Autor Thema: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?  (Gelesen 3305 mal)

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Offline korknadel

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Re: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?
« Antwort #25 am: 20.02.2012 | 08:26 »
Apropos Volkslied: Wenn ich es richtig gelesen habe, dann entstanden sehr viele Volkslieder im 19. und Anfang des 20. Jahrhundert, um damit dem deutschen Volk ein kulturstiftende Gemeinsamkeit zu geben. Die Schaffung eines Volksliedes sollte also nur in zweiter Linie zur Erbauung und Unterhaltung dienen. Sie wurde dann auch abgegrenzt vom "minderwertigen" Gassenhauer (wie z.B. Bolle reiste jüngst zu Pfingsten). Im Prinzip ist das Volksmusik damit doch eigentlich E-Musik.

Das ist ein interessanter Gedanke. Im Prinzip handelt es sich da um "Gebrauchsmusik" (auf die habe ich mich in meinem letzten Post auch bezogen, Stichwort Gesangsverein, Silcher). Man tut sich dennoch schwer, sie der E-Musik zuzurechnen, weil sie halt so zweckgebunden ist. Im Prinzip könnte man das von der Kirchenmusik (und ich meine hier nicht den Kirchengemeindechoral) auch sagen, nur: Die Volkslieder waren dafür gedacht, vom Volk und nicht von Profis gesungen zu werden. Ihr Ort und Zweck war nicht in erster Linie der Konzertsaal. Entsprechend einfach, volkstümlich und auch nicht unbedingt auf der Höhe der Musikgeschichte (man vergleiche die Harmonik bei Silcher und Wagner oder Brahms  :D) waren die künstlich geschaffenen Volkslieder.

Aber so eindeutig lässt sich das natürlich dennoch nicht abgrenzen, denn einige zumächst einmal eindeutige Kunstlieder sind später ebenfalls zu Lagerfeuer-Schmonzetten geworden, wie zum Beispiel Am Brunnen vor dem Tore. Ursprünglich waren diese allerdings für den künstlerischen Vortrag gedacht.

Auf der anderen Seite sind z.B. Arangements der Commedian Harmonists ihnen extra auf den Leib geschreben, damit ihre Fertigekeiten im Gesang unterstrichen wurden. Im Prinzip wurde damit die Musiktheorie verwendet, um den Unterhaltungswert zu steigern. Wenn ich das also richtig sehe, verwischten da ja eigentlich schon die Unterschiede zwischen E-Musik und U-Musik. Oder sehe ich das grundlegend falsch?

Ich denke, es ist eben ein Unterschied, ob ich kompositorische Techniken verwende, um unterhaltsame, virtuose Effekte zu erzielen und in diesem Falle die Qualitäten der Comedian Harmonists zur Geltung zu bringen, oder ob ich kompositorische Techniken benutze, um mich kritisch und kreativ mit künstlerischen Diskursen auseinanderzusetzen und daran teilzunehmen. Oder anders gesagt: Musiktheorie kann ja auch noch mehr sein als Tonsatz und Instrumentenkunde. Die Legionen an Komponisten, die seit dem 19. Jahrhundert Märsche, Operetten, Lieder, Schlager, Revuen, Showtunes etc. geschrieben haben, hatten natürlich Ahnung von dem, was sie da taten. Und innerhalb ihrer jeweiligen Genres haben einige wenige unter ihnen ja durchaus auch wiederum künstlerisch Hochwertiges geleistet. Aber gerade in der Zeit ab Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt sich eine tatsächlich "ernste" Musik, das heißt die Werke vieler "klassischer" Komponisten kümmern sich weniger um den Unterhaltungswert, sondern wollen nichts anderes als Kunstwerke sein. Man denke nur an das völlig abartige und avantgardistische Konzept, das Wagner bei seinen Opern verfolgt (und dann Brahms, Bruckner, Mahler, Reger, Schönberg, Stravinsky, Bartok). Da will einer kein Publikum mehr unterhalten, sondern Kunst ausstellen. Bis einschließlich Wiener Klassik ging Unterhaltung und Kunst noch eher Hand in Hand, da es von vornherein eine Unterhaltung für gebildete, anspruchsvolle und sehr an Mode und Repräsentation interessierte Leute war. Die sozialen, gesellschaftlichen, politischen und nationalen Rahmenbedingungen hatten sich dann aber verändert. Jetzt war von einem inzwischen viel breiteren Publikum einerseits Kunst, andrerseits aber auch kunstvolle Unterhaltung gefragt. Und eine Unmenge an Gebrauchsmusik. Und natürlich greifen die verschiedenen Bereiche immer wieder ineinander ein und über. 

Aber wie gesagt: Nur weil ich weiß, wie eine enharmonische Verwechslung funktioniert und wie man einen Kontrapunkt setzt, heißt das noch nicht, dass ich E-Musik mache. Das ist im Grunde nur der handwerkliche Teil der Musiktheorie. Es kommt darauf an, was man damit macht und will.
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Re: Gibt es nützlichen Fortschritt in der Musik?
« Antwort #26 am: 26.02.2012 | 12:02 »
@Zitateaus  der Groove

"Dass four to the floor beats in Las Vegas so allgegenwärtig sind, demonstriert jedoch, dass Dancemusik zum Soundtrack für amtlichen Hedonismus geworden ist."

"Nach 30 Jahren rhytmischer Verfeinerung..:"

"SKrillex Amalgam aus populären Stilrichtungen und NIschenelementen resultiert in einer epischen Fusion aus Dubstep-Bass, Industrialdrums, wehmütigen Ttrancemelodien, Discostreichern und dem einen oder anderen Ambientintermezzo."

In der ganzen Zeitschrift wird hart gewertet und einiges Honoriert und anders verdammt.
So vergleichen sie an anderer Stelle ein Rockkonzert mit einem DJ-Gig und kommen zu dem Shcluss, dass eine Rockband anderthalb Stunden spielt und nach jedem LIed geklatscht wird, während ein DJ die Crowd vier Stunden lang zu kochen bringt (das Publikum durchwechselt und so auch für die Veranstalter positiv, vielmehr Getränke etc verkauft werden.).
Hierbei war "Energie" das Stichwort, "inspiriert und inspirierend Tanzen", "Tränen der Entzückung" etc.

Der Fokus liegt hier ganz klar auf dem LIve-Erlebnis.

Sehr interessant fand ich, dass die Musik eher vom Label abhängig ist und es einen extremen Labelkult gibt. Ein Mensch, der als DJ XY unter dem Label arbeitet macht als DJ XY unter einem anderen Label andere Musik und als DJ XYX Remixes für LadyGaga etc...
Hierbei wird Vielfältigkeit hochgepriesen. Gerade bei Skrillex überschlagen sie sich vor Begeisterung, wie dieser alle möglichen Einflüsse vermischt.

Dieser freie Umgang mit Stilelementen ist prinzipiell das, was ich im OP im HInterkopf hatte.

Hierzu:
Aus Deinem zweiten Post werde ich schon um einiges schlauer. Wobei Du da natürlich nichts anderes beschreibst als die Evolution von Kunst, wie sie schon immer vonstatten ging. Mir persönlich ist hier allerdings sehr wichtig, dass Evolution nicht im Sinne einer Entwicklung von primitiv zu Krone der Schöpfung zu verstehen ist, sondern quasi wertneutral einfach das Fortschreiten von Ideen und Formen und Ausdrucksmitteln bezeichnet. Beethoven ist nicht "besser" als Haydn, nur weil er die Wiener Klassik weiterentwickelt hat.
Ganz so wertfrei möchte ich das nicht sehen.
Fortschritt ist hier vielmehr das überwinden von Einschränkungen und Erklärungsmodellen. Das, was nach Adorno die Dekadenz auszeichnet, wie es im Jugendstil aufs positivste durchgeführt wurde.

Fortschritt ist hier die Befreiung von diktierten Grenzen hin zu einer freien Wahl der Mittel.

Skrillex, wie er in der Groove beschrieben wird stellt ein Musterbeispiel hiefür dar (unabhängig davon, ob mir die Mucke gefällt.)
Die Einschränkungen und Irrläufer gehören hier ebenso zum Fortschrittsgedanken, da sie erst die Grenzen setzen, ohne die es keinen Fortschritt geben könnte.

@E und U-Musik

Ich halte die Trennung weiterhin für unnütz.
Die Unterscheidung Musik nach ihrem Verwendungszweck zu benennen könnte zielführender sein, wenn das Ziel ist, etwas über Zusammenhänge festzustellen.

So löblich es ist, dass die Gema Musik außerhalb des Mainstreams fördern möchte und so höhere Verteilungssätze hierfür ausspricht, hilft dies nicht in der Diskussion um eine Klassifizierung der Musik.
Vor Allem, da die Grenzen im Nachhinein aufgeweicht werden können, wenn zum Beispiel Bach als Begleitung von Breakdancern (oder anders herum) nicht mehr als Musik "ernst" genommen wird oder wenn David Garret über "Nothing else matters" im provisiert.

Am ehesten könnte ich mich damit anfreunden, wenn man E-Musik als die Musik definiert, die ausreichend vielen Leuten wichtig ist, sich aber nicht selbst finanziert.
(Das ginge aber am Anspruchsdenken vorbei)


Alternativvorschlag:

Musik wird zu unterschiedlichen Anlässen gehört und diesen entsprechend ausgewählt.
Mit der Musikwahl wird bewusst ein Ziel verfolgt und man kann im nachhinein beurteilen, ob die Musik gepasst hat.

Sei es ein Kleidungsladen, der Techno spielt und den Erfolg in Euro misst oder ein DJ, der das Feedback auf Facebook bekommt, sei es Fahrstuhlmusik oder eine Hymne...

All diese verschiedenen Verwendungsarten stellen unterschiedliche Anforderungen an die Stücke, sodass man einzelnen Stücken durchaus EIgnung oder fehlende Eignung für diese Zwecke zusprechen kann.
Der Maßstab ist hier jeweils das Ohr der Massen in den entsprechenden Situationen.

Wenn man nun wirklich eine Wertung vornehmen möchte, dann sollte man dies in Verbindung mit dem Verwendungszweck tun.
So kann es hervorragende Verkaufsmusik geben, die allerdings sehr leicht herzustellen sein kann. Das heißt es kann "schlechte" Musik sein, die man ohne große Gedanken in kurzer Zeit zusammenwürfeln kann.
Sprechen wir nun von Musik, wie Obscura, dann ist hier hohes handwerkliches Geschick vonnöten sie zu spielen.
Die Konzerte unterscheiden sich in ihrer Art auch fundamental von denen der Band Machinehead. Letztere ähneln einem Schlachtfeld und die Band liefert den Soundtrack zu einem wildem, körperbetonten Reigen. Die Fans tragen selbst sehr viel zum Eindruck des Konzertes bei und die Party mit all ihren Ritualen bestimmt die Güte des Konzertes.
Auf Konzerten dieser "technischen" Bands steht alles stocksteif und nickt höchstens mit. Trotzdem schwärmt am Ende jeder der für sich dort stehenden von diesem Konzerterlebnis.
Hier stand einzig und allein das Gespielte im Vordergrund...das sieht man auch daran, dass die Masse vor dem Mischpult am dichtesten stand. (Für diesen Ort wurde die Anlage abgemischt.)

Ein Problem bei einer solchen Einteilung ist, dass man Vermutungen über die Motivation im Publikum anstellen muss...

Am meisten interessiert mich allerdings nicht, die einzelnen Arten Musik zu hören, sondern, wie leicht es ist, in eine der Szenen einzudringen. Wie schwer ist es, Zugang zur Kunstmusik zu finden?
Wie viele Ideen können gleichzeitig in der Populärmusik nebeneinander existieren und wieso nimmt man an, dass Menschen nur eine Art Musik mögen...

Fortschritt im oben genannten Sinne wäre hier die bewusste Entscheidung oder zumindest die Reflektion über die Musikwahl, die man für sich selbst trifft.
Das Wissen, warum einen diese und jene Musik anspricht und als Konsequenz nicht ein versteifen auf diese Musik, sondern eine Beschäftigung mit derselben.
Wenn sie diese musik mögen, weil...., dann mögen Sie ..:" statt "Wenn sie diese Musik mögen, dann mögen sie vielleicht auch..."
« Letzte Änderung: 26.02.2012 | 13:50 von DestruktiveKritik »