Autor Thema: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?  (Gelesen 3304 mal)

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Hallo zusammen,

da geistert seit einer kleinen Diskussion mit Minne ein Gedanke in meinem Kopf herum.
Früher hatte ich mir wenig Gedanken zum Kulturbegriff gemacht und wenn, dann eher in der RIchtung, dass ich versucht habe, herauszufinden, was dieser oder jener mit diesem Kampfbegriff eigentlich sagen möchte.
Stichworte sind hier Leitkultur oder Kulturbanause, Kulturträger etc.

Deswegen möchte ich zu Anfang den Kern der Idee vorstellen:


Die Kulturelle Fülle ist die Gesamtheit aller Ideen/Weisen/Ausdrucksformen, die dem Ausübenden in der Gesellschaft positives Feedback einbringen und als wertvoll angesehen werden.

Das heißt es ist die Vielfalt der Ideen, mit denen sich ein MItglied der Kultur beschäftigen kann und darin von anderen bestärkt wird.
Je mehr Möglichkeiten es hier gibt, desto mehr Menschen beschäftigen sich zufällig oder absichtlich mit immer neuen Ideen, werden offener und flelxbler im Denken.

Die kulturelle Tiefe einer solchen Idee/Ausdrucksform ist der Umfang ihrer Tradition oder ihrer Vorgänger oder ganz Allgemein, die Anzahl ihrer Anknüpfpunkte mit anderen akzeptierten Ideen/Ausdrucksformen.
Eine lange Tradition, wie die Musik Wagners erhält durch ihr Alter, durch ihre Zweckentfremdung, Überhöhung oder dadurch, dass sie gefeiert wird, Bedeutung und auch "kulturelle Tiefe".
In anderen Worten, es gibt viele Zugangswege, die dem Bürger offenstehen, um zu der Musik zu gelangen.
So kann man als Mitglied der Oberschicht und aus Geltungsbewusstsein an den Bayreuter Festspielen den Kontakt und zur Begeisterung finden oder über das Studium der großen französischen Oper oder über Apocalypse Now und der Wirkung im Film oder über Beschäftigung mit der rechten Szene und der instrumentalisierung von Wagners Werk oder seiner Figur.

"Kulturelle Tiefe" gibt an, wie einfach es ist über die Idee zu stolpern, durch Beschäftigung mit ihr in verschiedenen Kreisen der GEsellschaft positives Feedback zu erhalten und so Energie zu erhalten, sich weiter mit ihr zu beschäftigen. Es ist leicht Sparringpartner zu finden oder (Mit)Publikum oder sich häufig mit dem Thema zu beschäftigen, weil es für viele erreichbar ist.

Geduld, ich brauch noch zwei Bausteine: ;D

Der eine Baustein ist eine Rolle, die Musik einnehmen kann. Sie kann als Identifikationsmerkmal für eine Gruppe dienen.
Beispiele hier sind Punk, Blackmetal, Justin Bieber, "Es ist 1996..."
Hier wird Musik oft eingesetzt, um ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu erzeugen, wobei es oft nicht klar ist, was eigentlich die Hauptmotivation ist.
Das kann eine politische (un)Agenda sein, wie im Punk oder die Zusammengehörigkeit beim gemeinsamen Hüpfen in der 90s-Disko.
Musik verbindet hier und schottet gleichzeitig ab.
Sie wird als Symbol für Werte verwendet(Hymnen) oder für die Ablehnung bestimmter (Black Metal) oder als gruppenbildendes Mittel (Fußballlieder).


Der letzte Gedanke ist der, dass es Genies gibt.
Dies sind Menschen, die neues schaffen und es wagen, die "Kultur zu verlassen", indem sie neues wagen. Sie sind eine ganze Zeitlang nicht einholbar, da sie keinerlei kulturelle Tiefe haben oder wenn, dann nur sehr obskure.
Musikalische Subkulturen bilden sich um Vorreiter, um Genies, die neues wagen. Sie entwicklen sich über den Personenkult zur reiferen Idee, die von mehr als nur einem Künstler getragen wird und nachher nicht mehr auf ihn angewiesen ist.
Das heißt es bilden sich wachsende Inseln (Cliquen) um Genies herum.


Der Nutzen:

Eine reichhaltige Kultur ist positiv für die Gesellschaft, da sie geistig wache Menschen hervorbringt. Das heißt je mehr Ideen dem Menschen offenstehen, desto mehr offene Menschen gibt es und desto mehr wird Neugierde und Ausdruck belohnt. Desto mehr positives Feedback für Handlungen, die an sich schon Erfüllung bringen wird gegeben und es wird leichter für alle Glück zu erlangen.

Der gewünschte Fortschritt ist also eine Erweiterung der akzeptierten Palette in Breite und Tiefe und am besten flach über alle Mitglieder der Kultur verteilt (man kann Mitglied in versch. dieser Kulturen sein, da sie hier über die Akzeptanz bestimmt sind und daher eher als Beschreibung einer Masse an Menschen funktioniert und nicht anders herum)
Das heißt, wenn man die Gruppe an Menschen teilt, sollte sich ihre Kultur im Idealfall nicht ändern. Jeder akzeptiert die Ausübenden einer anderen Idee als Bestandteil der Kultur und weiß zumindest ein paar Dinge an ihnen wertzuschätzen oder steht einem fairen Diskurs offen gegenüber.

Jetzt grenzen wir das Thema auf Musik ein.
Musik ist hier als Ausdrucksform gemeint, die das Grehörte in den Mittelpunkt stellt. Wenn man Musik hört, dann kann man sagen, von wann bis wann und wo dies geschehen ist, was zur Musik gehörte und was nicht und wer an ihr beteiligt war und wer nicht. Die Beteiligten müssen dies mit der Absicht tun, Musik zu schaffen.
Aber das ist für den Fortschrittsgedanken nicht so wichtig und bei extremen Beispielen werde ich hier keine Streiterei anfangen. ;D


Wie verbreitert und wie vertieft sich eine Kultur:

Sie vertieft sich durch neues Verknüpfen und Abschaffen von Denkschwellen.

Vertiefung außerhalb der Musik:
Die modernen Theater stellen den "fliegenden Holländer" als Bürohaus auf der anderen Straßenseite dar und lassen die Königin der Nacht als Puffmutter auftreten, SIe lassen eine alte nackte Frau alleine auf der Bühne hin- und herspazieren, ersetzen die Juden in der Oper Salome durch Nazis und das Publikum ist schockiert und liebt es.
Das Neue daran ist die Verknüpfung des Bekanntem mit Dingen jenseits einer Denkschwelle, skandalösen Assoziationen. Neben der Verzweiflung, mit der versucht wird in blasiertem Publikum die Lust nach Aufregung zu befriedigen, wird hier eine Auseinandersetzung forciert.
Es sind Dnekanstöße, neue Verknüpfungen.

Auf einmal gibt es einen Zugang über die Frage, ob Nacktheit akzeptiert werden kann oder nicht und welche Rolle dies für die Musik (in dem Moment) gespielt hat.
Dies provoziert Meinung und auseinandersetzung, Aufregung und Kurzweil, aber auch die Entdeckung und Akzeptanz eines neuen Stilmittels.
(Poah, was für Apologetik für das modernde Theater...nachvollziehbare Beispiele folgen.)

Früher habe ich an dieser Stelle gefordert, dass mehr einfache Aufführungen stattfinden. Die Urinszenierung der Zauberflöte finde ich wunderschön und würde sie sehr genießen, wenn ich erneut sähe. Sie ist zugänglich aber leider nur sehr selten verfügbar.
Das heißt hier findet dadurch, dass man bestimmte Zugangswege verknappt eine Reduktion der kulturellen TIefe statt. Es werden "künstlich" Zugänge verengt, sodass die Idee weniger Menschen offensteht.
Neben dem Schaffen neuer Verknüpfungen ist es hier für eine Kultur auch wichtig, alte Zugänge offenzuhalten und weiterzuentwickeln. Der Zugang zur Oper über die Form des Märchens wie in diesem Fall wird schwieriger, ist in der heutigen Zeit aber auch mit einer barbusigen Papagena oder einem schwulen Sonnenpriester machbar. Die Akzeptanz gegenüber solchen Variationen hat sich verändert. Die Frage hat sich vom Tabubruchweg, hin zum Grund für die Wahl des Stilmittels verschoben. Diskurs ist an einer Stelle möglich, wo er früher nicht möglich war. Bleibt die (für moderne Intendanten anscheinend unlösbare) Aufgabe, von diesen Stilmitteln sinnvollen (politischen/humoristischen/erotischen/designerischen/modischen/erzieherischen) Gebrauch zu machen.

Hier wird die Musik/Theater genutzt, um in ihrem Rahmen Diskurse außerhalb der Musik anzustacheln.
Sie dient als MIttel, um eine Aussage zu transportieren, ein Thema mit Emotionen zu versehen und so gewichtig zu machen.


Beispiel außerhalb der Oper:

John Mayall war wei0 und hat Blues gemacht, genau wie Eric Clapton etc. Diese Musiker sahen sich einem großen Widerstand gegenüber, dem gleichen wie Elvis Presley und Eminem.
Darf ein weißer Musik machen, die als Identifikation für Schwarze herhalten musste?
Dies stachelte einen Diskurs an und die Ausdrucksform Blues, RocknRoll, Hiphop eroberte neue Köpfe und es wurden auf allen Seiten Schranken eingerissen.

Es gab neue Zugangswege zur Ausdrucksform für Mitglieder der Kultur und die Ausdrucksform hat sich von ihrer Zweckbindung als Identifikationsmerkmal auf der einen Seite und als Stigma von anderen Seite emanzipiert und ist persönlicher geworden.


Kulturelle Vertiefung innerhalb der Musik/Ausdrucksform:
Innerhalb der Musik kann so eine Vertiefung kultureller Ideen auch dadurch funktionieren, dass verschiedene Bereiche verknüpft werden.
Jazz-Blues-Fusion, Weiße dürfen Rappen, Liedermacher und neue Popmusik/Hiphop,...

Oder auch um klassisch zu bleiben: Das Ballett zu Pink Floyd's The Wall in der Essener Aaltooper.
Hier wurde dieses Konzeptalbum/Musical als Ballett dargestellt und hat so für ein Publikum gesorgt, in dem sich weinrote Jackets und Bandshirts die Waage hielten und man nachher sogar miteinander ins Gespräch kam... naja, nicht mit den hustenden alten Frauen in den weinroten Jackets, sondern eher mit den anderen distinguierten Persönlichkeitchen dort.
Es war super und die Stilmittel des Balletts haben die Wirkung der Songs getroffen und ein gutes Stück weitergetragen. Neu, ästhetisch,emotional und es hat funktioniert.
Meine Akzeptanz gegenüber Ballett als Ausdrucksform hat sich hierdurch gewandelt.
Dies ist genau der Effekt, den ich oben mit der Vertiefung innerhalb der Kultur meine. Schaffung neuer Zugangswege und Genußweisen für mehr Teilnehmer der Kultur und einen freieren Umgang mit der Idee/Ausdrucksform.

Die Verbreiterung der Kultur:

Hier sehe ich zwei Varianten:
Den Drift und den Brückenschlag.

In meinen Augen ist der Drift viel seltener/schwächer. Er ist eine nachfragemotivierte Umwälzung. Der Zweck, der mit der Musik erfüllt werden soll verlangt, dass er sich bestimmten Veränderungen anpasst oder der Willen der Menschen eine Grenze zu überkommen wirkt sich in der Musik aus.

Zum Beipiel:
Politische Veränderungen lassen den Menschen nach Hoffnung gieren und so steigt die Akzeptanz für Schnulzen, bis sich hier eine zeittypische Form herausgebildet hat oder die Gier nach Meinung steigt und Liedermacher treten auf den Plan, bis sich hier ein neuer Stil gefunden hat, für den es jetzt im Gegensatz zu früher offene Ohren gibt.
Namen sind Hier Bob Dylan(politische Meinung), Elvis(weißer Blues/Lebensgefühl), die Beatles(Wiederentdeckung der Wildheit), Madonna/Prince (SEX).
Ein Drift hat meistens einen oder wenige Köpfe, die ihn tragen und die das Pop-Bedürfnis bedfriedigen.

Der Eurodance war ebenfalls ein solcher Drift, wenn auch kein allzu reiner, denn er entstammt den Clubs, wo wir beim Grenzberich zum Brückenschlag sind.

Das Genie schafft etwas neues, unpopuläres, was allerdings einige wenige begeistert. Meistens bildet sich hier eine Subkultur, die sich gegenseitig bestärkt und das Thema in sich vertieft und entwickelt. Es wird eine eigene Tradition aufgebaut.
Die Zeit der Subkultur ist daher sehr wichtig für die Entwicklung der Idee, denn dadurch, dass sich eine recht kleine Gruppe intensiv und exklusiv mit der Idee beschäftigt entwickelt sie sich extrem schnell und erhält sehr viele Anknüpfpunkte für andere Ideen. Man kann dies mit einer wachsenden Insel vergleichen, die immer neue andere Landschaften erhält.
Gleichzeitig wird sie für ihre MItglieder immer wichtiger, was bedeutet, dass sie sich eine Trägergruppe schafft, um weiterbestehen zu können.

Mit der Zeit sammeln sich in dieser Subkultur immer mehr Menschen an und tragen diese in den Aufmerksamkeitsbereich ihrer Peers außerhalb der Subkultur. Es entstehen erste Diskurse und erste Konvertiten/ Mischformen.
Die Abgrenzung wird zwangsläufig aufgeweicht und es gibt mehr Anhänger, die gerne mehr Anknüpfpunkte hätten oder das Bedürfnis nach Mischformen erfüllen möchten.
Die Musik wird "verwässert", "untrue", verpopt, es wird Verrat an der Reinen Lehre geübt....

Die Insel wird eine Landzunge.

Die miteinander verbundene Landmasse der Kultur gibt einem tausende Wege von jeder Idee zur anderen, so dass die Interessen wandern können und langsam bildet sich ein Weg zur neuen Subkultur heraus, die nun Teil der Landmasse ist.
Sei dies der unpolitische Punk oder Nightwish, die durch die Verknüpfung zweier dem Pop unzugänglicher Ideen einen überaschenden Brückenschlag vollbracht haben. Auf einmal haben Mehr menschen durch verwässerung einer genialen Idee die Möglichkeit sich diese zu erarbeiten. Sie erhalten die Mittel sich über das Stilmittel des Blastbeat zu unterhalten und eine Meinung zu haben oder festzustellen, dass es eine "sinnvolle" Anwendung gibt. Das Ohr ist freier geworden.

So geht die Musik von Subkulturen im Mainstream auf und bringt der Kultur Bereicherung.



Folgen und Bedenken:


Die Subkultur hat jetzt das Problem, dass ihr ein Identifikationsmerkmal abhanden gekommen ist und reagiert darauf.
Hier wurde ich auf einen wunderbaren Kampfbegriff hingewiesen: "Diebstahl kulturellen Eigentums".
Der Besitzgedanke, der aus der Funktion des Kulturbestandteils hergeleitet wird, steht an dieser Stelle im Vordergrund. Es ist schwer hier eine feste Meinung zu haben, aber ich bin davon überzeugt, dass ab einem gewissen Punkt der Nutzen von Abgrenzungsmerkmalen erschöpft ist.
Ein Kampflied, dass alle Mitglieder einer unterdrückten Gruppe verbindet und die Aufmerksamkeit der Gesellschaft weckt, sodass das Problem angegangen wird, hat irgendwann seinen Zweck erfüllt.
Ich glaube nicht, daran, dass es einen dauerhaften positiven Effekt aus einer Gruppendefinition durch Abgrenzung im Gegensatz zur zweckgetragenen Definition der Clique geben kann.
Die pos. Effekte durch die Synthesen mit der Vielzahl anderer Ideen und die Nutzung durch viele Menschen wiegen schwerer als der Nutzen aus der Zweckeinschränkung der Idee/Form.

Ich unterscheide hier zwischen der Idee/Ausdrucksform und dem, was die Gruppe ausmacht, sei das eingemeinsames Interesse, eine gemeinsame Geschichte oder auch nur gleiche Hautfarbe.
Die Ausdrucksform ist nur die Fahne die Geschwenkt wird, sie ist das Symbol für das Gemeinsame und nicht die Ursache.
Ist sie das Gemeinsame, dann müssen sich die Mitglieder damit anfreunden, dass es neue Mitglieder gibt, die nicht den Erwartungen entsprechen...

Der Brückenschlag erfolgt meist gegen den Widerstand des Kerns und kommt meist aus dem Rand der Subkultur zum Mainstream oder vom Mainstream in die Subkultur und ist dann meistens ein langsamer Prozess.

Nach der Integration muss die Subkultur damit fertig werden, dass sie keine grenze mehr hat und dann stellt sich heraus, ob sie genug Substanz hat, um dem Diskurs standzuhalten oder ob sie den Gezeiten der Mode unterworfen wird.

Größte Kritik bisher hieran ist die isolierte BEtrachtung der Musik, das heißt das Ausklammern der Folgen für die Parallel/Subkulturen, wenn ihr ein Identifikationsmerkmal abhanden kommt oder wenn sich neue Inseln durch ABspaltung von der Landmasse bilden.
Letzteres kann geschehen, wenn bestimmte Musik Pariah wird, da eine Subgruppe sie für sich beansprucht.
Wenn Marschmusik nun nicht nicht mehr mit Pomp and circumstance sondern mit Rechten Aufmärschen verbunden wird, dann wird sie aus dem kulturellen Zugriff entfernt. Die Kultur wird schmaler.

Ein Weiterer Punkt ist der Kulturbegriff, der sich so nicht auf Ideologien oder Weltbilder übertragen lässt.

Ring frei! Schießt einzelne Punkte ab oder werft andere Perspektiven in den Raum!
« Letzte Änderung: 9.02.2012 | 18:42 von DestruktiveKritik »

Offline korknadel

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Re: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?
« Antwort #1 am: 9.02.2012 | 17:48 »
Hui, das geht ganz schön durcheinander. Zumal ich mich unheimlich schwer tue, das Thema Musik über Musiktheaterinszenierungen anzugehen, denn die betreffen vor allem und beinahe ausschließlich außermusikalische Gesichtspunkte des Gesamtkunstwerks Oper.

Was ist eigentlich die Urinszenierung der Zauberflöte?

Ich glaube, bei dem ganzen Komplex mit den Opern geht es in Deinem Beitrag grob um den Gegensatz zwischen inzenatorischen modernen Aneignungen und historischen (mehr oder weniger) Rekonstruktionen. Abgesehen davon, dass Letzteres in Reinform höchstens im Musical- oder im Bereich der Operette stattfinden dürfte, ist aber beidem sowohl auf Seite der Künstler (Regisseure, Bühnenbildner, etc) als auch der der Rezipienten eine gewisse Kenntnis des musik/kunst/kulturhistorischen Umfelds vonnöten, oder nicht? Eine eher rekonstruierende Inszenierung setzt ein Publikum voraus, das solche Inszenierungen schätzt und verlangt. Und moderne Aneignungen können auch nur funktionieren, wenn die Diskrepanz zwischen dem als ursprünglich Gemeintes Rekontruiertem und dem, was dann mit Kunstblut, nackter Haut und Hakenkreuzen daraus gemacht wurde, irgendwie erkannt werden kann. Sonst würde auch der Effekt der Provokation völlig ausbleiben.

Das nur in aller Schnelle als erster Gedanke, der mir dazu kam. Künftig wahrscheinlich mehr.
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Re: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?
« Antwort #2 am: 9.02.2012 | 17:59 »
Jupp, das geht noch ziemlich durcheinander...

Der Punkt, der mich damals hat aufhorchen lassen war, dass eine Subkultur, die verwässert wird, der Allgemeinheit einen Nutzen bringt und dass der Kampf der Subkultur gegen Auflösung im Mainstream reifere, stärkere und tiefere Ideen und im Endeffekt eine noch stärkere Bereicherung zur Folge hat.

Ob es nun eine Art Vorverdauen durch eine Avantgarde, ein destruktiver Übergang ist, eine Art kulturelle Abholzung und nachfolgende Gewächshauszüchtung oder konstruktives nebeneinander herleben im Dialog ist zweitrangig.

Solange immer neue Subkulturen keimen und gedeihen, dürfen sie von der Landmasse immer wieder eingeholt werden, solange sie dann im akzeptierten Ideenschatz bleiben und sich als Baustein in allerlei Formen wiederfinden war es gut. Wenn sie verschwinden/vergessen/inakzeptabel werden, ist es schade. Wenn man verlernt zu Eurodance zu feiern, dann ist dies ein Rückzug der Landmasse. Wenn man im Richtigen Moment Candyrave reinlegt und er funktioniert, so hat man vorhandenes kulturelles Kapital genutzt.

Die Oper als Beispiel für Musik habe ich gewählt, da sie so schön bildlich ist und Musik in den seltensten Fällen einem Selbstzweck gehört, sondern meistens eine andere Musikfremde Idee trägt.
Weiter wollte ich damit zeigen, dass ich einen perversen Zugang zum allgemein anerkannten Kulturbetrieb gefunden habe und eine Erklärung, wie er im Sinne einer nutzenbringenden Kulturentwicklung funktionieren könnte.

Immerhin heißt es, dass ein Opernhaus einen Nutzen für eine Stadt hat und dass sie ohne dieses ärmer wäre... das muss doch woher kommen und darf nicht bloß die skandalöse Selbstbefriedigung einer Mindeheit sein, die sich gerne oberhalb des Gesellsvchaftsspiegels von Vulgärem unterhalten lässt.
« Letzte Änderung: 9.02.2012 | 18:04 von DestruktiveKritik »

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Re: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?
« Antwort #3 am: 9.02.2012 | 18:19 »
Was ist eigentlich die Urinszenierung der Zauberflöte?
http://www.amadeusmozart.de/OpernZauberfloete.jpg
die hier.
Keine Strapse, keine Orgien mit blutigen Skeletten, keine Zombienazis, nur Märchen.

Zum Punkt, warum moderne Inszenierungen schwer zugänglich sind und sie so weniger akzeptiert sind, kann ich dir nur zustimmen.

Historische Inszenierungen benötigen ein Publikum, dass diese verstehen kann. Oder der Intendant muss sich um eine Übersetzung für das entsprechende Zielpublikum bemühen.
Will man eine Aussage treffen oder einen Anreiz zur Beschäftigung mit irgendeinem Thema geben, kann man dies durch ein Abweichen von der Urform erreichen. Dies ist leichter verständlich, wenn das Publikum diese kennt. Es hilft auch, wenn die Abweichung plump genug ist...

Ein leichterer Zugang würde mMn viel Nutzen bringen. Vllt. gibt es sogar ein Feld für U-/Pop-Regisseure von Opern? >;D

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Re: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?
« Antwort #4 am: 9.02.2012 | 20:41 »
Provokante These: Die Musikszene bringt keinen nützlichen Fortschritt zustande. Sie wird von realitätsfremden Eintänzern gesteuert, von speziellen Massenmedien glattgebügelt und unterdrückerischen Steuerungsmechanismen kontrolliert, die den Konsum des Einzelnen belohnen, und ihm die Eigeninitiative auszutreiben suchen.


Ich kann mich momentan an kein greifbares Beispiel erinnern, bei dem "die Musikszene"(Welche eigentlich?) einen "nützlichen"(Was heisst nützlich eigentlich? Für wen? Für was?) "Fortschritt" (Was für Fortschritt? Technisch, ethisch, moralisch? Fortschritt für wen?) erzielt hätte.

Alice Crocodile Coltrane

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Re: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?
« Antwort #5 am: 9.02.2012 | 21:54 »
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Re: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?
« Antwort #6 am: 9.02.2012 | 23:57 »
@Ghostrider:
Keiner Tipp. Lies einfach das Anfangsposting. Da hast Du die Beantwortung Deiner Frage nach dem Fortschritt und dem Nutzen aus Sicht des Threaderstellers samt dazu aus Sicht des Threaderstellers passenden greifbaren Beispielen...
Ich bin viel lieber suess als ich kein Esel sein will...
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
Nicht Sieg sollte der Zweck der Diskussion sein, sondern
Gewinn.

Joseph Joubert (1754 - 1824), französischer Moralist

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Re: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?
« Antwort #7 am: 10.02.2012 | 08:30 »
Aus Deinem zweiten Post werde ich schon um einiges schlauer. Wobei Du da natürlich nichts anderes beschreibst als die Evolution von Kunst, wie sie schon immer vonstatten ging. Mir persönlich ist hier allerdings sehr wichtig, dass Evolution nicht im Sinne einer Entwicklung von primitiv zu Krone der Schöpfung zu verstehen ist, sondern quasi wertneutral einfach das Fortschreiten von Ideen und Formen und Ausdrucksmitteln bezeichnet. Beethoven ist nicht "besser" als Haydn, nur weil er die Wiener Klassik weiterentwickelt hat.

Was mich in diesem Sinne in Deinem zweiten Beitrag stört, ist, dass Du wertest oder sagst, wie es laufen soll. Ich sehe es als Teil des geschichtlichen Prozesses von Kunst, das gewisse Dinge auch wieder in Bedeutungslosigkeit versinken können, ungenutzt bleiben dürfen. Auch eine bewusste oder unbewusste Abkehr von manchen Dingen, ist ein Reflex auf diese Dinge. Ein Beispiel für eine solche bewusste Abkehr wäre das Anliegen der Serialisten nach dem zweiten Weltkrieg, die die Musik möglichst von jeder Historie befreien wollten (weil diese durch die Nazizeit belastet war), was dann teilweise ja sogar dazu führte, dass Musiker aus dem Konzertsaal verbannt wurden und nur noch Lautsprecher auf der Bühne standen, die elektronisch erzeugte Töne in den Saal bliesen.

Der Begriff der Subkulturen lässt sich natürlich nicht ohne Probleme auf den Großteil der Musikgeschichte anwenden. Denn je nach dem Ort, für den Musik geschrieben wurde, gab es zwar "Milieus", aber man würde diese nicht gerade mit dem assoziieren, was man heute Subkultur nennt: Kirche, Tanzsaal, Hof, bürgerliches Wohnzimmer, Konzertsaal, etc. Hier wird es vor allem mit dem Abgrenzungsgedanke schwierig. Finde ich zumindest.

Dennoch sind (oder waren) die Prozesse auch damals ähnlich: Ein erheblicher und zahlungskräftiger Teil des  Publikums wollte offenbar nicht immer nur dasselbe hören, sondern war begierig auf Neues. So wurde immer auch eine Avantgarde gefördert, die in einem ähnlichen Spannungsfeld zum "Mainstream" stand, wie es heute die "Subkultur" ist. Regionale, finanzielle, religiöse, politische Gesichtspunkte spielten dabei stets ebenso stark hinein wie bei der Subkulturenmusik.

Erschwert wird diese Betrachtung natürlich vor allem dadurch, dass der überwiegende Teil der erfassbaren Musikgeschichte nur die sogenannte E-Musik betrachten kann, weil die U-Musik bis ins 19. Jahrhundert hinein so gut wie nicht aufgezeichnet wurde.

http://www.amadeusmozart.de/OpernZauberfloete.jpg
die hier.
Keine Strapse, keine Orgien mit blutigen Skeletten, keine Zombienazis, nur Märchen.

Wenn das so ist, halte ich Deine Aussage für falsch. Denn die Assoziation "nur Märchen" im Bezug auf die Zauberflöte ist eine Zuschreibung. Bei aller Märchenhaftigkeit dieses "Singspiels" zeigt eine genauere Betrachtung sowohl von Text, als auch von Musik (und auch des hoch artifiziellen Bühnenbilds), dass mit dem Stück viel mehr transportiert werden sollte als "nur Märchen". Die ursprüngliche Aussage ist nie und nimmer "nur Märchen". Nur weil die meisten heutigen Rezipienten nicht mehr in der Lage (oder willens) sind, die ursprüngliche Wirkung -- quasi hiostorisch-kritisch -- herzuleiten, und weil zum Beispiel der Anblick des Bühnenbilds schon so ins Allgemeingut übergegangen ist, entsteht der Eindruck von "nur Märchen".


Zum Punkt, warum moderne Inszenierungen schwer zugänglich sind und sie so weniger akzeptiert sind, kann ich dir nur zustimmen.

Das habe ich so nicht gesagt. Moderne Inszenierung muss auch nicht unbedingt gleich bedeuten, dass Nazis über die Bühne wallen. Ich glaube sogar, dass moderne Inszenierungen -- aufgrund des in meinem vorherigen Absatz beschriebenen Mangels an Verständnis -- zugänglicher sind als solche, die versuchen würden, eine historische Aufführung zu rekonstruieren (was selten, und wenn, dann auch nur in Italien ( :D) gemacht wird). Der heutige Besucher weiß doch auch einfach viele Dinge nicht mehr, die man beim ursprünglichen Publikum voraussetzen konnte. Und wenn im Saal nur noch drei Hanseln wissen, wer Ceres ist, dann reicht es eben nicht, dass ich der Sängerin einen Ährenkranz aufsetze, damit alle es blicken. Sondern dann stecke ich sie in das Kostüm einer Puffmutter, und alle erkennen sofort etwas in der Figur (ob das nun Sinn "macht" oder nicht).

Ich hatte vor Jahren, als Calicto Bieitos Entführung in der Komischen Oper in Berlin lief (hier ein Artikel dazu), etliche Diskussionen mit Leuten, die es toll fanden, dass Bieito zeigt, dass da wahnsinnig viel Gewalt drinsteckt. Warum soll man das dann auch nicht so darstellen (inklusive abgeschnittenen Brustwarzen etc.)? Klar, wer Mozarts Oper hört und das Libretto liest, und dann nicht spannt, dass es da um Gewalt geht, der braucht natürlich eine Regie, die ihm das klarmacht. Von daher können solche modernen Inszenierungen den Zugang enorm erleichtern. Es ist viel schwieriger, sich mit einem aufklärerischen Stück, einer "Türkenoper" mit Schuften udn Edlen nach den Maßgaben der damaligen Zeit auseinanderzusetzen, als eine Gewaltorgie im Puff-/Zuhältermilieu anzugucken (wie jeden zweiten Abend vor der Glotze auch). 

Ein leichterer Zugang würde mMn viel Nutzen bringen. Vllt. gibt es sogar ein Feld für U-/Pop-Regisseure von Opern? >;D

Frag mich nicht mehr, wo und wann und wer, aber es gibt Inzenierungen von U-/Pop-Regisseuren. Ich kann mich erinnern, mal im Rolling Stone etwas über eine Ring-Inszenierung gelesen zu haben von irgendeinem ... keine Ahnung mehr, der Typ war jedenfalls kein "Klassiker".
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Re: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?
« Antwort #8 am: 10.02.2012 | 11:06 »
Ich versuch mal mitzudenken. Nutzen von Kunst/Musik

Zuallererst hatte ich Mühe das Geschrieben für mich zu strukturieren. Aber nun mal frei und unsortiert, was mir dazu einfällt. Ich hänge noch am Nutzen von Kunst. Ich versuche mich darauf einzulassen, was ihr schreibt, sortiere aber schon.

Aus Deinem zweiten Post werde ich schon um einiges schlauer. Wobei Du da natürlich nichts anderes beschreibst als die Evolution von Kunst, wie sie schon immer vonstatten ging. Mir persönlich ist hier allerdings sehr wichtig, dass Evolution nicht im Sinne einer Entwicklung von primitiv zu Krone der Schöpfung zu verstehen ist, sondern quasi wertneutral einfach das Fortschreiten von Ideen und Formen und Ausdrucksmitteln bezeichnet. Beethoven ist nicht "besser" als Haydn, nur weil er die Wiener Klassik weiterentwickelt hat.


Für mich ist Kunst im allgemeinen eine Ausdrucksform. Der Mensch hat das Bedürfnis sich auszudrücken. Ob nun sprachlich, bildlich, wie auch immer. Kunst ist für mich eine gesteigerte und intensivere Art sich auszudrücken und dient dem Menschen. Ist also Selbstzweck.
Hierzu dies:
Zitat
Dennoch finden sich Kunstformen in allen historischen Epochen und Kulturbereichen, was darauf hinweist, dass ein Kunstbedürfnis biologisch gegeben und nicht allein ein Ergebnis sozialer Prägung ist.
Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Kunst

Auch eine Gruppe drückt sich aus. Egal ob nun eine größere Gruppe (Mainstream) oder eine "Subkultur".  Nicht Jeder kann sich kunstvoll ausdrücken, aber jedes menschliche Wesen hat Möglichkeiten sich auszudrücken. (Selbst Affen malen)

Kunst, ob nun die Oper, welche eben mehrere Kunstrichtungen vereint, oder rein die Musik, werden vom Publikum aufgenommen. Es versucht den Ausdruck zu verstehen oder es empfindet etwas dabei. Manches wird als logischer Kick verstanden, manches einfach als "schön" empfunden. das ist subjektiv leicht unterschiedlich.

Kunst dient manchen Menschen oder einer Gruppe oft auch als Statussymbol. Sie verstehen dieses, hören jenes, sammeln etwas "wertvolles" und erheben/separieren sich damit vom Mainstream. Sie definieren sich, wie dies auch über ein gemeinsames Vorurteil möglich wäre. Manche freuen sich auch einfach nur an etwas gemeinsam. Manchmal ist es auch die Freude, jemanden zu haben, der dieselben geistigen Schwerpunkte in der Kunst erkennt.

Wertung von Kunst ergibt sich daraus. Wir/ich mag dieses, das andere ist "Scheiße". Manches ist In und bildet eine Bewegung die groß ist. Mainstream. Manches erschließt sich nur einem Teil. Ich denke, dem Künstler, wenn er nicht Geld damit verdienen will, ist das egal. Er drückt sich aus. Will er Geld verdienen, muß er versuchen die breite Masse zu erreichen. Trends zu setzen. Entwicklungen, Strömungen erkennen, seine Kunst vom Selbstzweck befreien und anbieten, was "konsumiert" werden will uns wird. Es gibt also eine  Markt für Kunst. Er unterliegt also auch volkswirtschaftlichen Aspekten, wird von Nachfrage und Angebot bestimmt. Um Kunst davon zu befreien, gab es schon immer Mäzene. Diese kaufen sich damit aber auch Macht. Auch damit wird Kunst zum Statussymbol.

Entwicklungen laufen für mich persönlich, aber auch kulturell in Spiralbewegungen und Kreiseln ab (fuge). Neuerschaffungen sind selten. Wir erlernen als Menschen ja und entwickeln/adaptieren das Erlernte. Unsere Märchen warein einst deutlich gewalttätiger. Wir haben sie verniedlicht und versucht den rein moralischen Kern mit den Schlüsselfiguren zu erhalten. Wenn ich auf das Ursprüngliche zurückgreife, ist das eine Retrowelle, ein aufarbeiten des alten Stoffes, verfütterbar angepaßt an die derzeitigen Bedürfnisse. Ist es nicht verfütterbar, wird es abgelehnt oder als "Oha- wie interessant" empfunden?

Ich habe letztens einen Bericht gesehen, daß nun die Erfolgsformeln von Musik berechnet sind. Der Geschmack der Masse ist nun analysiert und kann befüttert werden. Ui! :D

Nun kommen wir zum Zufall. Es ist manchmal gegeben, daß der Künstler sich ausdrückt und rein zufällig den Geschmack der Masse trifft. Das ist selten. Vor allem, da ja Kunst für Geschmäcker produziert wird. Meist kann er froh sein, wenn er den Geschmack einer kleinen Gruppe oder Subkultur trifft. Um so schöner, wenn es Jemandem gelingt. Kunst die niemandem gefällt ist für die Masse wertlos, kann für den Künstler jedoch sehr wertvoll sein. Wertungen.....ts......

Ich hoffe ich habe mit meiner eher praktischen Denkweise diese Diskussion ned entzaubert.Ich denke und lese weiter mit.  :)

Edith: Gibt es eine Gruppe ohne gemeinsames Merkmal? Nö...oder?



« Letzte Änderung: 10.02.2012 | 11:12 von Bordfunker »

Offline Ghostrider

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Re: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?
« Antwort #9 am: 10.02.2012 | 15:37 »
@Ghostrider:
Keiner Tipp. Lies einfach das Anfangsposting. Da hast Du die Beantwortung Deiner Frage nach dem Fortschritt und dem Nutzen aus Sicht des Threaderstellers samt dazu aus Sicht des Threaderstellers passenden greifbaren Beispielen...

Hab ich. Zweimal. Ich erkenns trotzdem noch nicht.

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Re: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?
« Antwort #10 am: 10.02.2012 | 23:38 »
Boah, Sorry, das hier wird grad möchtig OT.
Ich kennzeichen einfach mal alle Bereiche, die zum THema passen. Der Rest ist meist ziemliches Gerante. ::)

Aus Deinem zweiten Post werde ich schon um einiges schlauer. Wobei Du da natürlich nichts anderes beschreibst als die Evolution von Kunst, wie sie schon immer vonstatten ging. Mir persönlich ist hier allerdings sehr wichtig, dass Evolution nicht im Sinne einer Entwicklung von primitiv zu Krone der Schöpfung zu verstehen ist, sondern quasi wertneutral einfach das Fortschreiten von Ideen und Formen und Ausdrucksmitteln bezeichnet. Beethoven ist nicht "besser" als Haydn, nur weil er die Wiener Klassik weiterentwickelt hat.

Jo, geht um eine Möglichkeit, wie Innovation entsteht.

Die breite Bewegung zu Neuem hin, die in einzelnen Milieus aber ohne Abschottung stattfindet habe ich im Restposten Drift gepackt, da ich mich ursprünglich nur auf den Ausverkauf der Subkultur und ihrer Ideen bei ihrem Auflösen im Maistream konzentriert hatte.

Zitat
Was mich in diesem Sinne in Deinem zweiten Beitrag stört, ist, dass Du wertest oder sagst, wie es laufen soll. Ich sehe es als Teil des geschichtlichen Prozesses von Kunst, das gewisse Dinge auch wieder in Bedeutungslosigkeit versinken können, ungenutzt bleiben dürfen.

Das ist eine Notwendigkeit, da im Fokus der Menschen nur eine begrenzte Menge an Ideen Platz findet. Schön ist es, wenn alle möglichen anderen Ideen zur BEschäftigung aufbereitet auf den Zugriff warten und entsprechendes Engagement auch Beachtung finden kann.

Die Wertung rührt daher, dass ich Zugänglichkeit, also die Möglichkeit, sich der fortgeschrittenen oder abstrakteren Ideen kontinuierlich zu nähern als wichtig für den gesellschaftlichen Nutzen ansehe.

Dabei ist es im Grunde egal, ob eine Form verschwindet, wenn sie durch genug andere ersetzt wird. Es kommt nicht auf die einzelne Form an.

@Serialisten
Hier zeigt sich wieder, dass ich mit Begriffen um mich werfe, die gar nicht passen.

"Subkultur"... jaja. Meinen tue ich eine Clique von Produzierenden + Publikum, die sich abkapseln, um ihre IDee zu entwickeln oder aus welchen GRünden auch immer und in der dann die Idee reift.

Das Wort Clique ist hier durchaus im wissenschaftlichen Sinne zu verstehen. Die Mathematische Def, die Intuition und die Soziologische decken sich hier recht gut.

Die Schaffer der "Neuen Musik", die Motoren über die Drehzahl stimmten und so in Instrumente verwandelten, die Tonerzeuger mit 150 TÖnen je Oktave ersannen und lernten die zu spielen sind ein hervorragendes Beispiel für eine Clique, eher für viele Cliquen gemeinsamen Geistes. Allerdings wurde sie nie vom Mainstream eingeholt, sondern zerbarst in viele Richtungen, von denen die Serialisten eine der Einflussreichsten wurden.

Schönberg, noch bevor er sich der Zwölftonmusik hingab, schrieb dazu, dass er den unverfälschten Ausdruck suche. DIes ist nur durch ungewohnte Töne möglich und nur so lange, wie sie ungewohnt sind.
Der Widerspruch zur bestehenden Kultur gehörte hier zum Konzept. (z.B. das Stück "Verklärte Nacht")
Von einer Abkehr politisch verseuchter Tradition ist mir bei ihm nichts bekannt. An anderen Stellen schon.


Zitat
Der Begriff der Subkulturen lässt sich natürlich nicht ohne Probleme auf den Großteil der Musikgeschichte anwenden. Denn je nach dem Ort, für den Musik geschrieben wurde, gab es zwar "Milieus", aber man würde diese nicht gerade mit dem assoziieren, was man heute Subkultur nennt: Kirche, Tanzsaal, Hof, bürgerliches Wohnzimmer, Konzertsaal, etc. Hier wird es vor allem mit dem Abgrenzungsgedanke schwierig. Finde ich zumindest.
Ja, da hast du sicher recht.

Die Beispiele, die ich im Hinterkopf hatte, waren die wachsender Bewegungen, die unter anderem eine eigene Musik für sich herausbrachten. Die breite Masse hat dann die kulturelle Idee der BEwegung zerschlagen und Teile Assimiliert und andere verworfen.
Die Musik der Hippies findet sich jetzt in Gesangsbüchern der kirchlichen Jugend und als Stilmittel zur freien Verfügung.SIe ist immer noch assoziert, aber unbelastet.
Das Konzept der freien Liebe und partnerlosen Familiengemeinschaft in großen Gruppen hat sich nicht gehalten.

Die Jamaikaner nahmen Teile des Jazz und kreierten den Ska, die Brasilianer und Kubana lieferten den Nährboden für den Bossa Nova.
Beides Fälle, in denen eine ursprünglich unzugängliche Musik aufgenommen und verarbeitet wurde.
Die Form wurde erkannt, geschätzt und mit eigenen Inhalten gefüllt.

Dies geht auch außerhalb der rein musikalischen Qualität:
Ska-P singen in ihrem Ska über das Leben in Armut ohne Jobs oder Zukunft. Allerdings stammen sie aus Spanien und haben hier Ideen adoptiert und zu ihrer eigenen Musik verschmolzen.

Den Begriff Subkultur hatte aufgegriffen, weil mit meinem heimgebrauten Kulturfüllebegriff zusammen das ausdrückt, was ich meine. Eine Teilgruppe, deren akzeptierte Ideen von der Übrigen Gesellschaft verschieden sind.

Da die soziologische Subkultur oft auch mit einem eigenen Musikstil daherkommt (Punk, Hiphop, Black Metal...) lag die Verwendung eben nah.



Zitat
Erschwert wird diese Betrachtung natürlich vor allem dadurch, dass der überwiegende Teil der erfassbaren Musikgeschichte nur die sogenannte E-Musik betrachten kann, weil die U-Musik bis ins 19. Jahrhundert hinein so gut wie nicht aufgezeichnet wurde.

Jetzt und im 20.Jhd hat sich das zum Glück geändert. Man kann auch die Spex lesen. Die dokumentiert das ganz gut. ;D
Die U-Musik wurde vor Allem inU-Medien aufgezeichnet. Die BravoHits sind ein sehr wertvolles Archiv der Popmusik und ihrer Entwicklung.

In früheren Zeiten war alles U-Musik außer Kirchenmusik und Etuden... Selbst Bachs Fugen und andere formale Knieschüsse waren Glasperlenspiele zur Belustigung und zum Zeitvertreib einer Elite. Aber vielleicht habe ich den Unteschied nie so recht verstanden.
Spätestens, wenn es um die Oper geht, seheich keinen Unterschied zum heutigen Musical. In Meyerbeers "der Prophet" kommt sogar ein Rollschuhtanz vor, der die Sönger so außer Atem brachte, dass sie kaum singen konnten.
Noch vor der Premiere gab es ein Cartoon in den Zeitungen, in dem einem ausgelaugtem Sänger auf Rollschuhen ein Handtuch gereicht wird mit der Bitte: "Ne transpirez pas, svp" (Lassen Sie nichts Durchsickern.)
Der König der Löwen in Hamburg würde vom Geist der Aufmachung her wunderbar dort hinein passen (wenn er sich an die damaligen Stilmittel halten würde( Kerkerszene, Wahnsinnsszene, Rettungsszene...5 Akte, Je nach Tradition gesungene Rezitative oder nicht, Themenauswahl).

Und sogar vor Meyerbeer, vor Erscheinen der großen (Volks)Oper, gab es mehr oder weniger zusammenhängende Musikvorführungen mit teils bunt zusammengewürfelten Stücken aus alten Singstücken/Hofopern/Volksliedern.

Über große Teile der U-Musik gibt es daher gute Quellen. Die private oder kleine Musik, die in Kneipen etc spielte die bleibt wesentlich unsichtbarer.


Zitat
Wenn das so ist, halte ich Deine Aussage für falsch. Denn die Assoziation "nur Märchen" im Bezug auf die Zauberflöte ist eine Zuschreibung....Die ursprüngliche Aussage ist nie und nimmer "nur Märchen".
Nur Märchen ist allerdings keine Aussage einer Oper oder eines Buches oder...

Das Märchen ist erster Linie eine Formvorgabe und selbst die erfüllt das Stück nicht hundertprozentig, da es kein so richtiges Gutes und Böses gibt.

Das geht aber an dem Punkt vorbei, den ich bei Dir herauslese:
Alte Geschichte mit einer beabsichtigten Wirkung benötigen Übersetzungsarbeit.
Einem Publikum, das nicht die netsprechende Bildung hat, die damals verwendeten Symbole zu verstehen kann dadurch geholfen werden, dass man an ihrer Stelle bekannte Symbole einsetzt.
An dieser Stelle hilft die drastische Inszenierung dem neuen Publikum, Zugang zu finden.

Der Weg passt schon, der Druck auf die Regisseure ihr skandalgeiles Publikum zu befriedigen sorgt in meinen Augen allerdings nicht dafür, dass die Idee zugänglicher wird.
Das Stück ist im Original ja nicht unzugänglich. Seine Geschichte funktioniert ja in der Regel und muss durch Musik und Inszenierung nur noch gestützt werden.
Der Regisseur hat jetzt das Problem, dass er sich selbst als RiesenEGO nur in einem der dienenden Bereiche austoben darf... naja, dürfte.

Das Bild, was mir vorschwebt ist hier nicht, die historisch korrekte Aufführung und auch kein "einzig richtiger Weg" (sondern nur ein BEdürfnis, so etwas noch mal sehen zu dürfen).
Es ist die Darbietung des Stückes für ein heutiges Publikum. Das alte Bühnenbild der Zauberflöte stand stellvertretend für eine direkte, bescheidenere Herangehensweise.
Ich möchte hier die Bescheidenheit sehen, die z.B. Ronja Räubertochter jedes Weihnachten wieder auf die Mattscheiben bringt, während das Hollywoodprinzesschen längst vergessen ist.
Wenn Elemente übersetzt werden müssen, damit sie verstanden werden können, dann ist dies sogar Pflicht für Regisseur. Zumindest sollte das Material hier zur Verfügung gestellt werden.
Die Strapse tragende Königin der Nacht, die in Gesten Tamilo eine ihrer drei Dienerinnen stundenweise verkaufen will passt vielleicht noch entfernt zur Rolle.
Die Zombieorgie samt Geburt eines Babieskelettes und wortwörtlichem Skullfuck sperrt sich mir irgendwie, wenn es um den fliegenden Holländer geht. Das war purer Effekt.
Gerade so ein Stefan Soltesz (Aalto Theater in Essen) geht mir damit dermaßen auf den Zeiger, aber er brauchthalt den Appluas älterer Frauen mit Stola, den man nur bekommt, wenn andere ältere Frauen mit weinrotem Jackett pikiert den Saal verlassen.
Dieses ganze Klassikgenre ist so ein inzestöser Haufen an musikalischer Stagnation und aufmerksamkeitsheischendem leeren nachgeklimper immer gleicher Töne.

Vielleicht wird es Zeit, dass neue Opern aus neuen Librettos geschrieben werden und dem Zwang unterliegen Geld einzuspielen.... verdammt, das sind Musicals und die meisten sind schlecht. Ich glaube das Problem liegt hier bei mir.



Zitat
Frag mich nicht mehr, wo und wann und wer, aber es gibt Inzenierungen von U-/Pop-Regisseuren. Ich kann mich erinnern, mal im Rolling Stone etwas über eine Ring-Inszenierung gelesen zu haben von irgendeinem ... keine Ahnung mehr, der Typ war jedenfalls kein "Klassiker".
Könnte erfrischend sein.
« Letzte Änderung: 10.02.2012 | 23:52 von DestruktiveKritik »

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Re: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?
« Antwort #11 am: 11.02.2012 | 00:09 »
Zuallererst hatte ich Mühe das Geschrieben für mich zu strukturieren.
sorry.

@Rollen von Kunst inder Gesellschaft/Trade-offs ihrer Förderung und Anwendung

Da steckt gar kein großer Widerspruch drin. ;D

Die Bottum-up Perspektive hatte ich jetzt gar nicht mehr im Blick...
Die Richtung, über die ich hierauf gestoßen wurde war ungefähr diese:

"Was ist schlimm daran, wenn eine Kultur in einer anderen aufgeht?"
Oder spezieller, wenn die Musik einer SUbkultur ihr entrissen wird und sie so ihre Identität teilweise verliert?

Hat die Gesellschaft einen Nutzen davon, oder ist der  Prozess rein destruktiv?

Zitat
Ich hoffe ich habe mit meiner eher praktischen Denkweise diese Diskussion ned entzaubert.Ich denke und lese weiter mit.  :)
;d

Zitat
Edith: Gibt es eine Gruppe ohne gemeinsames Merkmal? Nö...oder?
Genauso wenig, wie es einen perfekten Menschen geben kann, denn er scheitert am "unperfekt sein". Jedes Mitglied einer Gruppe ist schon durch seine Mitgliedschaft in der Gruppe ausgezeichnet, die er mit den anderen teilt.




[/quote]

Offline Bordfunker

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Re: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?
« Antwort #12 am: 11.02.2012 | 08:49 »
Ich würde gerne wissen, wie Deine Oper aussieht, werter Mensch hinter einer erfundenen Figur.   ;)  Wie sie aussähe, wenn Du sie machen dürftest und alles hättest, was benötigt würde. :)

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Re: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?
« Antwort #13 am: 11.02.2012 | 11:48 »
@Bordfunker
Sie wäre ein Flop.
;D

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@topic
Mich wundert es, dass die Plünderung von Subkulturen durch den Maistream einfach so abgenickt wird.

Wie Bordfunker oben schrieb, gibt es in Musik etc. Meinungsführer und Machtgefüge, hauptberufliche Trendsetter etc.
Diese erhöhen das Tempo, mit dem neue Ideen/Ausdrucksformen wahrgenommen und geschätzt werden.

Gefühlt würde ich sagen, dass sie mit einer Taschenlampe ständig neues in unmittelbarer Nähe anleuchten und alles nur dorthin sieht, das wieder abgedunkelte sofort wieder vergisst. Na, wer kennt noch Boyz2Men oder east17? :gasmaskerly:

Eine ruhigere Entwicklung, die etwas anarchischer, ungerichteter szenelokaler ist, würde mir besser gefallen.
Sie hötte auf der gleichen Menge an Menschen mehr Vielfalt und an den Berührungspunkten der Leute mehr Austausch.

Im Idealfall treiben sie eine riesige Langmasser auf brieter Front durchs Meer und nicht eine Reihe kleiner Ausläufer, die totgetrampelt werden und dann wieder verschwinden.

Phänomene wie Björk lassen mich hier allerdings immer mal wieder hoffen.
« Letzte Änderung: 11.02.2012 | 11:59 von DestruktiveKritik »

Offline Bordfunker

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Re: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?
« Antwort #14 am: 11.02.2012 | 13:07 »
@Bordfunker
Sie wäre ein Flop.

Phänomene wie Björk lassen mich hier allerdings immer mal wieder hoffen.
Ersteres gäbe es zu beweisen, aber ich denke auch, daß es ein Flop wäre. Was nicht heißt, daß ich Spass dran hätte da mitzubasteln. :)

beim zweiten stimme ich Dir einfach zu. Björk war und ist einfach toll http://www.youtube.com/watch?v=htobTBlCvUU

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Re: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?
« Antwort #15 am: 13.02.2012 | 10:21 »
@Serialisten und Schönberg.
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@Mainstream und Subkulturen bzw. U- und E-Musik:
Meine Aussage, dass U-Musik erst seit dem 19. Jahrhundert aufgezeichnet wurde, ist mehr oder weniger Quatsch. Denn eigentlich müsste es heißen, dass Volksmusik bis zu diesem Zeitpunkt (bis auf wenige Ausnahmen) nicht aufgezeichnet wurde. Und da kommen wir zu der Krux mit den Begriffen E und U. E-Musik ist ziemlich eindeutig diejenige Musik, die durch Notenaufzeichnungen seit dem 9. Jahrhundert bis weit ins späte 19. Jahrhundert überliefert ist, auch wenn sie zum größten Teil der Unterhaltung diente, wie Du ja richtig korrigierst. Und zwar vor allem deshalb, weil all diese Musik keine Volksmusik ist, sondern begleitet von musiktheoretischen Diskursen entstand. Im Prinzip eine Abfolge von sich ablösenden und dabei aber aufeinander aufbauenden musikpoetologischen Manifesten, mit denen sich Komponisten wie Rezipienten auseinandersetzten.

Die Rolle des musiktheoretischen Unter- oder Überbaus verblasst im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend und ist im zwanzigsten Jahrhundert kaum noch von Belang: Wie kühn die Harmonik, wie ausgewogen die Form, wie trickreich der Kontrapunkt ist, interessiert immer weniger, wichtiger wird zum Beispiel die Frage, ob man auf das Stück einen Walzer tanzen kann oder nicht. Es wird immer mehr Musik produziert für Anlässe und für "Ensembles", wo der Kunstdiskurs keine Rolle mehr spielt. Im Prinzip das, was davor die (vor allem mündlich tradierte) Volks- und Gebrauchsmusik war. Die beiden Bereiche berühren sich, verschwimmen. Irgendwann gibt es die Operette, den Ragtime.

Diese Entwicklung schreitet rasant voran, seit es Tonträger gibt. Und seither lässt sich nicht mehr eindeutig sagen, was U- und was E-Musik ist. Musik hat auch ihre Einmaligkeit verloren. Man muss nur noch auf Replay drücken. Außermusikalische Dinge, die schon immer eine Rolle spielten, werden immer wichtiger. Zum Punk gehört nicht nur die (musiktheoretische) Reduktion auf stupiden 3-Akkorde Rock'n'Roll, sondern auch die Attitüde, die Kleidung, der Club, die Szene.

Von daher ist die Situation in der Musikwelt des zwanzigsten Jahrhunderts bis heute so grundlegend anders, dass man sie mit den Entwicklungen der Zeit davor kaum vergleichen kann. Innerhalb der "reinen" E-Musik lässt sich eine "Ideengeschichte" anders, womöglich auch eindeutiger erfassen, als im diffusen Neben- und Ineinander von "EU". Darum lässt sich das Wechselspiel zwischen sogenannten Subkulturen und sogenanntem Mainstream nicht so recht auf Vivaldi und seine Zeit übertragen.

Kann es sein, dass es Dir auch weniger um die "reine" Musik geht, sondern vielmehr vor allem um die (kulturellen, politischen, gesellschaftlichen, "ethnischen") Ideen, die dahinterstehen? Und somit um ein kaum entwirrbares Beziehungsgeflecht unterschiedlichster Aspekte?

@Oper vs. Musical:
Rein formell sind die Unterschiede zwischen Oper (und hier vor allem Singspiel und Operette) und Musical freilich gar nicht immer so groß. Musikalisch sind Musicals im Vergleich aber eben zumeist abartig langweilig, was durch ein effekthascherisches Bühnenspektakel ausgeglichen wird.  ;D
Nee, im Ernst, ich kann mir das Zeug mit Ausnahme einiger der alten, klassischen Broadway-Musicals kaum längere Zeit anhören.

@Meyerbeer:
Die Oper kenn ich nicht. Aber in Frankreich war Ballett in der Oper Tradition. Ludwig XIV hat sich ja erfolgreich gegen die Einfuhr der italienischen Oper gewehrt (was politische Gründe hatte -- wobei es nicht so sehr um "nationalistische" Ablehnung alles Italienischen ging, sondern darum, dass er, um seinen Absolutismus auch musikalisch zu behaupten, eine eigene "Musik für den König" haben wollte). Da er selbst ein guter Tänzer war, lief es darauf hinaus, dass statt der Oper zunächst singspielartige Komödien mit Balletteinlagen am Hof gespielt wurden. Dass diese zur Unterhaltung des Hofs und zu dessen Einschwörung auf Ludwig als den Sonnenkönig dienten, ist schon mal ein wesentlicher Unterschied zum rein kommerziellen Musical. Wie auch in den anderen vom König geförderten Künsten ging es dabei natürlich nicht darum, den Geschnmack einer breiten Masse zu bedienen, sondern Musik zu machen, die genauso abgehoben vom Rest der Welt war wie die Hofgesellschaft.

Aus diesen Ballett-Komödien entstand dann unter Lully die französische (tragische) Oper. Auch hier fehlte der Tanz nicht. Das Ganze folgte allerdings nicht der Struktur einer Revue oder einer Nummernoper, sondern die Tänze waren in groß angelegte, musikalisch gekonnt aufeinander abgestimmte Szenen aus Rezitativen, kurzen Arien, Ensembles, Chören und Orchesterzwischenspielen eingebaut. Eines der berühmtesten Beispiele ist die "Schlummer-Szene" aus dem Atys (hier der Anfang). Für die Leute, die die Oper zu Gesicht bekamen, war das sicher auch eindrucksvoll und zweifellos war die damals in Frankreich herrschende Liebe für aufwendige Bühnenmaschinerien effekthascherisch. Aber dennoch liegt der Szene eine Musik zugrunde, die auf der Höhe des damaligen musiktheoretischen Diskurses war. Das zeigt sich auch daran, dass die Szene in ganz Europa bekannt und bewundert wurde, obwohl sie nur in Paris aufgeführt worden ist. Das bedeutet, dass das Teil auch ohne schwitzende Tänzer auf rein musikalischer Ebene (bei Lektüre der Noten) so viel Substanz hatte, dass sich Musikliebhaber und Komponisten dafür begeisterten. Unter anderem Bach, der sich zum Beispiel in der Arie "Sanfte soll mein Todesschlummer" ganz explizit darauf bezieht (und auch wusste, dass ein Teil seines Publikums diese Bezugnahme verstehen würde).

Insofern liegen die Dinge trotz Tanz und Schweiß in der Oper oft anders als im Musical. (Wobei ich nicht beurteilen kann, welchen musikgeschichtlichen Wert die von Dir genannte Meyerbeer-Oper und dort vor allem die Tanz-Szene hat. Mag sein, dass das dasselbe virtuose, aber weitgehend geistlose Dschingderassa ist, das in den großen Shows für Stimmung sorgt.)

Auch das ist wieder ein Punkt, wo m.E. deutlich wird, dass sich die Prozesse der Ideenverbreitung und -entwicklung in der Musik so grundlegend verändert haben, dass man die Epochen und "Genres" gesondert betrachten müsste. Mit heutigen Aneignungsverfahren wie zum Beispiel der Coverversion hat das ja nichts zu tun.

@Opern-Inszenierung:
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Re: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?
« Antwort #16 am: 13.02.2012 | 23:03 »
@Serialisten
Ich werfe die Neue Musik gerne in einen Topf. Vor Allem, da ich dort nicht sehr fit bin und zum Beispiel in der neuen Musik Italien, Deutschland etc eh nicht auseinanderhalten kann.
Ich hatte die 12Tonmusik jetzt mit den Serialisten zusammengewürfelt, wie den Boogie zum Blues.
Mea Culpa.
 ;)


@U und E-Musik

Ich empfinde es auch so, dass mich moderne Musicals musikalisch extrem anöden. Das beste, was man erwarten kann, ist ein Ohrwurm, aber die Platte wandert dann in den Schrank und kommt alle Jubeljahre mal wieder für einen Song in den Spieler, während Musik wie Gorod bei mir alle drei Monate in der Rotation ist.

Das Publikum ist ein anderes.



Das Problem bei der Unterteilung zwischen E- un U heutzutage sind die Musiker, die ihre U-Musik ernst nehmen. ;D

Du sprichst mit dem Gedanken, dass die Ernste Musik eben jene ist, die auf eine Theorie aufbaut und auf entsprechenden Hintergrund verweist, einen interessanten Aspekt an.
Für die Zeit vor 1800 passt das mMn auch sehr gut... wobei ich kaum U-Musik aus dieser Zeit kenne, von den ganz alten Volksweisen einmal abgesehen.
Ich vemute einmal, dass Lieder wie "Hoch auf dem gelbem Wagen" und andere Arbeitslieder sehr sehr alt sind.
Deren Zweck war ja ein ganz anderer. Die Frage und Antwortgesänge zwischen Männern und Frauen waren Lied, Spiel und Zeitvertreib, Flirt und vielleicht auch Koordination der Arbeit?

Der wichtige Punkt ist das Publikum (abhängig von der Situation z.B. unter der Dusche/Verdi et al. als Wendepunkt?).

Heute zählen andere Dinge an der Musik. Sie soll die Gefühle (positiv) beeinflussen, soll Bilder und Phantasien im Kopf entstehen lassen (in drei Minuten) und sie muss sehr schnell funktionieren (nach wenige Takten).
Da ist es wichtig, dass die Melodie greift und auf den Covern die Bands visuell ganz klare Botschaften senden. Verkaufen sie den Traum von Sex mit der Popgöttin oder ist der junge Kerl da zum anhimmeln da, sind es harte Kerle, die man seinem Wunsch nach Rebellion als Projektionsfläche anbieten kann, sind es Vorbilder oder spielen sie Clowns?

Die Musik zu den Figuren wird regelmäßig ausgetauscht, genau wie die Figuren. Viel wichtiger ist, dass die Musik neu ist, denn neue Musik, ist von sich aus gut... sie zu kennen und gut zu finden gibt Ansehen, vor Allem, wenn das Gefühl für das die Gruppe steht gerade in der Peergroup hoch im Kurs steht.
Pop wird wirklich antrainiert und zwar aus vielen verschiedenen Richtungen.

Zwischen den Popsongs wird in Sekunden entschieden und die Moguln buhlen um diesen Sekundenmarkt.

Worauf ich hinauswollte:
Wenn heute mit Musik Geld verdient werden will, dann verbietet es sich, die Musik sperrig zu machen.
Früher musste sie gefallen und reizen und am Ende soll es möglich sein, sich mit anderen Kennern über Details zu unterhalten, die man vielleicht doch übersehen hat. Man kann das nicht vergleichen.

Eine geniale Idee hat hier das Zeug, eine ganze Musikrichtung für zwei oder drei Saisonen zu schaffen, während sie zur Zeit von Bach für ein Stück gereicht hat und danach zum Repertoir gehörte.
Beispiel hierfür ist der Dubstep. Übergang von Melodie zur Klangfarbenmelodie und zurück... eine komplette Musikrichtung mit Zig verschiedenen Unterstilen...Wubwubbwubb.

Das heißt allerdings nicht, dass sich hier reflektierte Betrachtung der Theorie und die Komposition der Stücke spinnefeind sind.
Ich halte diesen Ohrwurm von Marit Larsen für extrem raffiniert durchgestaltet.

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Ein weiterer Hinweis darauf, dass Popgrößen sehr reflektiert mit ihrer Musik umgegangen sind und ist die Tatsache, dass es breiten Einfluss von E nach U gab und gibt.
Die Beatles liebten Stockhausen.
(Ich meine auch was in Bezug auf Grateful Dead und Stockhausen gelesen zu haben.)

Das macht es wieder so schwer E-Musik über Prädikate wie ernstgemeint, anspruchsvoll oder reflektierte Musik zu beschrieben.

Die Definition der klassischen Musik von Bernstein finde ich dort sehr lustig:
"Wenn ein Komponist ein Stück schreibt, das man allgemein als klassische Musik bezeichnet, schreibt er die genauen Noten nieder, die er haben will, und bestimmt die Instrumente oder Stimmen, die seine Noten spielen oder singen sollen - er legt sogar die genaue Anzahl der Instrumente und Stimmen fest.
Er schreibt auch so viele Anweisungen auf [...], damit er den Spielern oder Sängern so sorgfältig wie möglich mitteilt, wie schnell oder langsam, laut oder leise es sein muß [...]"
"Das heißt, dass die sogenannte klassische Musik nicht geändert werden kann, es sei denn durch die Persönlichkeit des Ausführenden. Diese Musik ist beständig, unabänderlich, exakt. Das ist ein gutes Wort: exakt. vielleicht sollten wir diese Art von Musik so nennen: exakte Musik."
(Quelle: L.Bernstein - Konzert für junge Leute, 4.Ausgabe, Kapitel "Was ist klassische Musik?)

Das bedeutet, dass man jedes Stück mittlerweile per Computer in Klassik umwandeln kann, denn dieser kann jede gespielte Note aufzeichnen, sodass man den Prozess der Musikentstehung hier umkehren kann...

Mittlerweile gehe ich davon aus, dass E-Musik Musik ist, die für eine bestimmte Art gehört zu werden gedacht ist.
Sie soll von einem Publikum gehört werden, für das U-Musik ein Schimpfwort ist und sie ist E-Musik, wenn dieses Publikum sie als E-Musik annimmt. :gasmaskerly:

Auch das Phänomen, das Jean Michel Jarre einfach mal zehn Jahre vor Phil Glass die gleichen Ideen hatte und diese auch noch schöner umgesetzt hat, bringt mich (selbstzufrieden und überlgen lächelnd) zum Schmunzeln.
Das eine ist U, das andere E.

Die Unterteilung zwischen U und E bringt einen mMn heute nicht mehr weiter.


@Musiktheoretische Neuerungen oder Kulturelle Trends und Mischformen?


Die bedeutenden neuen Musiken im 20 Jhd waren immer in kulturelle Entwicklungen eingebettet, mit ihnen verzahnt oder sonstwie mit einem Zweck versehen.
Hier nehme ich die Clubszenen eindeutig mit auf, da sie einen ziemlich abgeschlossenen eigenen Raum beschreibt und sich sogar relativ gut je nach Genre verorten lässt.
Auch hier ist die Musik zweckgerichtet.
Selbst wenn der Zweck wie beim Gabber recht einfach und klar formulier ist: zappeln und ausklinken.

Im Grunde ist das Arbeitsmusik.

Wie das "Hau-Ruck, Hau-Ruck" dabei hilft, die Kraft zu Koordinieren und einen gemeinsamen Rhythmus vorzugeben, also einen sehr engen anwendungsberiech hat, gibt einem diese Tanzmusik den Rhythmus zum Zappeln, die gängige Choreo gibt einem die Bewegungen und der Rest kann aus der Aufmerksamkeit verschwinden und irgendwann bleibt nur die Bewegung der Rhythmus in einem fort.

Die Gute-Laune-Musik, mit der man seine Stimmung aufhellen soll und das in drei Minuten und am besten während der Autofahrt oder neben der Arbeit, gibts auch noch...

Da verschwimmt Musiktheorie mit den Gesellschaftswissenschaften und zwar mMn zu recht, denn die Musik steht nicht mehr für sich alleine.
Selbst wenn es den Ursprung nicht mehr gibt, so klingt das Bild noch mit und Musiker, die dieses Bild nutzen möchten können es mit den entsprechenden Werkzeugen hervorrufen.
Wer punkig klingt, hat sofort das Klischee parat, mit dem er spielen kann.

Wer ein Grungestück covert kann dies als Miley Cyrus tun und macht ein Statement... Das Bild schwingt mit. Die Absicht ist klar: Hey, ich stehe als Privatperson in der Nähe dieser Musik!
Wenn jemand wie Peter Gabriel nun eine "Scratch my back" Reihe herausbringt, in der er mit anderen Künstlern Songs hin- und hercovert so ist dies eine Formvorgabe und der Titel gibt auch ganz klar eine Interpretationsvorgabe.


@Meyerbeer
Der war musikalisch schon auf der Höhe. Das Publikum hat das ja auch verlangt, aber der Konkurrenzdruck an der Pariser Oper war enorm. Der Bühnenzauber war da Pflicht und Meyerbeer musste sich auch immer wieder selbst übertreffen...



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Re: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?
« Antwort #17 am: 14.02.2012 | 09:04 »
Sehr schön. In vielen Punkten sprichst Du da Wichtiges an. Auch in der sogenannten Klassik wird ja inzwischen auch mehr nach den Bezügen zur Universalgeschichte, zu gesellschaftlichem, kulturellem und kunstgeschichtlichem Umfeld gefragt. Die sogenannte U-Musik des 20. Jahrhunderts kommt noch viel weniger ohne aus.

Ich bezweifle, dass Hoch auf dem gelben Wagen tatsächlich sooo alt ist. Es ist immerhin in astreinem Dur, einer Tonart also, die sich erst ab 1600 gegen die Kirchentonarten durchgesetzt hat. Überhaupt hat das Kunstlied (vor allem seit der Reformation ab ca. 1500) sehr stark auf das "Volkslied" abgestrahlt. Umgekehrt krallte man sich im selben Zeitraum häufig auch weltliche Lieder (inwieweit diese Volkslieder oder Kompositionen waren, lässt sich oft nicht sagen) und versah sie mit Choraltexten für den Gebrauch in der Kirche (weil's so schön ist, das Beispiel eines italienischen Lieds, das in Frankreich als Marienlied Erfolge feierte und auch im evangelischen Kirchengesangbuch gelandet ist: einmal in der Filmfassung und als Instrumentalvariation). Aber eine Geschichte der Volksmusik vor 1800 lässt sich meines Wissens trotzdem kaum schreiben.

Doch das sei dahingestellt, vollkommen einig bin ich mit Dir, dass man E und U heute eigentlich nicht mehr trennen kann. Was ich mit dem Lully-Beispiel zeigen wollte, ist eben gerade, welche Welten zwischen der damaligen Musikpraxis und der heutigen liegen. Das ist ungefähr so, als wolle man die grand tour mit dem Ballermanntourismus vergleichen. Obwohl Musik in früheren Zeiten genauso allgegenwärtig war wie heute, war das etwas vollkommen anderes. Schon allein, weil sie nicht reproduzierbar war. "Klassische" Musik war zudem unglaublich teuer und daher nur Privilegierten vorbehalten. Und auch nachdem um 1800 rum auch das Bürgertum immer mehr Zugang zu "klassischer" Musik bekam, haftete ihr diese Noblesse und der Luxus zunächst noch an. Um Wagner zu hören, musste man wirklich das Glück haben, in einer Stadt zu sein, in der gerade eine seiner Opern aufgeführt wurde, und man musste es sich leisten können. Sonst musste man sich mit dem Klavierauszug begnügen, wie das ja in Thomas Manns Tristan so schön beschrieben ist. Man musste sich auf alle Fälle damit beschäftigen und sich darum bemühen. Wohingegen man heute nur Kriegsfilme angucken muss und den Walkürenritt als (im besten Sinne) Popspektakel mitgeliefert bekommt. Dann kauft man sich eine Best-of, und gut ist. Ein Kennertum, ein sich Bemühen um die Sache ist nicht mehr notwendig -- deshalb vorhin auch mein Vergleich zum Tourismus: Es kann sich halt jeder leisten, deshalb wird zum Massenphänomen, was früher das Privileg weniger war.

Und vor diesem Hintergrund bekommt Musikgeschichte eben eine ganz andere Dynamik.

Und ich bin auch vollkommen bei Dir, wenn Du sagst, dass sogenannte U-Musik nicht weniger durchdacht und reflektiert ist. Der Unterschied ist denke ich vor allem der, dass sie oft mit einem weitgehend unreflektierten Publikum rechnet oder rechnen muss. Das hast Du ja auch schon dargestellt.

Was ich aus persönlicher Beobachtung noch anmerken würde: Als nicht zwingenden, sich mit aber aufdrängenden Unterschied zwischen U und E würde ich eventuell den Grad der Ausbildung nennen. Ich habe ja im Studium aus nächster Nähe gesehen, welche Jahrzehnte an täglichem, stundenlangen Üben vonnöten sind, um auch nur in einem B-Orchester eine Aushilfsstelle zu bekommen, und was Dirigenten und Komponisten an theoretischem und praktischem Wissen drauf haben müssen, das ist schon gigantisch. Einen Dirigierstudenten beim Partiturspiel (vom Blatt) zu erleben, ist wahrlich ehrfurchtgebietend. Und nein, ich glaube nicht, dass ein Paul McCartney zu so etwas in der Lage wäre, auch wenn er von manchen der Schubert des 20. Jahrhunderts genannt wird.

@Grateful Dead:
Die Faszination für Stockhausen schlägt sich meines Erachtens aber kaum in der Musik nieder. Es gibt ein Nebenprojekt mit Ned Lagin (Seastones), in dem sich diese Faszination am ehesten ausdrückt, aber wenn ich das richtig verstanden habe, folgt das eher experimentellen Klangkonstruktionen und keinem Reihenprinzip. Ich konnte damit nie was anfangen.

Was man allerdings natürlich nicht weiß -- und da sind wir bei dem Grundgedanken Deines Threads --, inwieweit die Beschäftigung mit unterschiedlichsten Musikstilen und -epochen schon aufgrund der dafür nötigen und daraus resultierenden geistigen Aufgeschlossenheit die Musik solcher Bands beeinflusst, auch wenn die tatsächlichen Kompositionsprinzipien gar nicht eigentlich fruchtbar werden.
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Re: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?
« Antwort #18 am: 14.02.2012 | 09:30 »
Die Musik von "Hoch auf den gelben Wagen" stammt übrigens von 1922.
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Re: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?
« Antwort #19 am: 14.02.2012 | 13:23 »
Die Musik von "Hoch auf den gelben Wagen" stammt übrigens von 1922.
Ha, wie geil. So kann man sich irren. ;)

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Re: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?
« Antwort #20 am: 14.02.2012 | 13:37 »
Btw ich habe das Gefühl dass die meisten deutschen Volklieder nicht älter als vielleicht 200 Jahre sind. :o
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Re: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?
« Antwort #21 am: 14.02.2012 | 13:47 »
Würde ich auch meinen. Mir wurde als Kind mal "Innsbruck, ich muss dich lassen" als Volkslied nahegebracht. Das ist aus dem 16. Jahrhundert, allerdings streng genommen ein Kunstlied von Heinrich Issac. Aber mir fiele auf die Schnelle sonst kein Volkslied ein, das ich vor 1750 ansiedeln würde. Die meisten würde ich im 19. und frühen 20. Jhd. verorten. Gesangsvereine, Männerchöre, deutsche Romantik, Silcher und der ganze Kram eben.
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Re: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?
« Antwort #22 am: 14.02.2012 | 14:33 »
Die Vogelhochzeit. Die scheint aus mindestens dem 15. Jahrhundert zu sein.
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Re: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?
« Antwort #23 am: 15.02.2012 | 08:07 »
Apropos Volkslied: Wenn ich es richtig gelesen habe, dann entstanden sehr viele Volkslieder im 19. und Anfang des 20. Jahrhundert, um damit dem deutschen Volk ein kulturstiftende Gemeinsamkeit zu geben. Die Schaffung eines Volksliedes sollte also nur in zweiter Linie zur Erbauung und Unterhaltung dienen. Sie wurde dann auch abgegrenzt vom "minderwertigen" Gassenhauer (wie z.B. Bolle reiste jüngst zu Pfingsten). Im Prinzip ist das Volksmusik damit doch eigentlich E-Musik.

Auf der anderen Seite sind z.B. Arangements der Commedian Harmonists ihnen extra auf den Leib geschreben, damit ihre Fertigekeiten im Gesang unterstrichen wurden. Im Prinzip wurde damit die Musiktheorie verwendet, um den Unterhaltungswert zu steigern. Wenn ich das also richtig sehe, verwischten da ja eigentlich schon die Unterschiede zwischen E-Musik und U-Musik. Oder sehe ich das grundlegend falsch?
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Re: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?
« Antwort #24 am: 19.02.2012 | 19:12 »
Ich bin in der letzten Woche bei der LEktüre der Zeitschrift GRoove und beim Seutschlandfunk auf ein paar nette Zitate gestoßen.

Die kommen, wenn ich etwas mehr Zeit habe,

@6

Die Barbershopmusik, bei der eine "fünfte" Stimme gehört wird, obwohl nur vier singen, dürfte ein weiteres Beispiel für verUte Theorie sein.