Ich oute mich also mal: Ich habe noch niemals Immersion im Rollenspiel erreicht!
Dabei habe ich es echt versucht, habe alle autoritären SLs ertragen, die man nur ertragen kann. Habe seitenlange Hintergrundgeschichten geschrieben. Habe mich so angezogen wie mein Charakter. Habe alles von Freeform bis zu klein-klein-detailliertem Spiel versucht. Habe den Laws'schen-Spielertypen-Test so oft wiederholt, bis bei meinem Ergebnis "100% Method Actor" stand. Nichts. Hat nicht funktioniert.
Es wäre auch schlimm, wenn man das machen müsste, um sowas wie Immersion zu empfinden O_o
Okay, spätestens jetzt habe ich wohl die Hälfte meiner Leser verloren. Naja, auch egal, denn das Zitat trifft für meine Versuche, die Immersion zu erreichen, auch zu. Denn eins habe ich vielleicht begriffen: Immersion ist unmöglich!
Zumindest beim Rollenspiel. Denn Pen&Paper-Rollenspiel als Medium kann das gar nicht. Zu viele störende Metafaktoren stürzen auf uns ein, um wirklich sagen zu können, wir erreichen eine Identifikation mit einem Charakter, die so stark ist, dass wir in die Spielwelt wirklich eintauchen. Zumindest mir gelingt das nicht, aber ich hatte bislang, auch bei echten beinharten Immersionisten nicht den Eindruck, dass es irgendwem gelingt.
Ich würde auch, wie anderer vor mir sagen: du gehst da zu absolut ran, argumentierst aus subjektiver Perspektive und leitest daraus objektive Fakten ab. Würd' ich nicht machen. Die graduellen Stufen und deswegen unterschiedlichen Erfahrungen mit dem Thema wurden ja bereits erwähnt, ich würde das auch so sehen und dann "kann" P&P sowas sehr wohl, solange "sowas" nicht meint, sich zu 100% mit dem Charakter zu identifizieren, was wirklich eher an einen pathologischen Realitätsverlust denken lässt, als an ein immersives Erlebnis, zumindest auf lange Sicht.
Beobachte ich mein Leseverhalten, wird das auch deutlich: Bücher schaffen es irgendwie auch nicht, mich so zu fesseln, dass ich mich in ihre fiktive Welt versetzt führe. Klar, natürlich sehe ich die sanften Ausläufer des Auenlandes oder die schroffen Wände der Mauer, wenn ich die entsprechenden Werke lese. Klar höre in Gedanken das Pochen des Tell-Tale-Heart unter den Bodendielen (obwohl die Erfahrung bei Geräuschen schon diffuser wird). Aber selbst bei Texten aus Sicht eines Ich-Erzählers gelingt mir kein vollkommenes Aufgehen in der Figur. Bei Leutnant Gustl, so gut die Erzählung auch ist... ich habe nie den Eindruck wirklich Gustl zu sein und aus seiner Perspektive mit der Welt zu interagieren.
Ich habe auch nie das Argument teilen können, dass der Ich-Erzähler eine stärkere Immersion zulässt. Zumindest bei mir war da immer die Distanz, das mir Jemand seine Geschichte berichtet, stärker noch, als bei auktorialen Erzählern. Das was du beschreibst, nie oder nur bei Filmen erreicht zu haben, erlebe ich allerdings durchaus häufiger beim Lesen. Und nur da. Das ist sicher von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Für mich ist es sogar sehr wichtig, möglichst wenige "Kanäle" (wie du es dem Rollenspiel anrechnest) zu haben, da der Großteil der wirklichen Immersion für mich allein in der Phantasie und im Empfinden stattfindet. Je mehr Reize von anderer Seite übernommen werden (wie beim Film auch Ton und Blickwinkel), desto schwieriger wird es für mich.
Gleiches gilt für Videospiele - viel zu viel vorgegeben, trotz des interaktiven Charakters. Und da würde ich mein Empfinden so beschreiben, wie du es dargestellt hast: "ich" werde zum x-ten Mal von Monster XY bei Dark Souls niedergemacht, "ich" schrecke bei Amnesia hoch. Dabei habe ich nicht das Gefühl die Figur zu sein, die ist vielmehr ein Vehikel - ein Avatar (was allerdings wieder an die filmtheoretische Defintion von Immersion kratzt, nur am Rande).
Beim Pen&Paper-RPG habe ich das auch noch nie geschafft: Wie auch, denn die Kanäle sind um ein vielfaches primitiver als im Computerspiel. Ich habe keine Bilder, keine Texte, nur einen unzuverlässigen Audiokanal. Wie soll das was werden mit der Immersion, mit dem Eintauchen in die Spielwelt? Also ich kriege das nicht gebacken. Mehr als ein buch-mässiges Pseudoeintauchen in diese virtuelle Realität schaffe ich nicht.
Da gerade das buch-mäßige Eintauchen bei mir alles andere als Pseudo ist und ich im Rollenspiel die Freiheit habe, die Immersion durch möglichst wenige Kanäle als die eigene Phantasie (und die gemeinsame Vorstellungsebenene der Gruppe) laufen zu lassen, fällt es mir da leichter. Es passiert nicht in jeder Runde gleich stark aber es geschieht. So wie es bei mir auf der Bühne geschieht. Wenn ich mich selbst vergesse, was meist tatsächlich nur für ein paar Augenblicke passiert, dann "tauche ich ein", dann ist das erlebte Immersion. Übrigens finde ich Meta-Elemente dabei nicht unbedingt störend, das Rollenspielerlebnis (wie auch das auf der Bühne) ist in der Hinsicht für mich ohnehin periodisch und in Etappen aufgeteilt, in denen man immer wieder aus dieser Immersion gelöst wird. Ob das nun durch eine "plötzliche" Gestaltungskompetenz oder einen Würfelwurf geschieht, spielt bei mir keine Rolle. Steiger' ich mich allerdings in die flammende Rede meines Anwaltscharakters rein, bis mir selbst der Kloß im Hals steckt und ich vergesse, am Tisch zu sitzen (oder auf der Bühne zu stehen) ist an eine Metaaktion nur schlecht zu denken. Wobei die "Kunst" darin liegt, möglichst schnell wieder reinzukommen. Das sind allerdings die Momente - und davon bin ich aufgrund meiner Berufswahl überzeugt - in denen der größtmögliche Erlebnisgewinn erzielt wird. Das merkt man auch auf der Bühne, welchen Einfluss das auf die Zuschauer hat.
Das Geile ist: am Tisch gibt es nur selten Zuschauer (eben nur bei Spotlighteinzelaktionen, die schonmal vorkommen, ich bin dann auch gerne Zuschauer und sitze mit offenem Mund und leuchtenden Augen vor einem Mitspieler, der gerade übelst abgeht) und die Immersion funktioniert, ähnlich wie mit Mitschauspielern auf der Bühne sogar gemeinsam.
Okay, eins kann ich von mir behaupten: Ich kenne meine Charaktere. Ich kann mich sogar mit ihnen identifizieren. Ich kenne ihre Träume, Ziele, Vorlieben, Abneigungen und weiß wie sie aussehen, handeln, denken. Aber das weiß ich auch von Leutnant Gustl. Der Unterschied mag sein, dass ich sie selbst so gestaltet habe: Ich habe sie als Autor mir so zurechtgelegt und improvisiere den Rest. Dazu greife ich auf Methoden aus dem Method Acting zurück und das heißt: Ich erschaffe fiktive Erinnerungen und frage mich, wo, wie und was der Charakter gerade durchmacht und wo, wie, wer und was er ist. Ich habe selbst auch schon Theater gespielt, wo ich das nicht so systematisch gemacht habe und trotzdem das Gefühl hatte, meine Figur zu kennen oder mich mit ihr zu identifizieren. Aber ich bin trotzdem nie an den Punkt gekommen, wo ich diese Figur war.
Die Erschaffung fiktiver Erinnerungen hat nicht viel mit Method Acting zu tun (deswegen lese ich den Begriff auch ungern beim Rollenspiel): das emotionale Gedächtnis, das angestrebt wird, ist schlichtweg auf ein möglichst automatisiertes Rollenverhalten getrimmt, das alleridngs
echte und
erlebte Emotionen nach Methode (!) abrufbar macht. Die Figur für längere Zeit zu "leben" und in allen Facetten erlebend zu studieren ist genau deswegen wichtiger Bestandteil der method.
Und so ist es auch beim Rollenspiel: Egal wie detailliert ich meinen Charakter ausarbeite oder kennenlerne oder wie sehr ich die Metafaktoren ausschalte: Am Ende spiele ich ihn doch und treffe permanent, tatsächlich ständig, Metaentscheidungen über ihn. Das tun Method Actors übrigens zumindest laut Wiki auch: Niemand wird die Figur, die er spielt oder lebt die Spielwelt. In der Tat haben Method Actors eine ständige Kontrolle über ihre Metafaktoren insofern sie sie aktiv nutzen, um ihre Figur besser darzustellen (eigene Erinnerungen oder Private Moments). Sie wissen, dass sie Schauspieler sind, blenden aber alles andere aus. Ist das vielleicht der Kasus Knackus? Ich weiß immer, dass ich nur spiele. Aber sind Metafaktoren dann überhaupt noch spürbar. So recht weiß ich es nicht. Vielleicht könnt ihr mir da helfen.
Das Problem ist, dass Method Acting in dem Kontext wirklich ein schwieriger Begriff ist. Mein Schauspiellehrer hat da mal eine recht griffige, wenn auch etwas "salope" Beschreibung benutzt: Method Actor sind tickende Emotionszeitbomben, Schnellschussanlagen, die auf ein Fingerschnippen den gewünschten, emotionalen Zustand erreichen - der wichtige Faktor ist die Zeit. Denn sie klatschen wie ein gespanntes Gummi wieder zurück. Das ist der Trick bei der Sache. "Echtes" Method Acting strebt also quasi eine extreme Immersion in einem punktierten, ebenso extrem erlebten Augenblick an, wie Nadelstiche. Das emotionale Gedächtnis muss dafür so geschult sein, dass sie ihre persönliche "Immersion", das aufgehen in und widergeben von echten Emotionen im Kontext der Figur völlig bewusst lenken können und sich trotzdem weit genug vergessen, um beim Zuschauer ein authentisches Gefühl der Rolle zu vermitteln. Beim Rollenspiel tut das meiner Erfahrung nach Niemand, dafür sind die Handlungen viel zu affektiert, wodurch aber vielleicht eine natürlichere Form dieses "Gefühls des Eintauchens" geschehen kann, weil sie instinktiv und intuitiv passiert und eben nicht "getriggert".
Dass sich der Method Actor zu jeder Zeit (außer in den "heißen phasen", man nennt das in der Strasberg-Schule auch "black hole moment", wo die abgerufene Emotion so dominant wird, dass sie alles andere auf- und absaugt) seiner Rolle und des Spielens darin bewusst ist, spielt dabei eine völlig andere Rolle. Der Spieler beim Rollenspiel ist sich dessen meist auch bewusst, das schließt meiner Erfahrung nach aber keinesfalls das immersive Erlebnis aus, es gestaltet dieses nur anders und macht es vielleicht unberechenbarer.
Für mich steht Folgendes fest: Ich erfahre über Metaspiel mehr über meinen Charakter, das Setting und die Welt, als ich es nur aus Sicht meines Charakters, literaturwissenschaftlich gesprochen aus der internen Fokalisierung (und damit der Ich-Perspektive) könnte. Durch Mitgestaltung der Spielweltfakten erreiche ich auch eine stärkere Angleichung der Spielwelt auf meine Bedürfnisse bezüglich der Fiktion und dadurch, durch Method-Acting-Übertragung auf die Figur, auch eine stärkere Identifikation mit dieser.
Man nennt die Identifikation mit der Figur in der Theaterwissenschaft auch "Träger von Immersion" (die auf der Bühne übrigens eine andere ist, als im Film. Die Aussage, der Film gestalte sie durch das Aufbrechen der räumlichen Ebenen ist auch seit Langem schon nicht mehr unumstritten), es ist quasi eine Leiter dahin. Die gesammelten Informationen, die emotionalen und gedanklichen Verknüpfungen, die du zum Charakter hast, ermöglichen die Erfahrung letztlich, sind aber nicht mit ihr gleichzusetzen. Das soll jetzt nicht klingen, als sei es immer eine "höhere Bewusstseinsebene" die über alle dem vielleicht sogar noch nur mit einem bestimmten Spielstil erreichbar ist. Identifikation mit der Figur und immersion in ihre Erlebniswelt bedingen sich aber in meinen Augen eher, als dass sie einander ausschließen. Und die Metaebenenen des Spiels behindern vielleicht das ein oder andere für einige Spieler, bedingen oder negieren aber weder in ihrer Absicht, oder ihrer Funktion meiner Meinung nach das wirklich Erlebnis.
just my 2 cents. Or 3.