Und jetzt geht's mir halt so, wenn ich Diskussionen über Realismus mitbekomme, dass ich denke "Ach herrje, glauben die den Blödsinn immer noch, davon bin ich ja vor zehn Jahren abgekommen". Ich betrachte mich also als spiel-evolutionär weiter fortgeschritten, weil ich diese Fehler schon durchlaufen und daraus gelernt habe. Ich würde mir also wünschen, dass andere aus meinen Fehlern lernen.
Was ja auch prinzipiell eine gute Sache ist, man sollte immer dazu lernen... In der Tat trifft diese Erkenntnis auf viele weniger erfahrene Rollenspieler zu, wobei es aber genau so auch hier einige AnfängerInnen gibt, denen Realismus egal ist und die z.B. einfach unrealistisches Hack&Slay wollen - und keiner wird wohl behaupten wollen, dass etwa Diablo-Style per se fortgeschrittenes Rollenspiel sei
IMHO ist es darum wichtig noch einen Schritt weiterzugehen und zu erkennen, dass Fortschritt nicht einfach linear verläuft!
Eulenspiegel hat das grad schön zum Ausdruck gebracht, dass er sich oft wieder nach realistischen Systemen sehnt, so geht das mir auch oft, manchmal möchte ich aber auch z.B. sehr gerne mal weitgehend regelfrei und dramaturgie-zentriert spielen...
Fortschritt ist für mich ein dialektischer Prozess, der quasi spiralförmig nach oben verläuft (vom Modell her etwa wie ein DNA-Strang), d.h. man wendet durchaus auch immer wieder mal die selben Ansätze an wie früher, aber auf höherem Level.
Die nächste Stufe des Fortschritts kann daher sehr gut sein, dass man sich vermehrt wieder dem Streben nach Realismus im Spiel zuwendet, wobei man aber bereits viel Reflektion über Möglichkeiten/Unmöglichkeiten, Spielansprüche, Spielerleben, Spielfluß, Wahrnehmung von Plausibilität etc. mitbringt. Wiederum die nächste Stufe könnte sein, sich von Konzepten wie realistisch oder cinematisch und crunchigen Regeln ganz zu entfernen und beispielsweise das schauspielerische Element in den Vordergrund zu stellen oder es könnte auch sein, dass man für sich den Fokus auf taktisches Erleben und militärische Simulation in den Vordergrund stellen möchte oder vielleicht die rein dramaturgische, übertriebene Darstellung der Gefühlswelten und Konflikte etc. etc.
Mein Punkt ist also, es gibt nicht
den einen Fortschritt auf der Skala, sondern es handelt sich immer um eine
individuelle Weiterentwicklung! Es lässt sich nicht sagen, dass Ansatz A immer besser ist als B.
Wenn jemand z.B. von Anfang an immer nur
das rein dramaturgische Charakterspiel ohne Anspruch auf Realitätsnähe als das einzig Wahre ansieht und alle anderen Ansätze geringschätzt, sehe ich darin keinen Fortschritt an Erfahrung. Unabhängig davon was man grad von dem jeweils gewählten Ansatz hält.
Es kommt für mich v.a. darauf an, dass man über die Zeit viele Perspektive eingenommen hat und aus diesen Erfahrungen dann seine eigenen Präferenzen bilden konnte und durch die reflektierte Spielweise jeweils sehr viel aus den aktuell gewählten Ansätzen herausholen kann.