Da müssen keine Aufweichungen der Regeln passieren, um das entsprechende Ergebnis zu erzielen. Man muss nur die vorhandenen Gesetzmäßigkeiten der Spielwelt konsequent umsetzen. Das widerum bedeutet natürlich, dass man aufmerksam liest und nicht die Hälfte ignoriert, weil man sie für unnötigen Fluff hält. Ich brauch keine Regelzeile, die mir sagt, dass der Vampir vereinsamt, wenn es ohnehin im Fließtext steht.
Fluff ist sicherlich wichtig und gehört zu einem Rollenspiel dazu, aber ich bevorzuge es, wenn der Fluff sich auch mit den Regeln verträgt. Und ich bin mir ziemlich sicher (lies: 99%), dass sich der oWoD-Fluff in vielen Bereichen
nicht mit den Regeln vertragen hat. Das ist aber ein anderes, eher generelles Problem, das die Bedeutung der Disziplinen nur am Rande berührt, nämlich insofern, dass im "Fließtext" eine Menge Aussagen über die Welt getroffen wurden, die z.T. widersprüchlich waren, z.T. bei konsequenter Regelauslegung einfach Mist waren. (Das prominenteste Beispiel: Die angeblich übermächtigen Vampire konnten ohne Probleme von einem Werwolf zerlegt werden.)
Entsprechend - und ich glaube, Du hast diese Argumentation auch schon in diesem Thread genutzt - wurde oft von oWoD-Spielern behauptet, der Fluff sei lediglich eine Option, aus der man sich für sein eigenes Spiel die besten Möglichkeiten als zutreffend
auswählen könne. Das ist ja nicht ganz falsch und hinsichtlich irgendwelcher Metaplots auch eine sympathische Deutung, wie man sie seit anno D&D praktiziert, aber es hat halt zur Folge, dass jeder Spielleiter/Erzähler (hoffentlich mit Gruppenkonsens oder wenigstens -kompromiss) den Fluff nach seinen Vorstellungen interpretiert ins Spielgeschehen einfließen lässt - und da kann eben herauskommen, dass sowas wie die soziale Vereinsamung unter den Tisch fällt.
...deine Runden größtenteils das Spiel falsch gespielt haben.
Oh komm, das kannst Du besser. Das ist doch gleiche, dämliche Argumantationsschiene, die man den Savages immer vorgeworfen hat. Kann man V:tM denn
falsch spielen? Ist das Regelwerk so eindeutig, dass jeder, der es gespielt hat, eine eindeutig richtige Spielweise nahegelegt bekommen hat? Haben es fast alle Gruppen gleich gespielt, außer eine Minderheit von Falschspielern?
Tendenziell ist das übrigens eine Position, die ich selbst noch vor 2 Jahren so vertreten hätte, allerdings mit der Annahme, dass jeder, der aus diesem Spiel mehr als ein paar vom Erzähler vorgeschriebene Vampirintrigengeschichten herausgeholt hat, das Spiel
falsch gespielt hat.
Tatsächlich scheint es mir mittlerweile so zu sein, dass oWoD und gerade V:tM eine
Projektionsfläche für viele sehr unterschiedliche Hoffnungen auf eine rollenspielerische Erneuerung war und Leute mit dem gleichen Spiel sowohl herrzerreißende Liebesgeschichten zwischen Unsterblichen i.S.v. Edward & Bella als auch Hard Boiled Urban Fantasy mit Schuss Drama i.S.v. Sonja Blue (was mir gelegen hätte) als auch actionarme Detektivabenteuer i.S.v. Victory Nelson & Henry Edward als auch besagte vampirpolitische Intrigenabenteuer und möglicherweise sogar persönliche Dramageschichten umzusetzen versuchten und die Regeln bzw. den Fluff nach dem eigenen Geschmack nutzten bzw. ignorierten.
Für mich und offensichtlich eine ganze Reihe anderer Leute war die Regelmechanik eigentlich immer recht klar. Andererseits fand ich Menschen, die für jeden Atemzug im Spiel eine Regel brauchen immer ein wenig befremdlich und im aktuellen Spiel auch leicht hilflos. Aber gut, ist wahrscheinlich Geschmackssache.
Die persönlichen Unterstellungen mal beiseite gelassen: Meiner Meinung nach - YMMV - sollte ein Spiel, das sich um die soziale Isolierung und den Verlust der menschlicher Bindungen dreht, genau diese
sowohl im Fluff
als auch in der Regelmechanik thematisieren. Aber V:tM
muss sich nicht darum drehen (das hätte nur ich mir gewünscht)!
Man braucht also nicht für jeden Atemzug eine Regel (das lehnen mWn selbst DSA4-Simuationisten ab), sondern für die Dinge, die man spielen will. Alle oWoD-Systeme haben z.B. weitaus mehr Kampfregeln, als ich (mit meinem Fokus) im oWoD-Spiel jemals gebraucht hätte (und ich bin weiß Gott kein Verächter von Kämpfen im RPG).
Ich habe bei Dir ein bisschen das Gefühl - kann mich natürlich täuschen - dass Du tendenziell vom "Regeln sind nicht so wichtig"-Standpunkt aus argumentierst. Ich argumentiere von dem anderen Standpunkt aus und schreibe deswegen, warum ich gerne die Disziplinen so ins
Regelwerk Abteilung
Regelmechanik eingebunden gesehen hätte, dass das Spiel auf den Fokus, den ich gerne gehabt hätte, zugespitzt wird. Dann hätte man es auch wirklich falsch spielen können, weil es eine eindeutige Zielsetzung hat!
Der Unterschied macht sich dann daran deutlich, dass der Einsatz der Disziplinen, gerade in sozialen Bereichen und für Wahrnehmungsfragen, eben dann in Gruppen eher selten war, in denen die Fluff-Beschreibung "Wer sich auf Disziplinen verlässt, vereinsamt und verkommt zur Bestie" prominent war, und die Disziplinen häufig genutzt wurden, wenn die Fluff-Beschreibung "Vampire sind badass Supernaturals und geheime Beherrscher der Welt" bevorzugt wurde. Beide Möglichkeiten waren im Fluff enthalten! Tatsächlich lohnte es sich sogar, seine Disziplinen zu steigern, um Humanity zu bewahren, weil jemand, der Dominate 3 beherrscht keine Beweise fälschen oder schlimmstenfalls Zeugen beseitigen muss usw. Je besser die Disziplinen, desto gewaltärmer (und damit in Sachen Humanity-Verlust risikoloser) konnte man seinen Vampir jagen/agieren lassen.
Wo ich Dir möglicherweise Recht gebe, dass ist, dass in Spielen mit starken Vampiren die menschliche Welt meiner Erfahrung nach noch unwichtiger wurde als die übernatürliche Welt, weil Menschen so unbedeutend waren. Warum soll ich mit jemandem reden, dessen Gedanken ich mit Auspex lesen kann, den ich mit Präsenz ohne Schwierigkeiten als Freund gewinne oder den ich mit Dominate dazu bewegen kann, fast alles für mich zu tun? Ab einer gewissen Stufe an Disziplinspunkten wurden Menschen ohne übernatürliche Kräfte oder wenigstens Unverwundbarkeiten (Neutrals) oft zur Lachnummer, die im vampirpolitischen Spiel bedeutungslos war.
Ich habe es oft genug erlebt, dass Spieler Auspex 2 angeworfen haben und NSCs, die nicht irgendwelche übernatürlichen Spuren in der Aura hatten, einfach nicht mehr ernst genommen/beachtet haben.* Wenn das Deine Vorstellung von Ausspielen der vampirischen Einsamkeit inmitten der Großstadt voller Menschen ist, dann kann ich bestätigen, denn das funktionierte mit V:tM: Das Setting wurde mehr und mehr zu einem Tummelplatz der Übernatürlichen, eine Tendenz, die (für mich: bedauerlicherweise) in vielen Urban Fantasy vorkommt.
*Natürlich kann man sie dafür "bestrafen", indem man einen Ahnen mit Obfuscate 6 und veränderter Aura auftreten lässt, oder den sterblichen NSCs irgendwelche Schlüsselrollen andichtet, die man künstlich gegen regelkonformen Disziplinseinsatz abschirmt, aber beim zweiten Mal wird das uninteressant und beim dritten Mal ein Schlag ins Gesicht des Spielers.