann dann zu Problemen im Pacing (ich will gleich zum Tilt, andere wollen vorher noch "aufbauen") der Immersion (als Realitätsempfinden der gemeinsamen Vorstellung) und dem Tilt-Impact führen.
So, was wir jetzt damit machen, weiß ich auch nicht so genau. Ich wollte es einfach mal gesagt haben.
Konstruktive Anmerkungen und Diskussionsbeiträge sind wie immer erwünscht.